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Wahl von Karl Carstens zum Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion

von Kordula Kühlem
Die Wahl Carstens war eine Überraschung, denn keiner seiner Vorgänger und Nachfolger hatte so wenig parlamentarische Erfahrung wie Carstens zum Zeitpunkt seiner Wahl.

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Wahl Karl Carstens zum Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am 17. Mai 1973 Bundesarchiv, B 145 Bild-F039718-0016/Gräfingholt, Detlef/CD-BY-SA 3.0.
Wahl Karl Carstens zum Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am 17. Mai 1973

„Ich sehe natürlich wie Sie, daß dieser Fraktion die Geschlossenheit und Solidarität gelegentlich fehlt, die wir, dessen sind wir wohl alle überzeugt, brauchen, um den politischen Auftrag, den uns über 16 Millionen Wähler erteilt haben, erfolgreich durchzuführen (…). Und ich werde mich bemühen mit allen mir zu Gebote stehenden Kräften, dieses Maß an Geschlossenheit und Solidarität erwachsen und entstehen zu lassen, was wir meiner Meinung nach für diesen Erfolg brauchen (…)“.

Mit diesen Worten bedankte sich Karl Carstens am 17. Mai 1973 bei den Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion für seine Wahl zum Vorsitzenden. Diese Wahl war eine Überraschung, denn keiner seiner Vorgänger und Nachfolger hatte so wenig parlamentarische Erfahrung wie Carstens zum Zeitpunkt seiner Wahl.

Nach seiner Karriere als politischer Beamter, die ihn bis in das Amt des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, im Verteidigungsministerium und schließlich im Bundeskanzleramt geführt hatte, widmete sich Karl Carstens verstärkt seiner Tätigkeit als Professor für europäisches Recht und durch seine Berufung zum Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik schien er der Politik den Rücken gekehrt zu haben.

Doch 1972 ließ er sich von CDU-Parteifreunden für eine Bundestagskandidatur gewinnen; eigentlich für die Wahl 1973, die dann aber auf November 1972 vorgezogen wurde. Carstens gewann zwar den ihm zugeteilten Wahlkreis 7 Oldenbourg (Ostholstein) und Plön nicht direkt, zog aber über die Landesliste in den Bundestag ein – auf einem vorher eher aussichtslosen Listenplatz.

Mit einer Rolle als Hinterbänkler im Plenum wollte Carstens sich jedoch nicht abgeben. Bereits seine Rede am 19. Dezember 1972 in der Aussprache über den Grundlagenvertrag mit der DDR erschien wenig später als Sonderdruck des Parteiorgans Union in Deutschland (UiD-Dokumentation 5/1973)). Mit einer weiteren Rede am 15. Februar 1973 anlässlich der ersten Lesung des Vertrages erreichte Carstens seinen Durchbruch, wobei ihm seine geschliffene Sprache wie seine grundlegenden juristischen und administrativen Kenntnisse auszeichneten. Die BILD-Zeitung titelte einen Tag später: „Die CDU hat einen neuen Star“.

Nachdem Differenzen in der CDU/CSU-Fraktion und mit dem Vorsitzenden Rainer Barzel schon lange geschwelt hatten, kam es anlässlich der Frage des gleichzeitigen UNO-Beitritts der Bundesrepublik und der DDR zum offenen Bruch und dem daraus folgenden Rücktritt von Barzel. Carstens hatte in dieser Frage mit dem Fraktionsvorsitzenden und der Minderheit für den Beitritt gestimmt; als Gefolgsmann Barzels galt er jedoch nicht.

