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Bundeskanzler Kohl besucht Dresden und führt Gespräche mit DDR-Ministerpräsident Hans Modrow

von Wolfgang Tischner
Nach den Gesprächen mit Modrow und Vertretern oppositioneller Gruppen bekennt sich Kohl in einer bewegenden Rede vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche zur Einheit der Nation.

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Nachdem Helmut Kohl sich am 28. November 1989 im Deutschen Bundestag das Ziel der deutschen Einheit ins Blickfeld gerückt hatte, waren massive Widerstände der ehemaligen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und vieler deutscher Nachbarstaaten zu überwinden. Die Angst vor einem übermächtigen vereinigten Deutschland ging um. Es kam sogar am 11. Dezember 1989 zu einer Konferenz der vier Botschafter der Siegermächte in Berlin. Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow signalisierte Bedenken wegen Kohls Zehn-Punkte-Programms.

Beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft am 8. und 9. Dezember 1989 in Straßburg schlug Kohl eine „eisige Atmosphäre“ entgegen, bei der sich insbesondere die britische Premierministerin Margaret Thatcher mit einer kaum verhüllten Ablehnung des deutschen Selbstbestimmungsrechtes hervortat. Persönlich enttäuschend war für den Bundeskanzler auch die Haltung des Niederländers Ruud Lubbers, der sonst immer seine Nähe gesucht hatte. Es waren – unabhängig von der politischen Gesinnung – zwei Sozialisten, die den deutschen Christdemokraten unterstützten: Jacques Delors, der Präsident der Europäischen Kommission, und der spanische Regierungschef Felipe Gonzales. Beiden vergaß Kohl diesen Beistand nie.

Entscheidend war in diesen Tagen die Unterstützung durch die amerikanischen Verbündeten und deren Festhalten am Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Möglichkeit der deutschen Einheit. Präsident George Bush und Außenminister James Baker hatten mit Kohl schnell die gemeinsame Linie gefunden, dass die Vereinigten Staaten von Amerika eine Wiedervereinigung Deutschlands dann rückhaltlos unterstützen würden, wenn das vereinigte Deutschland weiter fest in den westlichen Vertragssystemen verankert sein würde. Dies entsprach zugleich Helmut Kohls politischen Grundüberzeugungen.

Die außenpolitische Verunsicherung rührte vor allem von dem immensen Tempo her, mit dem sich die innenpolitische Situation in der DDR veränderte. Anfang Dezember 1989 war bereits deutlich geworden, dass die SED nicht mehr die politische Kontrolle besaß: Bei den Blockparteien, unter ihnen auch die Ost-CDU, hatte bereits ein Prozess der Selbstreinigung eingesetzt und die Bevölkerung akzeptierte die Regierung nicht mehr, sondern nur noch den neueingerichteten „Runden Tisch“ als politisches Führungsgremium. Unter dem Druck von andauernden Demonstrationen und ungeminderter Ausreisewelle hatte die Volkskammer am 1. Dezember 1989 schließlich den Führungsanspruch der SED aus der Verfassung gestrichen. Da auch die wirtschaftliche Lage der DDR immer schwieriger wurde, war ein Treffen auf Regierungsebene vereinbart worden, das am 19. Dezember 1989 in Dresden stattfinden sollte.

 

Jubelnder Empfang Kohls in Dresden

Presseberichte und Fernsehbilder hatten in diesen Tagen das Stimmungsbild zwar maßgeblich beeinflusst. Doch Helmut Kohl war unsicher, wie die Menschen in der DDR auf seinen Besuch reagieren würden. Auf dem Dresdner Flughafen erwartete Kohl eine Menschenmenge von mehreren tausend Demonstranten, die neben schwarz-rot-goldenen Fahnen – selbstverständlich ohne DDR-Wappen - auch die ebenfalls in der DDR verpönte grün-weiße sächsische Fahne mitführten. Die Sprechchöre mit ihren „Helmut, Helmut“-Rufen degradierten den SED-Regierungschef Modrow von Anfang an zum Statisten.

