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Wahlanalyse: Landtagswahl in Thüringen am 27. Oktober 2019

Vorläufiges Wahlergebnis

Die Volksparteien verlieren dramatisch: CDU und SPD kommen auf die schlechtesten Werte, die sie je in Thüringen erzielt haben. Ein Drittel der Wähler stimmt für die Linkspartei, ein Viertel für die Rechtsaußen-Partei AfD. Die Christdemokraten, die lange in Erfurt regiert haben, erreichen nur noch Platz drei.

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1. Das Wahlergebnis in Thüringen

 

Wie schon bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen ist auch in Thüringen die Wahlbeteiligung gestiegen. 64,9 Prozent der Wahlberechtigten haben an der Wahl teilgenommen. Das ist ein Zuwachs von 12,2 Punkten und damit die höchste Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen in Thüringen seit 1994. Ähnlich wie bei den anderen beiden Landtagswahlen 2019 zeigten auch in Thüringen die Umfragen vor der Wahl ein knappes Rennen, sodass ehemalige Nichtwähler mobilisiert wurden.

 

Die CDU ist erstmals nur drittstärkste Kraft in Thüringen. Sie verliert 11,7 Punkte und erzielt 21,8 Prozent der Zweitstimmen. Das ist ihr bislang schlechtestes Ergebnis in Thüringen. Trotz der gestiegenen Wahlbeteiligung verliert die Union in absoluten Zahlen 74 Tsd. Stimmen. In ihren Hochburgen im Eichsfeld (I und II) schneidet die CDU zwar immer noch überdurchschnittlich ab, hat aber auch überdurchschnittliche Verluste zu verzeichnen. 21 Abgeordnete (-13) entsendet die CDU in den Landtag, von denen alle direkt gewählt sind.

 

Nachdem die SPD schon 2014 ein bis dato historisch schlechtes Ergebnis erzielt hatte, wird sie nun erstmals einstellig. Sie kann nur 8,2 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Das ist ein Verlust von 4,2 Punkten bzw. knapp 26 Tsd. Stimmen. Am besten schneiden die Sozialdemokraten im Wahlkreis Gotha II ab mit 16,4 Prozent. Dem Thüringer Landtag werden nur noch 8 Abgeordnete (-4) der SPD angehören, von denen nur einer direkt gewählt wurde.

 

Die Linke wird erstmals in einem Bundesland stärkste Kraft. Sie kann im Vergleich zu 2014 noch einmal 2,8 Punkte hinzugewinnen und erzielt mit 31 Prozent der Zweitstimmen ihr bislang bestes Ergebnis in Thüringen. Sie kann gut 78 Tsd. Stimmen zusätzlich für sich verbuchen. Am besten schneidet die Linke im Wahlkreis Suhl/Schmalkalden-Meiningen IV ab. Dort erzielt sie fast 40 Prozent der Stimmen. Besonders hohe Zugewinne verzeichnet die Linke in den Wahlkreisen Jena I und II, Weimar II und Eichsfeld II. In letzterem hat die Union die höchsten Verluste zu verzeichnen. Möglicherweise spielt hierbei eine Rolle, dass Bodo Ramelow bekennender Christ ist. 2006 erschien ein Buch mit Interviews mit Ramelow unter dem Titel „Gläubig und Genosse: Gespräche mit Bodo Ramelow“. Die Linke wird mit 29 Abgeordneten (+1) im Landtag vertreten sein, von denen 11 direkt gewählt sind.

 

Die Grünen können in Thüringen nicht an den Erfolg der Europawahl anknüpfen. Sie verlieren 0,5 Punkte und sind mit 5,2 Prozent zum dritten Mal in Folge im Thüringer Landtag vertreten. Durch die gestiegene Wahlbeteiligung verlieren die Grünen zwar prozentual, können aber absolut 4 Tsd. Wähler hinzugewinnen. In einigen städtischen Wahlkreisen (Jena I und II, Erfurt II und III, Weimar II) werden die Grünen zweistellig, im Wahlkreis Jena I erzielen sie sogar 16,3 Prozent. Die Grünen ziehen mit 5 Abgeordneten (-1) in das Parlament ein.

