Asset-Herausgeber

von Jürgen Kaube

Das Normative in irritierten Zeiten

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Wird die Gesellschaft als unruhig und beunruhigend empfunden, so erfolgen erwartbare Appelle an Werte. Das gilt vor allem, wenn die wahrgenommene „Krise“ gegen alle historische Erfahrung als etwas Besonderes gilt. Bankenkrisen lösen Debatten über Gier als wertloses und Verantwortung als wertvolles Verhalten aus. Flüchtlinge motivieren Diskussionen darüber, ob Diversität ein Wert ist und wie er sich zum gesellschaftlichen Zusammenhalt verhält. Terroranschläge wiederum führen dazu, dass Freiheit und Sicherheit gegeneinander aufgeboten werden oder als einander bedingend.

Ob wir in außergewöhnlich unruhigen Zeiten leben, kann dabei dahingestellt bleiben. Der Vergleich, etwa mit den 1970er-Jahren – Ölkrise, saurer Regen und „Waldsterben“, elf Prozent Lohnerhöhung und 9,5 Prozent Preisanstieg, Kalter Krieg, Stagflation, „Grenzen des Wachstums“, die Morde der Baader-Meinhof-Bande und ihrer Nachfolger, 112.000 Tonnen Bomben über Vietnam und so weiter –, könnte eher auf eine gestiegene Krisenempfindlichkeit der Gegenwart hinweisen. Der Wertediskurs ist demgegenüber stabil. Damals beispielsweise setzte die Rede vom Übergang zu „postmateriellen Werten“ ein.

Der wichtigste Grund dafür, Werte ins Spiel zu bringen, wenn gesellschaftliche Abweichungen als schwer erträglich diskutiert werden, liegt darin, dass Werte Gemeinsamkeit symbolisieren. Jeder einzelne Wert ist fast diskussionslos zustimmungsfähig. Tatsächlich ist so gut wie niemand gegen mehr Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden, Gesundheit, Tierliebe, Bildung und so weiter. Selbst Menschen, die zu sehr vorurteilsbeladenen Ansichten über Ausländer neigen, deklarieren sich zumeist nicht selbst als intolerant oder als Gegner von Weltoffenheit. Sogar Klimawandelskeptiker finden den Erdball erhaltenswert, und Anhänger der freien Fahrt für freie Bürger sprechen sich nicht gegen Sicherheit im Straßenverkehr aus. Wer sich dennoch so weit vorwagt, einzelne Werte komplett oder Werte als solche zu verneinen, wird zum Kandidaten für moralische Sanktionen: Feind der Menschheit, pathologischer Fall, Fundamentalist, Adresse von Abscheu, oder er wird – wie beim Marquis de Sade und bei Friedrich Nietzsche geschehen – zum intellektuellen Einführungstext in das Problem.

Raum für Beschwörungen

Das Problem liegt also nicht in der offenen Negation von Werten. Diese bleibt eine Spezialität von Minderheiten und macht, sofern sie zu Handlungen führt, oft schnell mit der Justiz bekannt. Vielmehr wird eine schleichende gesellschaftliche Abwendung von ihnen vermutet. Der Wertewandel, so lautet die Diagnose, und die Entfernung der Gesellschaft von bestimmten Wertmustern vollziehen sich unbewusst, unartikuliert und gewissermaßen im Rücken von Entscheidungen. Individuen orientieren sich in ihrem Handeln verstärkt an anderen Belohnungssystemen, etwa am Konsum, am Markt, an der Wiederwahlchance, der Karriere oder am Erkenntnisgewinn, und sie nehmen die Opfer, die das in Bezug auf Wertverwirklichung bedeutet, blind in Kauf. Die geforderten Wertedebatten – Versuche, über eine „Leitkultur“ zu reden, sind eine regionale Variante davon – sollen demgegenüber ein Innehalten zugunsten der Frage erzwingen, was eigentlich und letztlich gewollt wird. Ist das eine Frage mit Aussicht auf Antwort? Oder schafft sie nur den Raum für Beschwörungen und führt vor allem zu festlichen Ansprachen, Mahn- und Ruckreden, zu denen die eigentlichen Adressaten dieser Reden meistens gar nicht eingeladen sind? Ist die insistente Forderung, es müsse über Werte gesprochen, an sie erinnert werden, mit anderen Worten nicht nur ein Ritual?

