Asset-Herausgeber

von Roderich Kiesewetter

Die Rolle Deutschlands und Europas

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Stabilität im Nahen Osten ist von strategischer Bedeutung für unsere innere und äußere Sicherheit. Der Nährboden für Terror muss dieser Region entzogen und massenhafte Flucht sowie Vertreibung müssen eingedämmt werden. Es gilt, Rückkehrmöglichkeiten für Flüchtlinge zu schaffen. Maßgebliche Treiber für diese Flucht sind der Zerfall multi­ethnischer und ­religiöser Staaten sowie Partikularinteressen verfolgende regionale wie externe Akteure, die das internationale Recht aushöhlen. Dies ist seit vielen Jahren besonders in Syrien zu verzeichnen. Deshalb stellen sich drei Fragen, die in diesem Artikel behandelt werden sollen. Erstens: Was ist der deutsche Beitrag, um die Region um Syrien zu stabilisieren? Zweitens: Welche humanitäre und entwicklungspolitische Leistung schultert Deutschland in Syrien? Drittens: Welche Rolle können Deutschland und seine europäischen Partner beim Wiederaufbau in Syrien einnehmen, der erst die Basis für eine Rückkehr der Flüchtlinge darstellt?

In Syrien waren und sind die Eingriffsmöglichkeiten für Deutschland und seine europäischen Partner seit der hingenommenen Einmischung Russlands sehr beschränkt und konzentrieren sich neben diplomatischen vor allem auf humanitäre Möglichkeiten. Die verschiedenen, sich überlappenden Konflikte sind in weiten Teilen entschieden, und aus ihnen geht der syrische Diktator Baschar al-Assad mit russischer und iranischer Hilfe als Gewinner hervor. Gleichzeitig ist im Land eine kontrollierte Eskalation zwischen Israel und dem Iran zu verzeichnen, die ein erhöhtes Spannungspotenzial besitzt. Dennoch können sowohl die Türkei an ihren Einflusszonen als auch die USA an der ihrigen östlich des Euphrats festhalten.

Deutschland versucht, in der Region um Syrien einen umfassenden Beitrag zur Krisenbeilegung, Stabilisierung und Konfliktprävention zu leisten, um in dieser komplexen Gemengelage zumindest die politische und humanitäre Situation zu verbessern. In den Anrainerstaaten Syriens ist Deutschland durch die „Operation Counter Daesh“ (Unterstützung der internationalen Allianz zur Bekämpfung der Terrororganisation Islamischer Staat – IS – und zur Unterstützung Frankreichs durch die Bereitstellung von Luftbetankung und Aufklärung), des Weiteren in der Ausbildungsunterstützung im Irak und zuletzt durch den Beitrag zu UNIFIL (United Nations Interim Force in Lebanon) vor der libanesischen Küste eingebunden, um die Bildung eines erweiterten Krisenbogens um Syrien zu verhindern. Eine Vielzahl an zwischen den zuständigen Ressorts abgestimmten Projekten der Ertüchtigungsinitiative der Bundesregierung ergänzt die Einsätze im Irak und in Jordanien.

Bislang ist die Europäische Union (EU) – und damit auch Deutschland – mit dem Ziel einer politischen Lösung des Syrienkonflikts gescheitert. Alle europäischen Staaten müssen künftig nicht nur sicherheitspolitisch an einem Strang ziehen, sondern auch auf nationalstaatlicher und europäischer Ebene auf die Herausbildung derjenigen – auch militärischen – Fähigkeiten pochen, die sie für die Umsetzung einer gemeinsamen Strategie benötigen. Andernfalls bleibt der EU zur Begrenzung von Konflikten in ihrer Nachbarschaft lediglich die „Macht der warmen Worte“ beziehungsweise die missliche Rolle eines „Zaungastes“.