 

Noch knapper war der Einzug in den Landtag bei der FDP. Sie gewinnt 2,5 Punkte hinzu und erzielt 5,0005 Prozent der Zweitstimmen. Damit schaffen die Liberalen nach 1990 und 2009 zum dritten Mal den Einzug in den Thüringer Landtag. Mit nur 6 Stimmen weniger, wäre die FDP an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. In absoluten Zahlen kann sie 32 Tsd. Stimmen hinzugewinnen. Auch die Liberalen schneiden in Jena (I und II) am besten ab. Sie werden mit 5 Abgeordneten (+5) im Parlament vertreten sein.

 

Die AfD wird zweitstärkste Kraft und kann ihr Wahlergebnis von 2014 mehr als verdoppeln. 23,4 Prozent der Wähler stimmen für die AfD, das ist ein Plus von 12,8 Punkten oder knapp 160 Tsd. Stimmen. Am besten schneidet die AfD in den Wahlkreisen Gera II und Altenburger Land I ab, in denen sie nah an die 30 Prozent-Marke reicht. Die schlechtesten Ergebnisse erzielt die AfD in den städtischen Wahlkreisen Jena, Erfurt und Weimar, aber auch hier wird sie zweistellig. 22 Abgeordnete (+11) werden die AfD im Landtag vertreten, davon wurden 11 direkt gewählt. 2014 konnte die AfD noch kein Direktmandat gewinnen.

 

Von den kleineren Parteien nehmen die Partei DIE PARTEI und Tierschutz hier! mit jeweils 1,1 Prozent an der Wahlkampfkostenerstattung teil. Die NPD, die 2009 und 2014 noch bei 4,3 und 3,6 Prozent lag, kann jetzt nur noch 0,5 Prozent der Zweitstimmen auf sich vereinen.

 

2. Wesentliche Bestimmungsgründe des Wahlergebnisses in Thüringen

 

Auch bei dieser Wahl ist ein längerfristiger Trend nicht zu übersehen: Die Bedingungen für Parteien variieren von Bundesland zu Bundesland erheblich. Dies führt dazu, dass die Ergebnisse auf Landesebene von der Bundesebene stark abweichen. Es gibt in fast jedem Land eine andere Partei, welche eine dominante Stellung im Parteiensystem einnimmt. Nur ist die Vielfalt enorm und reicht von der SPD (Rheinland-Pfalz), über die Grünen (Baden-Württemberg) zur CDU und CSU (Nordrhein-Westfalen, Hessen, Bayern). Auch die Stärke der AfD ist keine einheitliche Größe. Im Norden und Westen bleibt sie unter dem bundesweiten Durchschnitt, während es ihr in den neuen Ländern gelingt, ihre bisherigen Hochburgen auszubauen und zusätzlich zu motivieren. Mit dem besten Ergebnis ihrer Parteigeschichte nimmt die Linke nun in Thüringen die Rolle der stärksten politischen Kraft ein.

 

Diese Vielfalt spiegelt sich in den Wahlergebnissen der letzten drei Wahlen wider: In Brandenburg ist die SPD, in Sachsen die CDU und in Thüringen die Linke stärkste Partei. In diesen Ländern konnten die jeweiligen Ministerpräsidenten von ihrem Amtsbonus profitieren und ihre jeweilige Partei damit zur stärksten Kraft machen. Doch ist dies kein allgemeiner Trend zur Personalisierung. Denn sowohl in Sachsen (Martin Dulig) als auch in Thüringen (Wolfgang Tiefensee) konnten zwei beliebte Spitzenkandidaten der SPD ihre Partei nicht vor einem Rückgang der Zustimmung bewahren. Insgesamt ist die Konzentration der Wähler auf die Amtsinhaber stark ausgeprägt. Auch gute Werte der Oppositionskandidaten, wie sie Mike Mohring in Thüringen hatte, befördern nicht die Wahlaussichten der Partei. Umgekehrt gilt, dass im Fall der AfD die politische Ausrichtung sowie die Images der Spitzenkandidaten für das Wahlverhalten eine eindeutig untergeordnete Bedeutung haben. Auch bei den Grünen gibt es kein einheitliches Muster der Bedeutung der Spitzenkandidaten. In manchen Ländern sind die Ergebnisse auf das Ansehen der Spitzenkandidaten zurückzuführen (Baden-Württemberg, Hessen), in anderen Ländern ist kein Effekt sichtbar.

