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Abstimmung im Deutschen Bundestag über das Denkmal für die ermordeten Juden Europas

Helmut Kohl war es, der die Entscheidung für den exponierten Standort in der Nähe des Brandenburger Tors traf.

Ein Zeitzeugenbericht von Michael Mertes.

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Viele waren daran beteiligt, dass heute mitten in Berlin das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ eindrucksvoll Zeugnis von einem Kernelement deutschen Geschichtsbewusstseins und deutscher Staatsräson ablegt: von der nicht verjährenden Bereitschaft Deutschlands, sich der historischen Verantwortung für die Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu stellen, und von der kompromisslosen Absage an alles, was dieser Gewaltherrschaft den Weg bereitet hat.

Bundeskanzler Kohl gehörte zwar nicht zu den Initiatoren des Holocaust-Mahnmals. Er machte sich dieses Projekt jedoch nach der Wiedervereinigung Deutschlands zu Eigen, als weitreichende Beschlüsse für die Gestaltung Berlins als deutscher Hauptstadt auf die Tagesordnung kamen. Kohl war es, der die Entscheidung für den exponierten Standort in der Nähe des Brandenburger Tors traf. 1995 legte er gegen den im ersten Wettbewerb erfolgreichen Denkmalsentwurf einer Künstlergruppe um Christine Jackob-Marks sein Veto ein. 1997/98, am Ende des zweiten Wettbewerbs, sprach er sich für den – schließlich dann auch in modifizierter Form realisierten – Entwurf von Peter Eisenman und Richard Serra aus. Und er hielt unbeirrt an seinen Entscheidungen fest, als sich von sehr unterschiedlichen Seiten, zum Beispiel aus dem Kreis von Berliner CDU-Landespolitikern, Widerstände zu regen begannen. Am bekanntesten ist wohl die kritische Interview-Äußerung von Kohls Nachfolger Gerhard Schröder Anfang November 1998, er wolle ein Holocaust-Denkmal „in einer Dimension, vor der die Berlinerinnen und Berliner, vor dem die Deutschen nicht Furcht empfinden, sondern wo sie gerne hingehen, um sich zu erinnern, um sich auseinanderzusetzen.“ Unvergessen ist auch die Bezeichnung des Eisenman/Serra-Entwurfs als „Dauerpräsentation unserer Schande“, als „fußballfeldgroße[r] Alptraum“ durch Martin Walser im Oktober 1998.

Als Mitarbeiter von Helmut Kohl hatte ich das Privileg, aus der Nähe mitzuerleben, welche Motive den Kanzler antrieben und wie er an größeren Weggabelungen die Richtung bestimmte. Für seinen Weg zum Holocaust-Mahnmal war eine frühe wichtige Station die Eröffnung der gemeinsamen Tagung des World Jewish Congress, des European Jewish Congress und des Zentralrats der Juden in Deutschland am 6. Mai 1990 in Berlin. Damals bestand die große Sorge, Deutschland werde die Wiedervereinigung als historische Absolution interpretieren und die Zeit des Nationalsozialismus als eine für Gegenwart und Zukunft nicht mehr relevante Episode deutscher Geschichte zu den Akten legen. Diesen Befürchtungen trat Kohl in seinem Grußwort unmissverständlich entgegen: Es dürfe, so betonte er, niemals vergessen werden, dass unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft „von Berlin aus der Völkermord an den europäischen Juden vorbereitet und gesteuert wurde“.

Ich erinnere mich auch noch an ein Gespräch Kohls mit dem damaligen Zentralratspräsidenten Heinz Galinski, in dem es um die Frage nach dem künftigen deutschen Nationalfeiertag ging. Galinski befürchtete, es könne der 9. November werden mit der fatalen Folge, dass die Erinnerung an den Fall der Mauer 1989 künftig das Gedenken an die Reichspogromnacht 1938 verdrängen werde. Kohl antwortete, dass der 9. November aus genau diesem Grunde nicht für ihn in Frage komme; das hatte er auch kanzleramtsintern immer wieder gesagt. Um Galinski zu beruhigen, fügte er hinzu, der künftige deutsche Nationalfeiertag sollte, wenn es nach ihm gehe, sowieso in einer Jahreszeit liegen, in der „die Leute“ sich unter freiem Himmel vergnügen können.

Kohls Entscheidung für das Berliner Holocaust-Mahnmal war Teil einer Vereinbarung mit Galinskis Nachfolger Ignatz Bubis über die Umwidmung der Neuen Wache Unter den Linden zur „Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“. Bei Lichte besehen, war und ist es ein unmögliches Unterfangen, aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft – vom gefallenen Wehrmachtssoldaten bis zum ermordeten jüdischen Kind – unterschiedslos zu gedenken. Um den Grundwiderspruch musikalisch zu übertönen, wurde bei der Einweihung der umgewidmeten Neuen Wache am Volkstrauertag 1993 nicht – wie üblich – die Melodie des Liedes „Ich hatt’ einen Kameraden“ gespielt, sondern das choralähnliche Hauptthema aus dem letzten Satz der 1. Sinfonie von Johannes Brahms. Bubis erklärte sich bereit, die umfassende Widmung zu akzeptieren, wenn Kohl seinerseits das Holocaust-Mahnmal unterstütze. Der Kanzler sagte zu, aber es wurde daraus mehr als nur ein pragmatischer „Deal“. Ignatz Bubis hat mir kurz danach versichert, er werde es Kohl nie vergessen, dass er die Größe besessen habe, aus den Berliner Liegenschaften des Bundes ein so riesiges Areal in bester Lage für dieses Projekt zur Verfügung zu stellen.

