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12. CDA-Bundestagung. Verabschiedung der „Offenburger Erklärung“

von Markus Lingen
„Der Mensch ist wichtiger als die Sache“ Auf der 12. Bundestagung der CDA wurde am 9. Juli 1967 die Offenburger Erklärung für eine offene und solidarische Gesellschaft verabschiedet. Mit der Erklärung gab sich die Vereinigung ihr erstes Grundsatzprogramm.

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Mit Persönlichkeiten wie Karl Arnold, Jakob Kaiser und Johannes Albers hatten die christlichen Gewerkschaften in den ersten Nachkriegsjahren einen großen Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung der CDU. Die erfolgreiche Wirtschaftspolitik in der Ära Adenauer ließ jedoch die bürgerlichen und wirtschaftsliberalen Kräfte in der Union erstarken.

Mit der Übernahme des Vorsitzes durch Hans Katzer 1963 versuchte die CDA, wieder stärker auf die programmatische Entwicklung der CDU Einfluss zu nehmen. Dabei erkannten die Mitglieder der Vereinigung, dass sie sich zunächst selbst ein Grundsatzprogramm geben mussten. Katzer gab die Richtung vor, die Arbeit der CDA nicht allein auf das Feld der Sozialpolitik zu beschränken. Vielmehr gelte es, den Zusammenhang von Wirtschafts-, Finanz- und Gesellschaftspolitik zu sehen. Daher sollten die Sozialausschüsse eine einheitliche Konzeption für die drei interdependenten Bereiche erarbeiten.

Die Initiative, für die Ausarbeitung der Vorstellungen Katzers ging von Norbert Blüm aus. Blüm war zu dieser Zeit gesellschaftspolitischer Referent der Sozialausschüsse und der engste Mitarbeiter von Katzer.

Im Jahr 1966 beauftragte der Bundesvorstand der CDA den Grundsatzarbeitskreis, Entwürfe für ein solches Programm zu entwerfen. Der Arbeitskreis stand unter Leitung des stellvertretenden Bundesvorsitzenden Gerd Orgaß. Ihm gehörten nicht nur CDA-Mitglieder an, sondern auch Wissenschaftler sowie Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche. In der Zeit bis zur Offenburger Bundestagung wurden eine Vielzahl von Einzelpapieren und Entwürfen diskutiert, ehe den Delegierten die „Offenburger Erklärung“ zur Beschlussfassung vorgelegt wurde.

 

Für eine zukunftsorientierte Gesellschaftspolitik der Union

Die Offenburger Erklärung hatte damals zwei Funktionen: Zum einen wollte die CDA einen umfassenden Beitrag für eine zukunftsorientierte Gesellschaftspolitik leisten und damit auch ihr eigenes Selbstverständnis klären. So schrieb jedenfalls Karl-Heinz Hoffmann, der Hauptgeschäftsführer der Sozialausschüsse: „Wenn aber Politik für die Arbeitnehmer nicht Politik für eine Randgruppe der Gesellschaft ist, sondern für die breite Schicht unseres Volkes, dann kann sie nicht als ‚Arme–Leute–Politik‘ betrieben werden. Den Sozialausschüssen geht es um die Ordnung der Gesellschaft, nicht allein um eng begrenzte sozialpolitische Maßnahmen. Arbeit muss der bestimmende Faktor unserer Ordnungspolitik sein. Denn nicht materieller Besitz ist es, welcher das Gesicht unserer Gesellschaft prägt, sondern die Arbeit, und dieser Tatsache muss eine moderne Politik Rechnung tragen.“

Zum anderen wollte die CDA mit der Offenburger Erklärung die programmatische Diskussion innerhalb der CDU beflügeln, denn bis zu diesem Zeitpunkt war die Union über einzelne Aktionsprogramme nicht hinausgekommen. Auch Ludwig Erhards Versuch, die zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft unter ein einheitliches Leitbild, das der „Formierten Gesellschaft“ zu stellen, hatte nur begrenzte Entfaltungskraft. Erst 1978 verabschiedete die CDU auf dem Bundesparteitag in Ludwigshafen ihr erstes Grundsatzprogramm.

 

Gesellschaftspolitische Leitlinien

Die Offenburger Erklärung steht auf drei Säulen. Erstens legen die Sozialausschüssen ihr Leitbild für eine offene und solidarische Gesellschaft dar, zweitens untermauern sie ihre Auffassung von der „Einheit der Gesellschaftspolitik“ und drittens zeigen sie Wege auf, wie die von ihnen proklamierten Ziele einer modernen Gesellschaftspolitik „Freiheit, Gerechtigkeit, soziale Sicherung“ zu verwirklichen sind.

Die CDA formulierte drei zentrale gesellschaftspolitische Leitlinien:

– „Wir erstreben eine Politik, die der Würde des Menschen und seiner Arbeit den Vorrang vor allen anderen Werten und Maßstäben einräumt, denn der Mensch ist wichtiger als die Sache.“

– „Wir wollen die offene Gesellschaft, die frei ist von Zulassungsbeschränkungen, die Gleichheit der Chancen gewährt, die strukturelle und materielle Hindernisse beseitigt.“

– „Wir wollen die solidarische Gesellschaft, die Institutionen schafft und unterstützt, welche den sozialen Zusammenhang der Gesellschaft fördern, ohne den Eigenwert der Person in Frage zu stellen, die Solidarität nicht auf die Grenzen des Nationalstaates beschränkt, sondern weltweit sieht.“

 

Offenheit für Veränderungen

Mit dem Plädoyer für eine offene Gesellschaft wurde bewusst der Gegensatz zu geschlossenen Gesellschaftsformen, etwa der des Feudalismus oder der der bürgerlichen Gesellschaft des Industriezeitalters, aufgezeigt. Norbert Blüm hat drei Elemente der Offenheit skizziert: Mobilität, Rationalität und Egalität.