 

Schwierige Mehrheitsverhältnisse, wie sie sich in Thüringen abzeichnen, sind hingegen kein Novum. Sie bestanden in Sachsen-Anhalt (zwei Legislaturperioden seit 1994), in Nordrhein-Westfalen und in Hessen. Aufgrund der unterschiedlich gestalteten Landesverfassungen ergaben sich verschiedene politische Lösungen. In Thüringen kommt hinzu, dass eine Mehrheitsbildung ohne die Linke oder die AfD nicht möglich ist. Aus den Umfragedaten gibt es keine klare Präferenz für irgendein Koalitionsmodell. Eine Beteiligung an der Landesregierung von CDU, Linker und SPD findet jeweils etwa die Hälfte der Thüringer gut (Forschungsgruppe Wahlen). Auch alle anderen Meinungsdaten lassen keine klaren Präferenzen erkennen: Die Thüringer sind für alles offen, solange die AfD nicht beteiligt wird. Nur ein Drittel findet es richtig, dass die CDU eine Koalition von CDU und Linker ausgeschlossen hat (Forschungsgruppe Wahlen). In der CDU-Anhängerschaft sind 68 Prozent der Ansicht, dass über eine Koalition mit der Linkspartei neu entschieden werden solle. Dies sehen im Fall der AfD 17 Prozent der CDU-Anhänger so (Infratest dimap).

 

Die Offenheit der Wähler gegenüber jeglicher Landesregierung ist auch in einem anderen Befund augenfällig: 40 Prozent nennen die Linke als die präferierte Partei für die Führung der nächstenLandesregierung. 49 Prozent sagen, dies könne auch eine andere Partei (Infratest dimap). Bei der Forschungsgruppe Wahlen plädieren 44 Prozent für eine Führung der Landesregierung durch die Linke und 45 Prozent sprechen sich für eine Führung durch die CDU aus.

 

Die Wahl in Thüringen ist nicht von bundespolitischen Themen überlagert. Daher sind Schlussfolgerungen auf die Bundesebene aufgrund des Wahlergebnisses schwierig, wenn nicht ausgeschlossen. Die spezifische Bewertung sowohl der Themen als auch die Konstellation des Parteiensystems hat die Wahl bestimmt. 62 Prozent der Befragten sagen, die Themen im Land seien wichtiger für ihre Wahlentscheidung (Forschungsgruppe Wahlen). Zudem fehlte eine Wechselstimmung, was sich u.a. an der Zufriedenheit mit der Landesregierung zeigt. So sind 58 Prozent der Thüringer mit der Landesregierung zufrieden (Infratest dimap).

 

Die CDU befand sich während des Wahlkampfes in einer Sandwichposition, eingekeilt zwischen Linker und AfD, welche die Machtaussichten der Partei eintrübten.

 

Die Linke kann in Thüringen vom Amtsbonus des Ministerpräsidenten Bodo Ramelow profitieren. 53 Prozent hätten ihn und 32 Prozent Mike Mohring als Ministerpräsidenten gewünscht. Im Vergleich zu anderen Wahlen ist dies im Fall von Ramelow kein überragender Wert, im Fall von Mohring ein recht guter. Bei der individuellen Bewertung der Leistung des Ministerpräsidenten schneidet Ramelow hingegen sehr gut ab. 73 Prozent der Thüringer sagen, er würde seine Sache gut machen. Selten werden hier bessere Werte erreicht. So konnte z.B. Annegret Kramp-Karrenbauer im Saarland mit 80 Prozent, Michael Kretschmer in Sachsen mit 77 Prozent und Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg mit 84 Prozent bessere Werte verbuchen. Ramelow ist es gelungen, sich von seiner Partei abzusetzen. Auf einer Skala von +5 bis -5 erhält er einen Wert von 1,6, die Linke im Land erreicht 1,1 und die Linke im Bund wird von den Thüringern mit 0,3 deutlich schwächer bewertet. In der eigenen Anhängerschaft erhält er mit 4,0 einen ausgesprochen hohen Wert. Mohring kommt bei allen Anhängern auf 0,9, in der eigenen Anhängerschaft auf sehr gute 3,0. Die CDU wird mit 0,9 so eingestuft wie der Kandidat, ihre Leistung in der Opposition mit 0,6 hingegen schlechter. Dass die Bewertung der Spitzenkandidaten lediglich bei Ramelow eine positive Wirkung auf das Wahlergebnis entfaltet hat, zeigt sich bei Wolfgang Tiefensee. Bei allen Thüringern wird er mit 1,3 bewertet, die eigenen Anhänger geben ihm den Wert von 3,0, während die SPD auf 0,6 (sowohl als Partei als auch in der Regierung) kommt. Doch trotz der positiven Bewertung des Spitzenkandidaten, konnte der die SPD nicht vor weiteren Verlusten bewahren. Björn Höcke polarisiert wie alle Kandidaten der AfD. Er kommt bei allen Thüringern auf einen Wert von -2,6, in der eigenen Anhängerschaft hingegen auf +2,3. Die mediale Diskussion um den Rechtsextremismusgehalt seiner Aussagen hat ihm in der eigenen Anhängerschaft offenbar nicht geschadet. Er schneidet sogar besser ab als die beiden letzten dem „Flügel“ angehörigen Kandidaten der AfD in Sachsen und Brandenburg. Diese wurden mit 1,9 (Urban) und 1,5 (Kalbitz) in der AfD-Anhängerschaft schwächer bewertet (Forschungsgruppe Wahlen).