Während Gerhard Schröder und Richard von Weizsäcker schnell als mögliche Nachfolgekandidaten gehandelt wurden, blieb Carstens lange ein Geheimtipp, auch wenn CSU-Landesgruppenchef Franz Josef Strauß bereits im Dezember 1972 über ihn gesagt haben soll: „Der Carstens ist eine tolle Persönlichkeit – vielleicht der neue Fraktionsvorsitzende.“ (Spiegel, 21.5.1973). Tatsächlich gewann Carstens, den Kai-Uwe von Hassel offiziell vorschlug, die Wahl am 17. Mai 1973 mit 131 von 219 möglichen Stimmen sehr deutlich, während für von Weizsäcker 58 und für Schröder 26 Fraktionsangehörige votierten. Eher eine Nebenrolle spielte dabei, dass mit ihm der erste evangelische Fraktionsvorsitzende gewählt worden war. In seinen Erinnerungen maß Carstens selbst seiner Wahl aufgrund seiner geringen parlamentarischen Erfahrung „sensationellen Charakter“ zu, zitierte ausführlich seine Antrittsrede und schloss mit dem Fazit: „Der Tag endete in großer Harmonie.“ – Eine Einschätzung, die zumindest die beiden unterlegenen Kandidaten und deren Anhänger wohl nicht teilten.

Die politische wie auch die allgemeine Öffentlichkeit schwankte bei der Einschätzung des neuen Unionsfraktionsvorsitzenden, während die kurz darauf erfolgte Wahl des damals 43-jährigen Helmut Kohl zum CDU-Parteivorsitzenden als deutliches Zeichen der Erneuerung gedeutet wurde. Carstens konnte zwar auf eine lange Karriere als Regierungsbeamter zurückblicken und war mit 58 Jahren deutlich älter als Kohl, auf dem parlamentarischen Parkett war er jedoch ein Neuling und als Außenseiter von den Fraktionsquerelen unbelastet. Die Presse fragte sich deshalb, ob Carstens als „neues Gesicht aus der Vergangenheit“ (SZ, 18.5.1973), bzw. „Nur Nothelfer oder Lotse für den Reformkurs?“ (Rheinische Post 18.5.1973) gelten konnte.

Der neue Fraktionschef selbst wusste durchaus um seine Defizite. Noch im Rückblick lobte er seinen Stellvertreter, den Chef der CSU-Landesgruppe Richard Stücklen, der besaß, was dem Vorsitzenden fehlte: jahrzehntelange parlamentarische Erfahrung. Außerdem ging Carstens nach eigenen Angaben die Fähigkeit ab, die Fraktion „emotional“ anzusprechen, dafür sorgte er mit seiner  Ruhe und Gelassenheit und den von ihm selbst so bezeichneten „abwartenden Führungsstil“ für eine Beruhigung der Richtungskämpfe in den eigenen Reihen. Zu dieser internen Geschlossenheit trug sicherlich außerdem bei, dass Carstens weiter mit scharfen Beiträgen gegen die Regierung von sich reden machte. Das Schlagwort „Freiheit oder Sozialismus“ variierte er ideenreich. Außerdem übte er scharfe Kritik an der „Neuen Ostpolitik“, obwohl er selbst als Staatssekretär im Auswärtigen Amt 1966 mitverantwortlich für die in der sogenannten Friedensnote neuen ostpolitischen Gedanken zeichnete und schon 1965 persönlich nach Moskau gereist war. Die Entspannungspolitik der sozialliberalen Regierung entbehrte in seinen Augen jedoch der Ausgewogenheit und sicherte nicht die Wertetrias „Freiheit – Frieden – Einheit“, an der seiner Meinung nach uneingeschränkt festgehalten werden musste.