Diesen Spiegel muss sich auch Deutschland vorhalten: Um frühzeitig einer Eskalation des Konflikts vorzubeugen, dessen Folge der Flüchtlingsstrom war, sowie einem militärischen Einstieg Russlands zuvorzukommen und die politische Agenda mitbestimmen zu können, wären der politische Wille und Fähigkeiten zur raschen Herstellung von Schutzzonen notwendig gewesen. Der EU haben nicht nur dieser politische Wille und die dafür notwendigen Abstimmungsprozesse gefehlt, sondern Deutschland wäre auch nicht in der Lage gewesen, rasch zur Grenzsicherung und zu einer möglichen Flugverbotszone beizutragen. Was aber sollte nun getan werden? Im europäischen Verbund müsste vor allem die Ad-hoc-Koalition im Rahmen des Anti-IS-Mandats durch einen schrittweisen Ausbau integrierter EU-Planungs- und ­Führungsstrukturen ergänzt werden, die gemeinsame Fähigkeiten zur Friedenssicherung einsetzen – mit spezifischen Beiträgen wie zur Kampfmittelräumung und Grenzsicherung.

Deutschland unter den größten Geldgebern

In Syrien herrscht die größte humanitäre Krise weltweit seit dem Zweiten Weltkrieg. Über dreizehn Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die immensen humanitären Hilfsmaßnahmen der EU und insbesondere Deutschlands richten sich neben Maßnahmen innerhalb Syriens an Flüchtlinge und Aufnahmestaaten in der Region, schwerpunktmäßig im Libanon und im Irak, in der Türkei und in Jordanien. Sie erfolgen vor allem über die Mittelausstattung von Organisationen der Vereinten Nationen (UN), wie dem Welternährungsprogramm (WFP, World Food Programme), dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR, United Nations High Commissioner for Refugees) und dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA, United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East), aber auch über das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), das Deutsche Rote Kreuz (DRK) und humanitäre Nichtregierungsorganisationen (NROs).

Mit 5,4 Milliarden Euro an Hilfsgeldern, inklusive des Engagements in der Entwicklungszusammenarbeit, ist Deutschland unter den größten Gebern weltweit. Die entwicklungspolitischen Vorhaben werden von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), NROs und UN-Organisationen umgesetzt und hauptsächlich über syrische NROs implementiert. Es werden alle verfügbaren Zugangsmöglichkeiten genutzt (Whole-of-Syria-Ansatz), das heißt, die Implementierung findet grenzüberschreitend (cross-border), beispielsweise von Gaziantep, Beirut und Amman, oder kampflinienüberschreitend (cross-line) über Konfliktlinien hinweg statt. Außerdem ist die Unterstützung multi­ethnisch und multi-konfessionell ausgerichtet und folgt dem „Do-no-harm-Ansatz“, das heißt einem Konzept für die konfliktsensible Planung und Durchführung von Hilfsmaßnahmen.

Zusammengefasst fußt das deutsche Engagement dabei auf zwei Grundlagen: Erstens werden stabilisierende Vorhaben in den syrischen Oppositionsgebieten zur Stärkung der lokalen Verwaltungsstrukturen und zur Versorgung der Menschen finanziert. Hier ist eine verstärkte EU-Abstimmung äußerst wichtig, denn eines unserer Ziele liegt in der Rückkehr von geflohenen Syrern. Bisher fehlende russische und iranische Sicherheitsgarantien und das syrische Enteignungsgesetz für im Ausland befindliche Syrer sprechen allerdings gegen eine baldige Rückkehr. Zweitens werden mit Fokussierung auf die im UN-Hilfsaufruf für Syrien benannten Bedarfe Vorhaben verschiedener UN-Organisationen im ganzen Land unterstützt, darunter UNDP (United Nations Development Programme), UNICEF (ursprünglich: United Nations International Children’s Emergency Fund, seit 1953 United Nations Children’s Fund) und UN­HABITAT (United Nations Human Settlements Programme).