Gegenüber allen Propheten eines irdischen Glücks müsse eine christliche Soziallehre auf der prinzipiellen Unvollendbarkeit der Welt bestehen. Die Humanität einer christlichen Politik liege geradezu darin, dass sie offen ist „für Veränderungen, aufnahmefähig für Erfahrungen, ständig korrekturbedürftig aufgrund des Wandels, von dem die Gesellschaft ergriffen ist“. In einer pluralistischen Gesellschaft könne es keinen Stillstand geben.

Eine solche Gesellschaft brauche aber eine Basis der Gemeinsamkeit, wenn sie nicht von widerstreitenden Interessen gesprengt werden soll. Blüm sieht diese Gemeinsamkeit „neben der Verpflichtung, für alle verbindliche Lösungen zu finden“, in dem Anspruch, „im Kampf um diese gemeinsame Lösung als einzige Waffe die Vernunft gelten zu lassen“. An anderer Stelle schrieb er ergänzend: „Es ist der Mensch als vernünftiges Wesen, der seine soziale Verpflichtung erkennt.“

 

Sozialer Status durch Leistung

Das dritte Element der Offenheit sieht Blüm in der Egalität. „Die christliche Brüderlichkeit schließt niemanden aus, sie ist offen gegenüber jedermann und Wurzelgrund, aus dem die Idee der Gleichheit erwuchs. Diese Gleichheit zielt nicht auf die Einebnung aller Unterschiede, aber die Unterschiede ergeben sich aus den verschiedenen Stufen der Selbstverwirklichung.“

In einer offenen Gesellschaft, so Norbert Blüm, wird der soziale Status dem Menschen nicht nur durch Privilegien zugeschrieben, sondern durch Leistung erworben. Die offene Gesellschaft müsse deshalb frei sein von allen Zugangsbeschränkungen. Zugänge würden nicht allein durch rechtliche Schranken verbaut, sondern ebenso sehr durch ein Ungleichgewicht der sozialen Machtpositionen.

 

Offenheit und Solidarität gehören zusammen

In der Offenburger Erklärung verbindet die CDA das Prinzip der Offenheit unauflöslich mit dem der Solidarität: nicht verstanden als Kampfbegriff, sondern als wechselseitiger Prozess zwischen der Gemeinschaft und dem Einzelnen. Der Einzelne hat Anspruch auf Zuwendung und Hilfe durch die Gemeinschaft, aber er hat auch eine solidarische Pflicht, sich für die Gemeinschaft einzusetzen.

 

Solidarität weltweit

Diese Form der Solidarität hat die CDA nicht auf die nationalen Grenzen begrenzt gesehen, sondern mit Blick auf das Prinzip der Offenheit grenzenlos formuliert. Blüm schrieb damals in dem von ihm verfassten, aber namentlich nicht gekennzeichneten Artikel „Leistung ist mehr als Besitz“, dass die offene Gesellschaft das Bewusstsein auch in weltweitem Maßstab stärken und die solidarischen Formen der wirtschaftlichen Existenz und der sozialen Sicherung weiterentwickeln müsse.

 

Einheit der Gesellschaftspolitik

In der Offenburger Erklärung formulierte die CDA auch ihr Verständnis von der „Einheit der Gesellschaftspolitik“. Wirtschafts- und Sozialpolitik sind Teilbereiche, die sich gegenseitig bedingen. Damit widersprach sie den Vorstellungen, dass die Wirtschaftspolitik für wirtschaftliches Wachstum zu sorgen und die Sozialpolitik lediglich die Verteilung der Wachstumsergebnisse vorzunehmen habe. „Die Wirtschaftspolitik ist darum keineswegs eine Voraussetzung der Sozialpolitik. Beide sind eine Einheit. Beide sind weitgehend auch Verteilungspolitik. Die Wirtschaftspolitik ist nicht der gestörte, die Sozialpolitik nicht der störende Teil. Beide sind in gleicher Weise begrenzt und in gleicher Weise frei.“

Mit der Offenburger Erklärung hat sich die CDA 1967 ein Grundsatzprogramm gegeben, das bis ins neue Jahrtausend Gültigkeit hatte. Auf den Bundestagungen in Krefeld 1979 mit den Leitbegriffen „Arbeit – Freiheit – Zukunft“ und 1981 in Mannheim mit dem Leitthema „Die sanfte Macht der Familie“ wurden neue programmatische Akzente gesetzt, die die Offenburger Erklärung ergänzten. Im Jahr 2001 folgte dann das neue Grundsatzprogramm „Erst der Mensch, dann der Markt“, das fortgeschrieben wurde durch die Hannoveraner Leitsätze „Würde – Teilhabe – Gerechtigkeit“ bis hin zum aktuellen Grundsatzprogramm von 2015, das den Leitsatz der Offenburger Erklärung „Der Mensch ist wichtiger als die Sache“ trägt.

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