In seinen Erinnerungen hat Helmut Kohl beschrieben, dass er vor dem Besuch nicht vorgehabt hatte, eine Rede zu halten, doch nun sei ihm klar geworden, „dass ich zu den Menschen sprechen musste“. Wolfgang Berghofer, der damalige Oberbürgermeister Dresdens habe dann vorgeschlagen, Kohl solle vor der Ruine der Frauenkirche sprechen.

 

Kohls Angebot bei den Regierungsgesprächen: Finanzielle Hilfe bei Abhaltung freier Wahlen

Was konnte die Bundesregierung im Dezember 1989 der Regierung Modrow anbieten? An finanziellen Maßnahmen plante das Bundesfinanzministerium für das Jahr 1990 Ausgaben in Höhe von 1,77 Milliarden DM ein. Der Bürgschaftsrahmen im innerdeutschen Handel von 4,5 Milliarden DM wurde um 1,5 Milliarden DM auf insgesamt sechs Milliarden DM aufgestockt, ERP/KfW-Kreditprogramme für kleinere und mittlere Unternehmen sollten um zwei Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt erhöht werden. Damit konnte das entsprechende Kreditvolumen um sechs Milliarden DM ausgeweitet werden. Außerdem war die Bundesregierung zur Übernahme einer Bürgschaft für Finanzkredite in Höhe von ein bis zwei Milliarden DM in Form eines gebundenen oder ungebundenen Finanzkredits bereit, um kurzfristig fällige Auslandsschulden der DDR umschichten zu können. Das sollte die allgemeine Schuldensituation der DDR verbessern.

Die Leitlinien für Kohls Gespräche mit Ministerpräsident Modrow in Dresden konzentrierten sich auf drei Punkte: die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrecht der Menschen in der DDR, die Einbettung des innerdeutschen Annäherungsprozesses in die europäische Integration und die Umsetzung des Zehn-Punkte-Programms. Daraus resultierten vier ganz konkrete Forderungen an die DDR-Führung: die Abhaltung freier Wahlen und der gleichberechtigte Zugang nichtsozialistischer Parteien, eine umfangreiche Verfassungs- und Strafrechtsreform, Wirtschaftsreformen, die letztlich zur Einführung der Marktwirtschaft führen sollten, und die Ausformung der angedachten Vertragsgemeinschaft. Die Bundesregierung stimmte der Einsetzung gemeinsamer Kommissionen, wie sie die DDR wünschte, zu. Noch vor Weihnachten sollte die Visafreiheit hergestellt und das Brandenburger Tor durchlässig werden -als symbolischer Akt der Grenzöffnung.

 

Gespräche Kohls mit Modrow und Vertretern der Bürgerrechtsbewegung

Zunächst unterhielt sich Kohl mit Modrow unter vier Augen. In dem anschließenden Delegationsgespräch sprach der DDR-Ministerpräsident über die Probleme, die ihn augenblicklich umtrieben. Aus seiner Sicht drohte die Situation zwischen extremistischen Kräften und Befürwortern der Wiedervereinigung zu eskalieren. Angesichts der angespannten Wirtschaftslage setzte Modrow auf umfangreiche Unterstützung durch die Bundesregierung. Er wiederholte die schon Anfang November erhobene Forderung nach einem Kredit von 15 Milliarden DM, um die DDR in den nächsten beiden Jahren über Wasser zu halten. Gleichwohl sprach Modrow von der weiteren Existenz zweier deutscher Staaten und behauptete nach wie vor, die Wiedervereinigung sei nicht aktuell. Kohl erkannte recht schnell, dass sein Gegenüber im Grunde genommen kein politisches Reformkonzept zur Hand hatte. Angesichts der wirtschaftlichen Schwäche der DDR war es nur eine Frage der Zeit, wie lange die SED mit Modrow an der Spitze politisch überleben könnte. Kohl war jedoch nicht bereit, mit dieser SED-Führung weitergehende Abkommen zu schließen. Allenfalls kam eine Absichtserklärung zu einer Vertragsgemeinschaft in Frage. Die Verhandlungen darüber sollten im Frühjahr abgeschlossen sein. Der Kanzler forderte seinerseits, rasch Investitionsmöglichkeiten zu schaffen und sagte zu, sich für einen Beitrittsantrag der DDR zum Internationalen Währungsfonds einzusetzen. Forderungen nach einem Lastenausgleich wies er zurück. Er insistierte darauf, den Menschen müsse „ ein Licht am Ende des Tunnels“ aufgezeigt werden.