Die Hilfsmaßnahmen bergen natürlich einen Zielkonflikt zwischen einer krisenpräventiven Entwicklung einerseits und einer kurz- und mittelfristigen Stabilisierung andererseits. Die Höhe des Aufwands für die Entwicklungszusammenarbeit zeigt die durch die Flüchtlingsströme verursachte Prominenz des Themas in den Geberstaaten und spricht weniger für die Existenz einer kohärenten Regionalstrategie. Eine nachhaltige Regionalstrategie darf nicht nur Ziele definieren, sondern muss auch ihre vorhandenen Instrumente systematisch nutzen. Zumindest auf EU-Ebene existiert für den Fall einer politischen Lösung des Konflikts mit ihrer Syrienstrategie aus dem Jahr 2017 ein ausdifferenzierter Plan für die unterschiedlichen Wiederaufbauleistungen. Allerdings gehört zu einer europäischen Gesamtstrategie auch eine Übereinkunft darüber, wie – in einer Zeit, in der der Konflikt grundsätzlich entschieden, der Frieden aber alles andere als gewonnen ist – wirksamer politischer Druck ausgeübt werden kann.

Sicherheitsgarantien für Rückkehrer

Am Ende des Konflikts stellt sich die Frage nach dem Wiederaufbau und der Rolle der EU und Deutschlands in diesem Prozess. Denn der Wiederaufbau Syriens kann nur mit europäischen finanziellen Mitteln und Geldern vom Golf ermöglicht werden. Das syrische Regime ist mit russischer und iranischer Hilfe nicht zum Wiederaufbau Syriens in der Lage. Eng damit verknüpft ist die Frage der Rückkehrmöglichkeiten für die ins Ausland geflohenen Syrer. Diese Rückkehrmöglichkeiten liegen gerade auch im deutschen Interesse. Die Finanzierung des Wiederaufbaus ist vermischt mit der Frage der bisherigen humanitären und entwicklungspolitischen Leistungen, da ein großer Anteil der bisherigen Gelder, beispielsweise zur Stärkung lokaler Verwaltungsstrukturen, Wiederaufbaugelder sind. Damit Deutschland und seine europäischen Partner den Wiederaufbau nachhaltig und in ganz Syrien finanziell mitschultern, bedarf es klar zu benennender Vorbedingungen. Für die Europäer muss entscheidend sein, dass der vollständige humanitäre Zugang gegeben ist und sämtliche NROs und staatliche Entwicklungsorganisationen ungehindert und im Rahmen ihrer Expertisen vollständig tätig werden können. Ferner ist die ungehinderte und sichere Rückkehr sowohl von ins Ausland geflohenen als auch von binnenvertriebenen Syrern in unserem primären Interesse. Langfristig benötigen wir freie, gleiche, allgemeine und geheime Wahlen unter UN-Aufsicht und einen Aussöhnungsprozess.

Hier bedarf es weiterer diplomatischer Schritte zwischen den beteiligten Hauptakteuren Assad, Russland, Iran und der Türkei zur Konfliktbewältigung. Beispielsweise könnte die russische Militärpolizei eine entscheidende Rolle bei der Sicherung der Rückkehr spielen; allerdings müsste auch die iranische Zustimmung eingeholt werden. Damit die Rückkehrer auch in Sicherheit leben können, bedarf es langfristiger Sicherheitsgarantien, zu denen die externen Akteure Assad zwingen müssen, sofern er am Ende eines politischen Prozesses immer noch im Amt sein sollte. Zudem sollte der gesamte politische Prozess durch eine UN-Aufsicht begleitet werden.

