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Schmerzhafte Erfahrungen und Umdenken

von Klaus Mertes SJ

Konsequenzen aus dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche

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Sexueller Missbrauch, das heißt: Sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen, ist ein gesellschaftliches Phänomen. Es wird von diversen Mythen überlagert, die der Öffentlichkeit den Blick auf den spezifischen Charakter dieses Verbrechens verstellen. Insbesondere der Mythos vom „fremden Täter“, also von dem Vergewaltiger, der sich von außen kommend auf sein Opfer stürzt, führt in die Irre. Sexualisierter Missbrauch findet im Innenraum einer Vertrauensbeziehung statt. Es ist der Vater, die Mutter, der Vertrauenslehrer, der Seelsorger. Sie missbrauchen das geschenkte Vertrauen zum Zwecke der sexualisierten Machtausübung. Genau das macht es so schwierig und komplex, das Verbrechen als solches zu sehen und adäquat darauf zu reagieren.

Ich beginne mit den Abwehrreaktionen: Innerkirchlich verliefen sie zunächst nach den üblichen Schemata. Vor allem das falsche, das „sekundäre“ Opfergefühl in der Kirche: Kirche als Opfer der Aufklärung. Langsam setzte sich aber die Erkenntnis durch, dass es keine Aufklärung von Missbrauch in Institutionen ohne den Preis der Stigmatisierung der Institution gibt. Erst die Annahme dieses Preises ermöglicht langfristig die Überwindung der Stigmatisierung.

Diesen Preis haben auch viele Katholikinnen und Katholiken in den letzten Jahren bereitwillig gezahlt. Die übergroße Mehrheit der Katholiken bejaht die Prozesse der Aufarbeitung von Missbrauch in der katholischen Kirche und hofft, dass sie weiter vorangehen. Die Moraltheologie, die in den letzten zwanzig Jahren zum Thema Sexualmoral verstummt war, hat wieder zu sprechen begonnen. Der Versuchung zu aktiver Verleugnung widerstanden einige kirchlich Verantwortliche anfangs nicht – entweder weil sie nicht aus der Image-Perspektive herauskamen oder indem sie tatsächlich aktiv die Unwahrheit sagten. Das wiederum führte zu starken Einbrüchen von Vertrauen auch innerhalb der katholischen Kirche. In anderen Fällen fanden kirchliche Obere allerdings auch die Kraft, aus der Image-Perspektive und aus der Verleugnung auszusteigen, wiederum zum Preis von Konflikten.

Schlüsselproblem der Aufklärungsarbeit

Inzwischen liegen der Öffentlichkeit zahlreiche Aufklärungsberichte aus dem kirchlichen Bereich vor, die von unabhängigen Beauftragten erstellt wurden. Der Auswertungsbericht über die Hotline der katholischen Kirche eröffnet ebenfalls einen ersten tiefen Einblick in die Dimensionen des Missbrauchs, und ähnlich auch der Bericht, den die Münchner Diözese 2010 in Auftrag gab. Als ein Schlüsselproblem der Aufklärungsarbeit entpuppte sich die Frage nach der Veröffentlichung: Wer entscheidet über die Veröffentlichung? Wer trägt gegebenenfalls die Verantwortung für die Veröffentlichung? Dabei ging es in vielen Fällen nicht nur um den Schutz der Persönlichkeitsrechte von (mutmaßlichen) Tätern, sondern auch um die Persönlichkeitsrechte von Opfern, die trotz der Anonymisierung ihre Wiedererkennung in den Berichten fürchteten. Dass die von der Deutschen Bischofskonferenz geplante Pfeiffer-Studie scheiterte, lag – neben einigen Schwächen des Konzeptes – zu einem nicht geringen Maß daran, dass die Fragen der Aktenzugänglichkeit vorher nicht ausreichend geklärt waren. Trotz des Scheiterns wurde die wissenschaftliche Aufarbeitung von kirchlicher Seite her weiter vorangetrieben. Die Bemühungen mündeten in einem neuen Projekt im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz. Ein Bericht wird für den Herbst 2017 erwartet.

Der schwierigste Punkt der Aufklärung ist und bleibt der „systemische Aspekt“ des Missbrauchs – Missbrauchstat und Blindheit/Vertuschung durch die Verantwortlichen. Wenn die systemisch relevanten Aspekte, die den katholischen „Geschmack“ des Missbrauchs in seinen beiden Dimensionen ausmachen (Sakralisierung von Autorität, männerbündische Struktur des Klerus, informelle Machtstrukturen, Doppelmoral, übermäßiger Schulddruck in der kirchlichen Sexualmoral) zur Sprache kommen, rührt Aufklärung an das Selbstverständnis der Institution selbst.

Säulen der „Aufarbeitung“

Aufklärung, Genugtuung, Prävention sind die drei Säulen der „Aufarbeitung“. Schon die Aufklärung selbst ist ein Akt der Genugtuung für die Betroffenen. Für die kirchliche Aufklärungsarbeit war der Paradigmenwechsel von 2010 ausschlaggebend, den Geschichten von Opfern mit der Bereitschaft entgegenzutreten, ihnen zu glauben. Damit war und ist die Aufklärungsarbeit nicht mehr bloß an die Justiz delegiert, zumal die Verjährungsfrist häufig dazu führen würde, dass die Gerichte erst gar nicht anfangen, zu arbeiten. Es kommt hinzu, dass viele Übergriffigkeiten und Grenzverletzungen – isoliert und ohne Rücksicht auf die gravierenden biographischen Folgen gesehen – von den Gerichten nicht als Straftaten eingeschätzt würden, solange nicht Penetration und/oder Vergewaltigung vorliegt.