Das Gespräch zwischen Kohl und Modrow machte ganz deutlich: Der Kanzler begegnete einem Ministerpräsidenten, der politisch schwach und rückhaltlos dastand. Mit ihm war auf lange Sicht nicht zu rechnen. Die Bundesregierung hatte in dieser Situation kein Interesse, die Position Modrows zu stärken, auch wenn Kohl in der Öffentlichkeit mitunter das Gegenteil behauptete.

Als Kohl am nächsten Morgen mit Vertretern verschiedener Oppositionsgruppen zusammentraf, von denen nur die SPD fernblieb, konnte jedermann aus seinen Äußerungen heraushören, dass die Bundesregierung keine ökonomische Stabilisierung der DDR zur Rettung der SED beabsichtigte. Kohls Gesprächspartner an diesem Tag machten sich große Sorgen. In ihren Köpfen geisterte die Gefahr einer Militärdiktatur, die der Kanzler jedoch als unvorstellbar bezeichnete. Allerdings wusste Kohl, dass in den Reihen des sowjetischen Militärs wahrscheinlich immer noch Gedanken um eine militärische Intervention in der DDR zur Wiederherstellung der alten Ordnung kreisten. Die Situation war unverändert brisant. Schnell konnte ein falsches Wort fatale Folgen haben.

 

Kohls Rede vor der Frauenkirche

Als Kohl nach den Gesprächen die hastig aufgestellte Tribüne vor den Ruinen der Frauenkirche betrat, war die Menge auf viele Tausende Menschen angewachsen. Die Spruchbänder verkündeten „Deutschland, einig Vaterland“, diese Worte entstammten der zu Honeckers Zeiten geächteten DDR-Hymne von 1949. Der Bundeskanzler drückte in seiner improvisierten, ständig von Beifall unterbrochenen Rede seine Bewunderung für den Mut der Menschen in der DDR aus und betonte, sie keinesfalls bevormunden zu wollen. Sein Bemühen, die Nachbarn der Deutschen zu beruhigen, war unverkennbar, so etwa, als er Gorbatschows Wort vom „gemeinsamen Haus Europa“ aufgriff. Aber er ließ auch keinerlei Zweifel daran, dass für ihn jetzt nur noch freie Wahlen der nächste Schritt sein konnten, verbunden mit der Perspektive der friedlichen Vereinigung beider deutscher Staaten in Freiheit: „Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation“.

„Das zweite, was ich sagen möchte, ist ein Wort der Anerkennung und der Bewunderung für diese friedliche Revolution in der DDR. Es ist zum ersten Mal in der deutschen Geschichte, dass in Gewaltfreiheit, mit Ernst und Ernsthaftigkeit und in Solidarität die Menschen für die Zukunft demonstrieren. Dafür danke ich Ihnen allen sehr, sehr herzlich.“ (Helmut Kohl am 19. Dezember 2019 vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche)

Von kaum zu überschätzender Bedeutung war die Wirkung der Fernsehbilder von Kohls Ansprache: Sie machten der ganzen Welt deutlich, dass sich die Deutschen in der DDR klar für die deutsche Einheit entscheiden würden und alle Vorstellungen von einer eigenständigen Weiterexistenz der DDR spätsozialistische Wunschträume waren.

Für Helmut Kohl war der begeisterte Empfang in Dresden sein „Schlüsselerlebnis“ auf dem Weg zur deutschen Einheit. In seinen Erinnerungen schrieb er, in der Zeit des Jahreswechsels 1989/90 habe er zusammen mit seinen Mitarbeitern „unsere besondere Verantwortung für Deutschland und für eine friedliche Ordnung in Europa“ gespürt. Spätestens jetzt habe sich gezeigt, „wie lebendig das Bewusstsein für die Einheit unserer Nation in all den Jahrzehnten der Teilung geblieben war.“

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