Entscheidend ist, dass sich Deutschland und Europa die einzelnen Stufen des Wiederaufbauprozesses und die zu schaffenden Voraussetzungen nicht diktieren lassen und die Vorbedingungen erfüllt sind: In einem kürzlich erfolgten Austausch mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow hat dieser mich wissen lassen, es ginge zuvörderst um die Menschen und danach um den politischen Prozess, weshalb der schnelle Wiederaufbau forciert werden solle. Mit dem dafür notwendigen Einsatz europäischer Gelder allerdings ließen sich die unbedingt zu vereinbarenden, hier genannten Bedingungen leicht aushebeln, weshalb vor allem Deutschland als erster Ansprechpartner in der EU diplomatisch standhaft bleiben muss.

Ohne Friedensprozess keine Stabilisierung

Dies ist durchaus möglich. Denn neben den ökonomischen und entwicklungspolitischen Kapazitäten der EU ist die Möglichkeit der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen der EU-Staaten zu Syrien (und damit die Anerkennung einer legitimen syrischen Regierung) das der EU zur Verfügung stehende Mittel, um einen inklusiven Friedens- und Aussöhnungsprozess einzufordern. Diese beiden Instrumente dürfen wir daher nicht vorschnell aus der Hand geben und uns nicht von den militärischen Fakten in Syrien erpressen lassen. Vielmehr sollten wir nicht unterschätzen, dass auch Russland ein langfristiges Interesse an der Stabilisierung und Reduzierung seines Engagements in Syrien hat, wobei es die beiden Militärbasen in Tartus und Latakia behalten will. Der Erhalt und auch die Sicherheit der Basen gelingen allerdings nur dann, wenn kein Guerillakrieg marginalisierter Gruppen die Kosten des russischen Engagements in die Höhe treibt, wie es ständige Drohnenangriffe auf die Basis in Latakia aus der Region Idlib aktuell verdeutlichen. Es geht also vor allem darum, Russland davon zu überzeugen, dass Stabilität nur mit einem inklusiven Friedensund Aussöhnungsprozess möglich sein wird.

Festzuhalten ist, dass unser deutscher Beitrag zur Krisenbeilegung, Stabilisierung und Konfliktprävention in der Region um Syrien auf europäischer Ebene konsequenter zusammengeführt und auch mit den entsprechenden Mitteln unterfüttert werden muss. Das deutsche Engagement für eine nachhaltige Verbesserung der humanitären Situation in Syrien ist dabei nicht zu unterschätzen.

Beim Wiederaufbau sollte sich Deutschland sowohl seiner internationalen Verantwortung als auch seiner Interessen im Hinblick auf die Flüchtlingsrückkehr nach Syrien bewusst werden, ohne blauäugig eine russisch-syrische Nachkriegsordnung zu finanzieren. Dies bedarf klarer Bedingungen, deren Einhaltung fortwährend überprüfbar sein muss. Eines ist klar: Die UN und auch die EU sind mit dem Ziel einer politischen Lösung des Konflikts bislang völlig gescheitert.

Für unsere Außenpolitik steht allerdings weit mehr auf dem Spiel als die Frage des Wiederaufbaus. Der syrische Bürgerkrieg ist nicht zuletzt auch ein Testfall für die Geltung internationaler Normen und außenpolitischer Glaubwürdigkeit, spätestens seit dem Ziehen angeblicher „roter Linien“ nach Chemiewaffenangriffen. Die bislang eher symbolischen Reaktionen auf die Übertretung dieser Linien schaffen verheerende Präzedenzfälle und sind vor allem Ausdruck der außenpolitischen Hilflosigkeit gegenüber einem noch von Iran und Russland gestützten syrischen Regime.

Teile dieses Aufsatzes fanden bereits Verwendung im mit Stefan Scheller verfassten Artikel „Viel Einsatz, wenig Wirkung. Die EU muss im Syrien-Konflikt endlich mehr Einfluss gewinnen“, Internationale Politik 4, Juli/August 2018.

Roderich Kiesewetter, geboren 1963 in Pfullendorf (Südbaden), Oberst a. D., seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages, Obmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Auswärtigen Ausschuss.

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