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von Dorothea Wendebourg

Juden und Judenfeindschaft im Christentum in neuerer Zeit

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Um 1500 gab es in vielen Ländern Europas keine Juden mehr. Hatten sie früher in allen Gegenden des alten Römischen Reiches gesiedelt, so wurden sie im späten Mittelalter nach und nach aus den meisten Ländern des Kontinents vertrieben: im 13. Jahrhundert aus England, im 14. aus Frankreich und aus der Schweiz, Ende des 15. aus Spanien und Portugal, im 16. aus Süditalien und Böhmen. Was das übrige Heilige Römische Reich Deutscher Nation betraf, so hatten viele seiner Territorien und die meisten Reichsstädte sich im späten Mittelalter der Juden entledigt, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts etwa 0,25 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachende jüdische Anteil (circa 40.000) lebte überwiegend zerstreut auf dem Land, hier und da in städtischen Judenvierteln. Die meisten Juden gab es in Ostmitteleuropa (Polen, Litauen, Galizien) sowie im Osmanischen Reich.

Die Vertreibungen spiegelten die prekäre Rechtslage. Grundsätzlich galt der beim Übergang des antiken Christentums zur Staatskirchlichkeit aufgestellte Grundsatz, dass im nun homogen christlich werdenden Reich die Juden, anders als sämtliche anderen nicht christlichen und häretischen Gruppen, siedeln dürften, weil sie mit ihrer Heiligen Schrift, dem Alten Testament, das auf Jesus Christus hinweise, dessen Zeugen seien; da sie aber, offensichtlich verstockt, diesem Christuszeugnis keinen Glauben schenkten, ja, Christus sogar getötet hätten, müssten sie mit rechtlichen Einschränkungen und finanziellen Belastungen leben, denen sie nur durch die Konversion zum Christentum entgehen könnten. Im späten Mittelalter hinzukommende Anklagen wie die des Ritualmordes, des Hostienfrevels und der Brunnenvergiftung, aber auch der Wuchereivorwurf, die zu Pogromen, Hinrichtungen und Vertreibungen führten, machten das Existenzrecht weitgehend obsolet. Gegen Geld gewährter Schutz durch den Kaiser war wenig wirkungsvoll. Doch im Laufe der Neuzeit von den Territorialherren des Reiches als willkommene Einnahmequelle übernommen und zu einem System abgestufter Privilegierungen ausgebaut, bot dieser „Judenschutz“ nun in aller Beschränkung auch den Rahmen zur Entfaltung jüdischen sozialen und religiösen Lebens.

Kontakte zwischen Christen und Juden waren um 1500 spärlich. Durch die Abwesenheit oder die geringe Zahl von Juden gab es in den meisten Gegenden West- und Mitteleuropas keine Gelegenheit dazu. Und die mit der Anklage der Verstockung und des Christusmordes sowie den genannten verschärften Vorwürfen begründete Judenfeindschaft der Christen schuf wenig Interesse an Begegnungen, ebenso wenig der vor allem mit der Trinitätslehre begründete jüdische Vorwurf, die Christen seien Götzendiener. Ein gewisser Austausch ergab sich allerdings durch die Hinwendung humanistischer Kreise zur hebräischen Sprache, die zu Gesprächen mit jüdischen Gelehrten, aber auch zur Lektüre jüdischer Schriften, insbesondere Bibelauslegungen, führte. So konnte es zu bibelexegetischen Anleihen durch christliche Ausleger kommen, die überlieferte christliche Interpretationen, insbesondere im Neuen Testament verwurzelte Deutungen alttestamentlicher Stellen auf Christus hin, infrage stellten. Darauf reagierend, stellte der prominenteste Humanist, Erasmus, der bedauerte, dass das Heilige Römische Reich seine Juden nicht wie Frankreich vertrieben hatte, die Forderung auf, dem Alten Testament in der christlichen Kirche weniger Bedeutung zuzumessen.

Die Reformation schien zunächst das Verhältnis von Christen und Juden grundlegend zu verbessern. 1523 veröffentlichte Martin Luther die Schrift Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei. Hier forderte er, die zeitgenössische Kirche scharf wegen der Unterdrückung der Juden kritisierend, die Möglichkeit ungehinderten Zusammenlebens von Juden und Christen und einen gerechten, freundlichen Umgang mit der Minderheit, erklärte Wucher der Juden als Folge ihnen auferlegter Berufsverbote und Vorwürfe wie die des Ritualmordes zu Lügenmärchen. Dabei wurde der religiöse Gegensatz nicht eingeebnet. Zwar hob Luther die ethnische Zugehörigkeit Jesu zu den Juden als ihren Ehrentitel hervor, wiederholte aber umso mehr die neutestamentliche Überzeugung, dass er der Erlöser auch der Juden sei und dass sie das bei unvoreingenommener Lektüre ihrer Heiligen Schrift erkennen könnten. Luther war der Meinung, ein freundlicher Umgang der Christen mit den Juden werde vielleicht einige Konversionen herbeiführen. Mit großen Zahlen rechnet er allerdings nicht, hielt vielmehr die dauerhafte Präsenz ihren eigenen Erlöser ablehnender Juden unter den Christen und die damit gegebene Durchbrechung der religiösen Homogenität der Gesellschaft nicht für ein schwerwiegendes Problem.