 

Generell gibt es in allen empirischen Studien zur AfD keine Hinweise, dass es der AfD schadet, wenn sie als populistisch, extremistisch, radikal oder mit Begriffen wie „Nazi“ oder „Faschist“ bezeichnet wird. Vielmehr sind „Wagenburgeffekte“ sichtbar. Je stärker eine auch fundamentale Auseindersetzung mit der AfD, politisch wie medial, geführt wird, desto stärker scheinen im für die AfD mobilisierbaren Potential Solidarisierungen einzusetzen. Zwischen der Wahrnehmung der Partei in der eigenen Anhängerschaft und bei allen Wählern liegen Welten. Die AfD wird in Thüringen in ihrer Anhängerschaft als eine demokratische Partei wahrgenommen (94 Prozent; alle: 39 Prozent). Ihr wird zugesprochen, vermeintliche Tabus zu brechen. So sagen 98 Prozent der AfD-Anhänger, die Partei würde aussprechen, was in anderen Parteien nicht gesagt werden dürfe (alle: 56 Prozent). 88 Prozent halten sie für die einzige Partei, mit der Protest gegenüber der vorherrschenden Politik ausgedrückt werden könne. Und 76 Prozent der AfD-Anhänger sind der Ansicht, die Partei kümmere sich mehr als andere Parteien um die Probleme vor Ort (alle: 23 Prozent; Infratest dimap). Fremd- und Selbstbild der AfD-Anhänger unterscheiden sich erheblich. 69 Prozent der AfD-Anhänger sagen, sie wählen die Partei wegen ihrer politischen Forderungen. Die weit verbreitete Vermutung, reine Denkzettelmotive stünden für die AfD-Anhänger im Vordergrund, scheint nicht mehr zuzutreffen (Forschungsgruppe Wahlen). Da sich die AfD-Anhänger in ihren Themenpräferenzen erheblich von anderen Anhängerschaften unterscheiden, rücken inhaltliche Fragen nach vorn.

 

Die AfD-Anhänger unterscheiden sich in jeder denkbaren Einstellung von den Anhängern anderer Parteien. Nach wie vor ist das Flüchtlingsthema bei ihnen besonders präsent. 100 Prozent finden es gut, dass die AfD den Zuzug von Ausländern und Flüchtlingen stärker begrenzen will als andere Parteien (alle: 47 Prozent). 88 Prozent begrüßen es, dass die AfD den anderen Parteien beim Klimaschutz etwas entgegensetzt (alle: 39 Prozent). Bei ihnen ist die Sorge über den Klimawandel unterdurchschnittlich (alle: 65; AfD-Anhänger: 55), die Sorge über eine zukünftige Zunahme der Kriminalität überdurchschnittlich (64:94) ausgeprägt. Besonders groß ist die Sorge um einen Verlust der deutschen Kultur und Sprache (48:88) und vor dem Einfluss des Islam (54:95). Sorgen um die Art und Weise, wie wir in Deutschland leben, sind ebenfalls ausgeprägt (46:83). Hingegen sind Befürchtungen, den Lebensstandard nicht mehr halten zu können, in der AfD-Anhängerschaft zwar vorhanden, jedoch, wie insgesamt, auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau (31:50) (Infratest dimap). Dies zeigt wiederholt, dass die sogenannte sozio-ökonomische Konfliktlage eine eher untergeordnete Rolle spielt. Eine andere Themenagenda und kulturelle Sorgen prägen die Einstellungen der AfD-Anhänger stark.