Die Frage nach der Genugtuung bringt das Verhältnis von Institution und Betroffenen auf die Tagesordnung. Es geht um Gerechtigkeit gegenüber den Opfern. Vor diesem Hintergrund bewegte sich die katholische Kirche auch bei den finanziellen Entschädigungsforderungen der Betroffenen. Der Jesuitenorden reagierte zunächst mit dem Angebot der pauschalen Anerkennungszahlungen in Höhe von 5.000 Euro. Die Deutsche Bischofskonferenz zog mit Anerkennungszahlungen „bis zu“ 5.000 Euro nach. Eine eigene Lösung fand das Kloster Ettal im Dialog mit „seinen“ Opfervertretern. Darüber hinaus leisteten und leisten die Diözesen und Orden Hilfszahlungen (zum Beispiel Erstattung der Therapiekosten) an Betroffene – freiwillig und „ohne Anerkennung einer Rechtspflicht“.

„Genugtuung“ ist allerdings nicht auf Geld zu reduzieren. Entscheidend ist insgesamt die Übernahme von Verantwortung mit den entsprechenden Konsequenzen, die von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein können, da Betroffene auch ganz unterschiedliche Erwartungen haben. Was die Öffentlichkeit betrifft: Zu den Erfahrungen, die mich in den letzten Jahren besonders nachdenklich gemacht haben, gehört die ständige Einladung an kirchlich Verantwortliche in den Medien, sich von der Institution zu distanzieren:

„Warum treten Sie nicht aus?“ Aber gerade das wäre die Flucht vor der Verantwortung. Die Übernahme von Verantwortung für die Institution gegenüber den Opfern setzt die Identifikation mit der Institution voraus.

Die Deutsche Bischofskonferenz hatte ihrerseits bereits 2002 nach vatikanischen Vorgaben unter dem Eindruck der Nachrichten aus den USA und Irland „Leitlinien“ für den Umgang mit sexuellem Missbrauch durch Kleriker und Ordensleute verabschiedet. 2010 und 2013 wurden die Leitlinien überarbeitet und aufgrund neuer Erkenntnisse präzisiert und ergänzt.

„Kultur des achtsamen Miteinanders“

Zugleich begannen die Arbeiten an einer „Rahmenordnung Prävention gegen sexualisierte Gewalt an Minderjährigen und erwachsenen Schutzbefohlenen im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“, die am 23. September 2010 von der Deutschen Bischofskonferenz verabschiedet und ebenfalls 2013 überarbeitet wurde. Verlangt wird darin, dass alle Träger ein institutionelles Schutzkonzept erarbeiten müssen und es in allen Diözesen Koordinationsstellen für die Präventionsarbeit geben soll. Das Vorgehen muss transparent und partizipativ erfolgen, eine „neue Kultur des achtsamen Miteinanders“ wird als Ziel gesetzt. Mittlerweile gibt es in allen Diözesen und in vielen Orden „Präventionsbeauftragte“. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den kirchlichen Schulen, Gemeinden und Verbänden haben sich für die Präventionsfragestellungen geöffnet; Opferschutzorganisationen berichten, dass sie etwa in kirchlichen Schulen offene Türen finden, wenn sie mit einem konkreten Kinderschutzanliegen anklopfen – was andernorts keineswegs selbstverständlich ist.

Im kirchlichen Bereich richtet sich der Blick neuerdings auch stärker auf den „geistlichen Missbrauch“. Die Aufdeckung von sexuellem Missbrauch 2010 ging einher mit der Enttarnung von geistlichem Missbrauch in kirchlichen Gruppen – der bekannteste Fall ist der Gründer der Legionäre Christi. Geistlicher Missbrauch liegt vor, wenn geistliche Autoritäten für sich im Namen der Kirche oder im Namen Gottes absolute Autorität beanspruchen, sich durch angepasstes Wohlverhalten nach oben in der Hierarchie absichern und ihre Macht nach unten hin missbrauchen, indem sie absolute Unterordnung verlangen und diese auch durchsetzen. Sexueller Missbrauch hat immer auch symptomatischen Charakter.

Zu Recht hat man von der „besonderen Fallhöhe“ des sexuellen Missbrauchs in der Kirche gesprochen. Das Thema fordert die Kirche in ihrem innersten Kern heraus. Das hat auch eine gute Seite. Denn es besteht deswegen auch Grund zur Hoffnung, dass die Aufklärung weitergeht, in die Länder und Kulturen hinein, in denen dieser Themenbereich noch vollkommen tabuisiert ist. Die katholische Kirche als Weltkirche könnte einen entscheidenden Beitrag zu einer kulturübergreifenden Humanisierung gegen sexualisierte Gewalt leisten – und dies nicht aus der Haltung der moralischen Besserwisserei heraus, sondern aufgrund eigener, schmerzhafter Erfahrungen, die ein Umdenken zwingend machten und machen.

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P. Klaus Mertes SJ, geboren 1954 in Bonn, von 2000 bis 2011 Rektor des Canisius-Kollegs Berlin, seit September 2011 Direktor des Jesuitengymnasiums Kolleg Sankt Blasien in Baden-Württemberg.

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