Zum politischen Zentrum innerhalb der Partei entwickelte sich jedoch in den nächsten Jahren mehr und mehr der Bundesvorstand, bedingt auch dadurch, dass der Vorsitzende Kohl als rheinland-pfälzischer Ministerpräsident kein Bundestagsmandat innehatte. Noch in seinen Erinnerungen dankte Helmut Kohl Carstens dafür, dass dieser durch kollegiale Kooperation diese Verschiebung der Machtstrukturen möglich gemacht habe. Die Zusammenarbeit zwischen Fraktions- und Parteivorsitzendem gestaltete sich auch aufgrund dieser klaren Positionszuordnungen gut, zusammen mit dem ebenfalls neu gewählten Generalsekretär Kurt Biedenkopf bildeten sie eine wirkungsvolle „Troika“ (Hans-Otto Kleinmann). Nur in ihrer Haltung zur FDP unterschieden sich Kohl und Carstens. Während der Fraktionsvorsitzende auch gegenüber dem Juniorpartner der sozialliberalen Koalition einen kompromisslosen Konfrontationskurs steuerte, war der Parteivorsitzende bereits Mitte der 1970er Jahre bestrebt, den Gesprächsfaden zu den Liberalen nicht abreißen zu lassen.

Beide glichen und ergänzten sich jedoch in ihrem Willen, die Regierungsverantwortung zurück zu erlangen. Carstens schlug im Herbst 1974 vor, der Opposition den Aufbau eines Schattenbeamtenstabes zu erlauben und zu finanzieren. Diese Anregung war nur die logische Schlussfolgerung aus seiner eigenen Erfahrung von 1969, als er als hochrangiger politischer Beamter anlässlich des Regierungswechsels seinen Posten hatte räumen müssen. Außerdem verkündete er bereits kurz nach seiner Wahl Leonid Breschnew bei dessen Deutschlandbesuch Ende Mai 1973: „Herr Generalsekretär, die Opposition von heute ist die Regierung von morgen.“

Diese Haltung wie auch andere umstrittene Äußerungen, u. a. zu den Hungerstreiks der RAF-Häftlinge, führten dazu, dass Carstens in der Öffentlichkeit nach und nach an Sympathiepunkten verlor. Dazu kam ein Rechtsstreit über eine vermeintliche Falschaussage, die er 1969 als Chef des Kanzleramts und somit des Bundesnachrichtendienstes getätigt haben sollte. Das Verfahren endete erst im März 1979, nach vier Jahren, mit einer Rücknahme des Vorwurfs an Carstens.

In der Partei zeigte sich dagegen ein anderes Bild. Nicht nur wurde er 1975 auf der Landesliste von Schleswig-Holstein auf Platz 2 für die nächste Bundestagswahl nominiert, er erhielt auch das beste Abstimmungsergebnis bei der Aufstellung der Spitzenkandidaten. Für den Fall eines Wahlsiegs 1976 war Carstens sogar als möglicher Außenminister einer Regierung der Unionsparteien im Gespräch. Doch die CDU/CSU verfehlte die Mehrheit knapp und der CDU-Vorsitzende entschloss sich, den Posten als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz mit dem des Oppositionsführers im Bundestag zu vertauschen. Carstens machte für Kohl den Weg frei und kandidierte nicht erneut für den Vorsitz der nunmehr erneut größten Bundestagsfraktion, den Kohl übernahm.

Im Rückblick rechnete sich Carstens selbst als größtes Verdienst seiner Jahre als Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion an, in den meisten Fragen Einvernehmlichkeit innerhalb der Fraktion hergestellt und die beiden Fraktionsteile CDU und CSU stärker zusammengeführt zu haben. Letztere Einschätzung steht allerdings im Gegensatz zu dem am Ende seiner Amtszeit bzw. zum Auftakt der Amtszeit seines Nachfolgers Helmut Kohl unternommenen Versuch der CSU, sich mit dem Kreuther Beschluss vom 19. November 1976 abzuspalten.

Insgesamt, so zeigten auch seine Amtszeit von 1976 bis 1979 als Bundestagspräsident und die Monate vor der Wahl zum Bundespräsidenten 1979, war Carstens zu dieser Zeit ein streitbarer und umstrittener Politiker – ein Bild, das erst durch seine überaus geschätzte Arbeit als Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland bis 1984 von positiveren Einschätzungen überlagert wurde.

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