 

Während Wahlergebnisse früher anhand einiger „rationaler“ Einstellungen der Wähler leicht vorherzusehen waren, ist das mittlerweile nur eingeschränkt möglich. Hätte die Problemlösungskompetenz den Ausschlag gegeben, hätte die CDU deutlich besser abschneiden können. Doch scheinen die bereits vorher absehbaren schwierigen Mehrheitsverhältnisse das Wahlverhalten beeinflusst zu haben.

 

So liegt die CDU bei der Frage, wer die wichtigsten Aufgaben in Thüringen lösen könne, mit der Linken etwa gleichauf. 25 Prozent nennen die CDU, 28 Prozent die Linke. In diesem Feld halten nicht einmal die Anhänger der AfD die Partei für kompetent. Sie kommt bei der allgemeinen Problemlösungskompetenz auf 11 Prozent, die SPD auf 9, die Grünen auf 4 und die FDP auf 3 Prozent (Infratest dimap). Die Werte der CDU in ihren Hauptkompetenzfeldern sind gegenüber der Vorwahl durchgängig rückläufig. Dies hängt jedoch damit zusammen, dass die CDU vorher in der Regierung war und als Regierungspartei deutlich besser wahrgenommen wird. Dennoch bleiben ihre Kompetenzen in den Bereichen Wirtschaft, Arbeit und Kriminalität hoch. Die Linke hat gegenüber der Vorwahl von der Regierungsbeteiligung weniger profitiert als zu erwarten gewesen wäre. Sie bleibt im Wesentlichen auf dem Niveau der Vorwahl (Infratest dimap). Der AfD wird hingegen in den Bereichen Kriminalität und Asyl- und Flüchtlingspolitik von ca. einem Fünftel der Thüringer auch eine Lösungskompetenz zugesprochen. Dies ist auch bei anderen Wahlen vergleichbar. Die Grünen können hingegen nicht mit Inhalten punkten. Selbst in ihrem angestammten Thema Umwelt- und Klimapolitik schneiden sie gegenüber 2014 schlechter ab und werden auch weniger gut bewertet als in anderen Ländern. Dies ist unerwartet, da sie mit ihrer Spitzenkandidatin Anja Siegesmund die Ministerin stellten und im Bund das Thema hochgradig mit der Partei verwoben ist.

 

In Thüringen gibt es eine eigene Agenda der wichtigsten Probleme, die sich zum Teil erheblich von der des Bundes unterscheidet. Schule/Bildung liegt mit 29 Prozent an erster Stelle. In Deutschland insgesamt sprechen 6 Prozent das Thema an. Dies ist nicht ungewöhnlich. Es ist ein typisches Landesthema, da die Kompetenz hierfür in den Ländern und nicht beim Bund liegt. An zweiter Stelle mit 18 Prozent nennen die Thüringer Ausländer und Integration. Das Thema kommt auf Bundesebene auf 25 Prozent. Deutlich geringer ist die Bedeutung von Umwelt- und Klimapolitik. Dieses Thema nennen im Oktober 41 Prozent auf Bundesebene, in Thüringen erhält es 15 Prozent der Nennungen. Mit 13 Prozent Nennungen im Bereich Infrastruktur spielt in Thüringen ein Thema eine Rolle, das es nicht auf die bundesweite Agenda gebracht hat. Bei einer anderen Abfragemethode der politischen Kompetenzen ergeben sich klassische Kompetenzzuweisungen. Hier punktet die CDU mit Arbeit, Wirtschaft und Infrastruktur, die Linke mit sozialer Gerechtigkeit und Bildung, die Grünen mit Klimaschutz und die AfD mit Ausländerthemen. Auf eine Besonderheit ist hinzuweisen: In Sachsen teilen sich CDU, Linke und AfD die Kompetenz, wer sich am ehesten um die Sorgen und Probleme der Ostdeutschen kümmert. In Thüringen ist das die Domäne der Linken, die von 40 Prozent genannt wird und damit die anderen Parteien weit zurücklässt. Früher war dies das klassische Politikfeld der Linken, welches ihr, auch durch die Konkurrenz mit der AfD, seltener zugeschrieben wurde. In Thüringen hat sie diesbezüglich keine Kompetenzeintrübung, obwohl die AfD in ihrer Kampagne hier einen Schwerpunkt setzte.