Luthers Schrift wurde von den Juden mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Hier und da registrierten sie ein verändertes Verhalten der Christen ihnen gegenüber. Doch das gesellschaftspolitische Potenzial von Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei kam nirgends zum Tragen, in keinem der evangelisch werdenden Gebiete verbesserte sich die rechtlich-politische Lage der Juden. Ja, Luther selbst revidierte sein Plädoyer von 1523 und forderte zwanzig Jahre später in der scharfen judenfeindlichen Schrift Von den Juden und ihren Lügen das Gegenteil: die umfassende Entrechtung und Verelendung der Juden, konkretisiert in mehreren destruktiven „Ratschlägen“, an der Spitze die Zerstörung der Synagogen oder die Vertreibung aus den evangelischen Gebieten nach dem Vorbild anderer europäischer Länder. Nachdem sich die Reformation in territorialstaatlichem Rahmen institutionalisiert hatte, erschien ihm das Zusammenleben mit einer Gruppe, die Christus ablehnte, nun unerträglich; in Fortsetzung alter Muster setzte er jetzt auf eine homogen christlich-evangelische Gesellschaft, die von der Obrigkeit, notfalls mit Gewalt, zu gewährleisten war. Und er fürchtete, die nicht auf Christus ausgerichtete jüdische Interpretation des Alten Testaments könne christliche Leser auf eine falsche Fährte locken; die Lösung des Erasmus, das Gewicht des Alten Testaments herabzusetzen, kam für ihn nicht infrage. Politische Umsetzung durch evangelische Landesherren erfuhren indessen auch die „Ratschläge“ aus Von den Juden und ihren Lügen nicht.

Das Nebeneinander zweier entgegengesetzter Plädoyers Luthers zum Umgang mit Juden führte dazu, dass sich in späteren Zeiten judenfreundliche wie judenfeindliche Stimmen auf ihn beriefen. Was die evangelische Kirche betrifft, so orientierte man sich vom Pietismus im späten 17. bis ins 19. Jahrhundert ganz überwiegend an der judenfreundlichen Schrift von 1523, ja, die judenfeindliche spätere war weiten Kreisen gar nicht bekannt, wurde nach dem frühen 17. für über drei Jahrhunderte auch gar nicht mehr in Einzelausgaben gedruckt. Auch die im 19. Jahrhundert Martin Luther gegenüber überwiegend positiv eingestellten deutschen Juden kannten die Schrift Von den Juden und ihren Lügen nicht oder hielten sie für irrelevant.

In den Aufschwung der Judenfeindschaft, der in Deutschland wie in anderen Ländern Europas nach einer – freilich immer auch von einer antijüdischen Gegenbewegung begleiteten – Phase jüdischer Emanzipation seit dem großen Börsenkrach von 1873 zu verzeichnen war, stimmten auch evangelische (Adolf Stoecker) wie römisch-katholische (August Rohling) Theologen ein. Wohl war die nun lautstark werdende antijüdische Stimmung im Kern säkular, gegen die moderne Kultur und Wirtschaft gerichtet, und sie erlangte mit der Wandlung zum rassistischen Antisemitismus eine neue, früher nicht gekannte Dimension. Doch die Unterfütterung mit älteren Motiven religiöser Judenfeindschaft verlieh ihr einen weiteren Resonanzboden. Als theologische Berufungsinstanz, wenn man eine solche anführte, diente vor allem die antijüdische Schrift Entdecktes Judenthum des Heidelberger Hebraisten Andreas Eisenmenger (1654 bis 1704) mit ihrer Wiederholung der alten Ritualmordvorwürfe und der Behauptung jüdischer Weltmachtpläne. Völkisch-antisemitische Zirkel, die dann nach dem Ersten Weltkrieg zu einer großen Bewegung anschwollen, darunter auch Christen und Theologen, zogen aber zunehmend auch Luthers Von den Juden und ihren Lügen heran; sie sorgten erstmals wieder für Nachdrucke, sei es von Auszügen, sei es der ganzen Schrift, oft mit dem Vorwurf verbunden, die evangelische Kirche habe dieses Erbe des Reformators jahrhundertelang unterdrückt. Luthers religiös begründeten judenfeindlichen Ausführungen wurden in ein rassistisches Muster eingezeichnet. Im Dritten Reich dienten sie zur Rechtfertigung antijüdischer Untaten. Seine judenfreundlichen Aussagen wurden nur noch selten ins Feld geführt.

Auf römisch-katholischer Seite blieb es über die Reformationszeit hinweg bei den aus Antike und Spätmittelalter ererbten Argumenten. Neben den Vorwürfen der Verstockung und der Kreuzigung Jesu, die die eingeschränkten Rechte der Juden begründeten, stand weiterhin, hier und da bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein, der Vorwurf des Ritualmordes. Widerstand gegen die Diffamierung, Entrechtung und Vernichtung der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus war in der einen wie der anderen Konfession jedenfalls in Deutschland und dem ihm angeschlossenen Österreich gering, in einigen anderen Ländern, etwa in der lutherischen Kirche Norwegens, sah es anders aus. Angesichts dieses Versagens ist es im Protestantismus wie im Katholizismus in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zu tiefgehendem Umdenken gekommen, das der jahrhundertealten Feindschaft den Boden entziehen soll. Die theologischen Wege, die dabei begangen werden, sind unterschiedlicher Art. Das Ziel eines achtungsvollen, gleichberechtigen und freundschaftlichen Zusammenlebens aber steht außer Frage und ist vielerorts auch erreicht.

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Dorothea Wendebourg, Lehrstuhl für Kirchengeschichte mit Schwerpunkt Mittlere und Neuere Kirchengeschichte / Reformationsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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