Zunächst: Werte sind Gesichtspunkte, eine Handlung anderen vorzuziehen. Sie selbst enthalten aber keine Handlungsanweisung. Dazu sind sie viel zu abstrakt. Was beispielsweise „Gleichheit“ wäre, wird selbst dann nicht klarer, wenn man die offensichtlich sinnlose Vorstellung einer Gleichverteilung aller Güter beiseite lässt, um stattdessen von „Chancengleichheit“ zu sprechen. Das klingt gut, und niemand kann dagegen sein, aber was soll es bedeuten? Denn was wäre eine Chancengleichheit von Biographien in einer Gesellschaft, in der es Familien gibt, in der ungleich erzogen, gewohnt, geliebt, ernährt, kommuniziert wird? Chancengleich wären nur Individuen, die keine Vergangenheit hätten.

Also kann Gleichheit gar nicht Gleichheit als Zustand meinen, sondern allenfalls die Abschaffung etwa von Schulgeld, obwohl damit die Ungleichheit beim Zugang zu Nachhilfe noch nicht beseitigt ist. Und wenn man kostenlose Nachhilfe für alle organisierte, wären damit noch nicht die Chancen auf die besten Privatlehrer oder Internate egalisiert. Wer an dieser Stelle mit dem Wert weiter ernst machen wollte, wäre zu abermaligen Subventionen gezwungen oder zu Verboten. Wenn etwa alle Aufgaben in der Schule erledigt werden müssen, kann die Familie hier nicht mehr ungleichheitsverstärkend wirken. Also könnte man Hausaufgaben (und Privatlehrer und Internate) verbieten, um der Chancengleichheit näher zu kommen. Oder die Zeit der Kinder in den Familien durch Ganztagsschulpflicht reduzieren. Aber möchte man am Ende so weit gehen, den Familien die Kinder wegzunehmen, um eine Hauptquelle sozialer Ungleichheit abzuklemmen?

Freiheit des einen, Risiko des anderen

Womit eine zweite Eigenschaft von Werten hervortritt: Sie widersprechen einander. Die Unehrlichkeit geführter wie angemahnter Wertedebatten besteht darin, diesen Aspekt unter den Tisch fallen zu lassen. Es wird suggeriert, alle wertvollen Dinge bildeten, sofern nur ein guter politischer Wille und ein Budget da sind, einen harmonischen Zusammenhang. Tatsächlich kommen sich schon Gleichheit, Freiheit und Geschwisterlichkeit ins Gehege, wenn versucht wird, sie in konkreten Fragen geltend zu machen. Die Freiheiten der einen, hat man gesagt, sind die Risiken der anderen. Jemand ernährt sich beispielsweise ungesund oder geht riskanten Freizeitaktivitäten nach. Einen Teil der eventuell entstehenden Folgekosten aber trägt die um des Gesundheitswertes willen eingerichtete zwangsbrüderliche Krankenkasse. Von deren Wertverwirklichung wiederum sind Beamte und Selbstständige ausgenommen, wofür Freiheitsund Gleichheitsargumente herangezogen werden. Dass dann auch noch Effizienz als Wert ins Spiel kommt, weil vermeintlich liberalere Gesundheitssysteme, anders als behauptet, gar nicht kostengünstiger sind, macht die Sache noch komplizierter.

Der Appell zur Wertedebatte führt also zu Wertekonflikten sowie zur Tatsache, dass es keine Regeln gibt, welche Werte welchen anderen jeweils vorzuziehen wären. Ein Wert ist nicht aufgrund seines vermeintlichen Inhalts instruktiv, sondern aufgrund der Bereitschaft, ihm in einem spezifischen Kontext – etwa Schule oder Krankheitsbehandlung – die Vorfahrt vor einem anderen Wert zu überlassen, ohne dass damit schon etwas über sein Gewicht in anderen Kontexten gesagt wäre. Im Büro folgt das Individuum anderen Werten als auf dem Sportplatz oder in der Kirche. Der Wert „Liebe“ kann Familien gründen, aber auch auflösen, genauso, wie das Handeln im Horizont von „Leistungsbereitschaft“ sie finanzieren und zerstören kann. Bildungsaufstieg führt womöglich dazu, „dass es die Kinder einmal besser haben“, aber auch zu Entfremdung von den Eltern. Und so weiter.