 

Die SPD kann trotz der Beliebtheit ihres Spitzenkandidaten und ihrer Regierungsbeteiligung kein klares inhaltliches Profil vorweisen. Mit 0,6 wird ihre Regierungsbeteiligung zwar verhalten positiv gesehen (Forschungsgruppe Wahlen), doch erhält sie bei Problemlösungskompetenzen überall schlechtere Werte als bei der Vorwahl. Besonders dramatisch fallen die Veränderungen im Bereich der sozialen Gerechtigkeit ins Auge. Befanden sich Linke und SPD bei der Vorwahl noch etwa auf Augenhöhe, so liegt die Linke jetzt 20 Prozentpunkte vor der SPD (35:15) (Infratest dimap).

 

Auffällig ist das schwache Wahlergebnis der Grünen. Zweifellos sind die neuen Länder für die Grünen ein hartes Pflaster, doch die leichten Verluste verlaufen quer zum Trend. Erklärbar ist das Abschneiden durch die deutlich geringere Bedeutung von Umwelt- und Klimapolitik im Land, aber auch durch die relativ schwache Kompetenzeinstufung der Grünen in diesem Themenfeld (Infratest dimap). Nach Daten von Infratest dimap ist der Kandidateneffekt von Anja Siegesmund auf das Wahlergebnis als eher schwach zu bewerten. Während die Grünen bei anderen Wahlen zum Antipoden der AfD wurden, wird diese Rolle in Thüringen von der Linken eingenommen. Wer bei anderen Wahlen ein Zeichen gegen die AfD setzen wollte, ging zu den Grünen. Dieser Effekt ist in Thüringen nicht eingetreten.

 

Die FDP hat es in Thüringen geschafft, wieder in einen ostdeutschen Landtag einzuziehen. Die FDP setzte im Wahlkampf auf ihr klassisches Themenprofil, das sich in einer – wenn auch auf sehr niedrigem Niveau – gestiegenen Kompetenzzuweisung vor allem im Feld Wirtschaft und Arbeitsplätze niederschlägt (Infratest dimap). Bei dem Spitzenkandidaten der FDP, Thomas L. Kemmerich, scheint darüber hinaus ein kleiner eigenständiger Kandidateneffekt sichtbar zu sein (Infratest dimap).

 

3. Wählerwanderung und Sozialstruktur

 

Die CDU kann zwar von der gestiegenen Wahlbeteiligung profitieren, indem sie 30 Tsd. ehemalige Nichtwähler für sich gewinnt. Allerdings reichen diese Zugewinne nicht, um die Verluste an anderer Stelle auszugleichen. Die meisten Stimmen verliert sie an die AfD, an die sie 36 Tsd. Wähler abgibt. Aber auch an die Linke büßt die Union 23 Tsd. Wähler ein sowie 11 Tsd. an die FDP. Mit lediglich 5 Tsd. Stimmen fallen die Verluste an die Grünen eher gering aus. Zwischen Union und SPD halten sich Gewinne und Verluste die Waage.

 

Bei der Sozialstruktur der CDU-Wähler gibt es abweichende Befunde zwischen den Instituten, weshalb hier nur ein Befund berichtet werden soll: Die Union ist unter Katholiken in Thüringen zwar immer noch stärkste Kraft, hat aber deutlich überdurchschnittlich in dieser Gruppe verloren. Dies macht sich auch in den Verlusten im Eichsfeld bemerkbar.

 

Die SPD kann ebenfalls ehemalige Nichtwähler für sich gewinnen, 14 Tsd. an der Zahl. Allerdings sind auch bei ihr die Verluste an anderer Stelle größer. Die SPD gibt 20 Tsd. Wähler an die Linke ab, weitere 7 Tsd. an die AfD. An die FDP (3 Tsd.) und die Grünen (1 Tsd.) verzeichnet die SPD hingegen nur geringe Verluste.

 

Die Sozialdemokraten haben ähnlich wie die Union bei ihrer Stammklientel verloren. Unter Arbeitern und Gewerkschaftsmitgliedern verzeichnen sie leicht überdurchschnittliche Verluste.