Aus eigener Kenntnis kann ich auch bezeugen, dass Kohls Veto von 1995 gegen den Jackob-Marks-Entwurf von nichtöffentlichen – brieflich und mündlich vorgetragenen – Protesten angesehener jüdischer Persönlichkeiten ausgelöst wurde. Anstoß erregte unter anderem der Plan, die Namen aller bekannten Opfer des Holocaust auf eine schiefe Betonfläche von 20.000 Quadratmetern Größe zu meißeln – mit der Folge, dass Besucher des Mahnmals diese Namen buchstäblich mit Füßen hätten treten können. Die Anmutung einer sich öffnenden Grabplatte erinnere, so argumentierten andere, an das christliche Auferstehungsmotiv und suggeriere damit Sinn, wo es keinen Sinn gebe.

Die schlechte Erfahrung mit dem ersten Wettbewerb veranlasste Kohl dazu, sich in der neuen Phase von vornherein stärker selbst um das Projekt zu kümmern. Im Herbst 1997 kam es zu einem Gedankenaustausch mit dem Holocaust-Überlebenden Arno Lustiger, einem Mitbegründer der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main nach 1945 und angesehenen Autor von Büchern zur jüdischen Geschichte. Kohl und Lustiger waren einander schon früher begegnet und hatten miteinander korrespondiert. Lustiger schlug dem Kanzler vor, als Denkmal für die ermordeten Juden Europas eine Replik des Warschauer-Ghetto-Denkmals aufzustellen; eine solche Replik steht auch in der Jerusalemer Schoah-Gedenkstätte Yad Vashem. In den Köpfen künftiger Besucher sollte so das Bild vom Dreieck Deutschland-Polen-Israel (dem Land der Mordplanung, dem Schauplatz der Nazi-Verbrechen und dem Zufluchtsort der Überlebenden) entstehen. Zugleich werde damit an den Kniefall Willy Bandts 1970 erinnert und der jüdische Widerstand gewürdigt. Kohl war sehr beeindruckt von dieser Idee und gab den Auftrag, in Jerusalem nachzufragen, was man dort davon halte; die Reaktion war negativ.

In Berlin ließ sich Kohl die neuen Modelle zeigen (Peter Eisenman/Richard Serra, Jochen Gerz, Daniel Libeskind, Gesine Weinmiller). Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie Lea Rosh, die engagierteste Betreiberin des Mahnmalprojekts seit 1988, dem Kanzler ihre Sorge über wachsende Widerstände von SPD-Politikern und Berliner CDU-Landespolitikern vortrug und ihm dafür dankte, dass er loyal und beharrlich zu dem Vorhaben stehe. Kohl zeigte eine klare Präferenz für den Eisenman/Serra-Entwurf, wünschte sich jedoch einige Modifikationen (vor allem eine mit Bäumen und Büschen bepflanzte Übergangszone, auch wenn dies bedeutete, dass die Zahl der Pfeiler reduziert würde). Er lud Peter Eisenman und Richard Serra zu sich ins Bonner Bundeskanzleramt ein, um mit ihnen über seine Vorstellungen zu sprechen. Eisenman zeigte sich empfänglich und flexibel. Er betonte, dies sei nicht sein erstes öffentliches Projekt, und er sei sich darüber im Klaren, dass staatliche Stellen – auch im Blick auf die Akzeptanz in der Bevölkerung – ein legitimes Interesse daran hätten mitzureden. Richard Serra dagegen schien über die „Verwässerung“ seines künstlerischen Konzepts nicht so glücklich zu sein.

Zur Zeit des Regierungswechsels 1998 waren die Entscheidungsprozesse so weit gediehen, dass der Regierung Schröder – trotz öffentlich bekundeter Bedenken – die Hände politisch gebunden waren. In einem Fernsehinterview wies Kohl darauf hin, dass es nicht mehr nur um eine innerdeutsche Debatte gehe: „Was auf uns zukäme, wenn wir es nicht bauten, wäre ein schwerer Schaden für das Land.“ Die Regierung Schröder konnte allerdings Eisenman dazu bringen, seinen Entwurf zu überarbeiten und um einen „Ort der Information“ zu ergänzen. Der 14. Deutsche Bundestag, in dessen Wahlperiode der Umzug von Bonn nach Berlin fiel, nahm sich des Projekts wesentlich stärker an als die beiden Bundestage davor. Am 25. Juni 1999 debattierten die Abgeordneten ausführlich über das „Ob“ und das „Wie“ des Berliner Holocaust-Mahnmals. Bei den Abstimmungen herrschte kein Fraktionszwang. Der modifizierte Eisenman-Entwurf fand schließlich eine Mehrheit von 312 gegen 207 Stimmen.

Man mag im Nachhinein darüber streiten, ob es richtig war, ein derart zentrales Vorhaben („zentral“ im topographischen wie im metaphorischen Sinne) erst zu einem so späten Zeitpunkt zu parlamentarisieren. Tatsache scheint mir zu sein, dass ohne die – demokratisch legitimierte – Führung aus dem Kanzleramt das Vorhaben entweder gar nicht oder ganz anders oder viel später verwirklicht worden wäre. Das gilt auch für eine Reihe von anderen, zum Teil bis in die Mitte der 1980er Jahre zurückgehende Projekte, die das Erscheinungsbild der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands prägen, zum Beispiel das Deutsche Historische Museum mit dem Erweiterungsbau von I. M. Pei, die umgewidmete Neue Wache oder der Kanzleramtsbau von Axel Schultes.

 

Michael Mertes leitete von 1995 bis 1998 die Planungs- und Kulturabteilung im Bundeskanzleramt.

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