Klare Wertordnung und Tyrannei liegen nahe beieinander

Der Werterelativismus ist darum keine beklagenswerte moralische Indifferenz sozialer Gruppen, sondern die Struktur einer Gesellschaft, die selbst auf der Ebene ihrer Verfassung lernbereit und für Widersprüche, Ausnahmen, Abweichungen von Erwartungen sensibel ist. Wie wichtig Werte sind, hängt stets davon ab, wie stark konkurrierende Werte schon berücksichtigt wurden. Wer nichts zu essen hat, wird die Verwirklichung von Erkenntnisfortschritt sekundär finden, aber der Erkenntnisfortschritt gehört heute seinerseits zu den Bedingungen dafür, die Menschheit ernähren zu können. Ein Blick auf Staaten, in denen angeblich stabile Vorfahrtsregeln für Werte durchgesetzt werden – etwa immer religiöse Tugend vor Freiheit oder immer Planung vor Demokratie oder immer Wohlstand vor Bildung –, zeigt vor allem, dass klare Wertordnung und Tyrannei nahe beieinander liegen.

Werte widersprechen aber nicht nur einander. Es gibt zu fast jedem Wert auch einen Gegenwert, den wir genauso bejahen. Sie widersprechen also sich selbst. Der amerikanische Ökonom Herbert A. Simon hat einmal darauf hingewiesen, dass Sprichwörter diesem Muster folgen. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste – und: Wer wagt, gewinnt. Wir bejahen Geduld und Entschlusskraft, Offenheit und Diskretion, Ehrlichkeit und Höflichkeit, Synergieeffekte und Konzentration aufs Kerngeschäft, Großzügigkeit und Sparsamkeit. Mit anderen Worten: Es ist für ganz gegensätzliche Handlungen ein Wert verfügbar und für ihre Kritik dann der Gegenwert.

Entsprechend kann die Gesellschaft ihre Unzufriedenheit mit sich ganz leicht über Wertedebatten artikulieren: weil Werte immer „nicht durchgängig verwirklicht“ sind, weil sie stets hinter anderen Werten zurückstehen müssen. Entweder werden die prominenten Werte eines Teilsystems gegen die anderer Teilsysteme aufgeboten, um zu bezeichnen, was Demokratie, Markt, Staatsräson, Meinungsfreiheit, Schule und Familie einander zumuten. Oder es wird die innere Widersprüchlichkeit der Werte in den jeweiligen Systemen mobilisiert, etwa wenn mehr Orientierung am Wert der Bildung gefordert wird, dann aber endlos diskutiert werden kann, ob das mehr Abendland, mehr Persönlichkeitsbildung, mehr Fachwissen oder mehr Computereinsatz heißen soll. Die Reformdynamik moderner Gesellschaften verlegt die Lösung dann gern in die Zeitdimension: erst das eine, dann das andere, ihm Entgegengesetzte, schließlich die Wiederkehr des einst Abgelehnten.

Möglicher Erschöpfungszustand

Für Wertedebatten heißt das allerdings, dass sie anfällig für Ideologiekritik sind. Wer sich von einer Rückbesinnung auf Werte größeren gesellschaftlichen Zusammenhalt verspricht, hat nämlich nicht nur die Schwierigkeit, anzugeben, wann denn genau die Zeiten waren, als die Werte noch intakt und wirksam waren. Es kann auch eine historische Lage eintreten, in der sich solche Appelle aufgrund ihrer Frequenz als Anzeichen eines Erschöpfungszustandes erweisen. „Mit Werten kann man leicht und billig argumentieren; das sollte Warnung genug sein“, schrieb der Soziologe Niklas Luhmann vor mehr als fünfzig Jahren in seinem Buch über „Grundrechte als Institution“. Wenn zu viel mit Werten argumentiert wird, könnte der Umkehrschluss lauten: Man möchte es sich einfach machen, um der gewaltigen Komplexität sozialer Fragen und eventuell auch der Tatsache auszuweichen, dass uns eine Antwort fehlt. Das mag dann allenfalls damit entschuldigt werden, dass der Wert der Redlichkeit eben auch nur einer unter anderen ist.

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Jürgen Kaube, geboren 1962 in Worms, Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und zuständig für das Feuilleton.

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