 

Die Linke profitiert mit 53 Tsd. ehemaligen Nichtwählern deutlich von der gestiegenen Wahlbeteiligung. Aber auch von anderen Parteien kann die Linke Wähler für sich gewinnen: 23 Tsd. von der CDU, 20 Tsd. von der SPD, 9 Tsd. von den Grünen und Tausend von der FDP. Lediglich an die AfD verliert die Linke 16 Tsd. Stimmen.

 

Die Linke kann entgegen dem Trend einzig bei der Altersgruppe zwischen 45 und 59 Jahren keine Gewinne verzeichnen. Auch unter Arbeitern kann die Linke keine Gewinne für sich verbuchen (Forschungsgruppe Wahlen) bzw. hat sogar leichte Verluste (Infratest dimap). Bei Katholiken und Protestanten hingegen gewinnt die Linke überdurchschnittlich hinzu, ihr Zweitstimmenanteil in dieser Gruppe liegt aber immer noch deutlich unter ihrem Gesamtergebnis. Bei der Bildungszusammensetzung der Linken-Wähler weichen die Daten der Institute voneinander ab, sodass sie nicht berichtet werden.

 

Bei den Grünen fallen die Wanderungen insgesamt eher gering aus. Mit 5 Tsd. Stimmen verzeichnet sie die größten Zugewinne von der CDU. Von der gestiegenen Wahlbeteiligung kann sie mit lediglich 3 Tsd. ehemaligen Nichtwählern kaum profitieren. Weitere Tausend Wähler wandern von der SPD zu den Grünen. Auch die Verluste halten sich in Grenzen. Am stärksten verlieren die Grünen an die Linke: 9 Tsd. ehemalige Grünen-Wähler machen jetzt ihr Kreuz bei der Partei des amtierenden Ministerpräsidenten. Je weitere Tausend Stimmen verlieren die Grünen an die AfD und die FDP.

 

Die Grünen können einzig bei den jüngeren Wählern hinzugewinnen, in allen anderen Altersgruppen verlieren sie Stimmen. Ähnlich wie die Linke können auch die Grünen bei Katholiken Zugewinne verbuchen, sodass sie in dieser Gruppe nun überdurchschnittlich abschneiden.

 

Die FDP kann sowohl aus dem Lager der ehemaligen Nichtwähler als auch von anderen Parteien Wähler für sich gewinnen. 13 Tsd. frühere Nichtwähler machen nun ihr Kreuz bei den Liberalen. Hinzu kommen 11 Tsd. ehemalige Wähler der CDU. Von der SPD (+3 Tsd.) und den Grünen (+1 Tsd.) kann die FDP ebenfalls leicht gewinnen. Die Liberalen verlieren lediglich an die Linke Tausend Stimmen.

 

Die FDP gewinnt in allen Gruppen hinzu, besonders stark fallen die Zuwächse bei den jüngeren Männern aus.

 

Die AfD profitiert am stärksten von der gestiegenen Wahlbeteiligung. 78 Tsd. Stimmen kann sie aus dem Nichtwählerlager für sich gewinnen. Zusätzlich gewinnt sie 36 Tsd. ehemalige CDU-Wähler für sich. Auch von der Linken wechseln 16 Tsd. Wähler zur AfD sowie 7 Tsd. von der SPD. Lediglich Tausend ehemalige Grünen-Wähler stimmen jetzt für die AfD. Zwischen AfD und FDP halten sich die (sehr geringen) Wählerströme die Waage. Zusätzlich kann die AfD 13 Tsd. Wähler aus dem Lager der kleineren Parteien mobilisieren. Ob und in welchem Maße es sich hierbei um ehemalige Wähler der NPD handelt, kann nur spekuliert werden. Die deutlichen Verluste der NPD sowie Wahlerfolge der AfD in manchen früheren NPD-Hochburgen deuten jedoch darauf hin.

 

Wie schon bei anderen Wahlen gewinnt die AfD vor allem in den mittleren Altersgruppen hinzu und schneidet in diesen Gruppen auch am besten ab. Zusätzlich wird die AfD stärker von Männern als von Frauen gewählt. Der Unterschied beträgt rund 10 Prozentpunkte. Da die AfD bei Männern auch stärker hinzugewonnen hat als bei Frauen, hat sich die Differenz zwischen den Geschlechtern verstärkt.

 

Darüber hinaus kann die AfD bei Arbeitern deutlich hinzugewinnen und erzielt in dieser Gruppe auch ein überdurchschnittliches Wahlergebnis.

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