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Versöhnung nach der Diktatur?

Vortrag von Prof. Dr. Thomas Hoppe im Rahmen der Veranstaltung 'Vergeben, Vergessen, Vorbei? - Versöhnung nach der Diktatur?' am 8.9.2015 in Greifswald

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Versöhnung nach der Diktatur?

Vortrag von Prof. Dr. Thomas Hoppe (Hamburg) in Greifswald, 8. 9. 2015

Schon mehr als ein Vierteljahrhundert ist es her, dass es zur großen politischen Epochenwende in Europa kam, in deren Verlauf die Mauer fiel, die Berlin bald drei Jahrzehnte hindurch geteilt hatte. Doch noch immer suchen Menschen nach Antwort auf die als bedrängend empfundene Frage, wie dem standzuhalten wäre, was sich in ihrer Erinnerung beharrlich zurück meldet, allen Versuchen zum Trotz, sich durch eine entschlossene Wendung des Blickes „nach vorn“ hiervor zu bewahren. Mit wachsendem zeitlichem Abstand zu diesen Ereignissen rückt vielleicht manches Detail in diffuser werdende Erinnerungsschichten ein, dafür treten Schlüsselsituationen des Geschehenen und die großen Linien seiner Verläufe umso konturenschärfer ins Licht. Dass sie sich bis in die Gegenwart hinein auswirken, wird zu bestimmten Anlässen immer wieder spürbar, nicht nur an Erinnerungs- und Gedenktagen.

I.

Zahllose Menschen sind auf durchaus unterschiedliche Weise mit den Folgen kommunistischer Herrschaftspraxis konfrontiert. Über die gesamte Zeit von 1945 bis 1989 betrachtet, ist von ca. 200.000 bis 250.000 Personen auszugehen, die aus politischen Gründen inhaftiert wurden. Zigtausende Menschen haben zwar nicht Haft, aber andere Formen von Repression und Verfolgung erfahren. Zu ihnen gehören auch jene, die wegen ihrer gegenüber dem System kritischen Position Repressalien im beruflichen und privaten Bereich ausgesetzt und auf diese Weise planmäßig „zersetzt“ wurden, wie es im Sprachgebrauch des Ministeriums für Staatssicherheit hieß. Zu denken ist auch an viele Kinder und Jugendliche, die aus politischen Gründen ihren Eltern entrissen wurden und in Heimen und Jugendwerkhöfen zu leben gezwungen waren.1

Dabei ist charakteristisch, dass persönliche Leid-und Unrechtserfahrungen sich häufig aus individuellen Handlungen anderer Menschen im Kontext der systemisch vorgegebenen Strukturen ergaben. Im Blick auf die Betroffenheit durch solches Systemunrecht lässt sich grob die Dreiteilung in die „Rollen“ der hierin auf unterschiedlichen Ebenen Verantwortlichen („Täter“), der davon Betroffenen („Opfer“) und derer durchführen, die weder in die eine noch in die andere Situation gerieten. Über längere Zeiträume begegnen zudem persönliche Konstellationen, die sich nicht auf nur eine der angegebenen Kategorisierungen beziehen lassen; Biographien, in denen aus Tätern später Opfer werden, aber auch solche, in denen frühere Opfer sich zu Tätern wandelten, spiegeln sich in den Akten der Staatssicherheit der ehemaligen DDR, die die Tätigkeit der „Inoffiziellen Mitarbeiter“ dokumentieren, mehr als nur gelegentlich wider.

Die Opfer unmittelbarer staatlicher Repressionsmaßnahmen hatten ohne Zweifel das schwerste Schicksal zu ertragen. Doch berufliches Fortkommen und eine annähernd normale Lebensführung wurden auch für diejenigen vielfach unmöglich, denen Inhaftierung und Verurteilung zu langjährigen Gefängnisstrafen mit den hierfür charakteristischen Traumatisierungen erspart blieb. Selbst nach dem Ende der DDR ergaben sich daraus bleibende Benachteiligungen, die durch eine strafrechtliche Rehabilitierung und Versuche, mit Hilfe entsprechender Gesetze einen Teil des erlittenen Unrechts zu entschädigen, nicht ausgeglichen werden können2.

Überaus schmerzliche Wunden blieben aber auch bei manchen Menschen zurück, die die Staatsmacht zunächst nicht so sehr als ihnen feindliches Gegenüber erlebten, sondern in die Kooperation mit deren Organen ebenso systematisch wie schleichend verstrickt wurden. Die mehr oder minder starke Überzeugung, im Sinne einer guten Sache zu handeln, stand nicht selten am Beginn dieser Art von Zusammenarbeit; wurde später das Ausmaß deutlicher, in welchem man dadurch an systembedingtem Unrecht beteiligt wurde, gelang es jedoch meist nicht mehr, sich daraus ohne Weiteres zurückzuziehen. Wer aber realisiert, dass er sein Handeln ab einem bestimmten Punkt mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren kann, gerät dadurch in eine innere Situation, die ihn als moralisches Subjekt zu zerbrechen vermag. Wo Verdrängungsmechanismen nicht mehr weiterhelfen, kann es daher sehr schwer werden, mit einer solchen Situation auf Dauer zu leben. Gerade die Techniken der Verstrickung bedeuten damit einen besonders nachhaltig schädigenden „Angriff auf die Seele“. Dies gilt dann noch verstärkt, wenn nicht Erwachsene, sondern Kinder und Jugendliche im Fokus entsprechender Anwerbungsstrategien stehen3.

Der oft beklagenswerten Lage vieler Betroffener stehen manche Indifferenz auf Seiten derer, die in diese Rolle nicht gerieten, sowie die nicht selten anzutreffenden Rechtfertigungsstrategien der Verantwortlichen für das geschehene Systemunrecht gegenüber. Solche Strategien beruhen nur teilweise auf ideologischen Begründungsmustern. Vielmehr muss beunruhigen, in welchem Ausmaß ein Handeln, das zur Zerstörung einer Persönlichkeit geführt haben kann, als unter den obwaltenden Systemzwängen konsequent und unvermeidlich interpretiert und womöglich subjektiv tatsächlich so wahrgenommen wurde. Auf diese Weise lässt sich die Erfüllung der jeweiligen funktionalen Aufgabe im Systemzusammenhang mit der Überzeugung verbinden, persönlich keine unehrenhaften Motive gehabt und im Einzelfall vielleicht sogar manche Milderung ansonsten noch unerträglicherer Zustände bewirkt zu haben. Das Erschrecken über die Folgen eigenen Handelns wird auch dadurch gehemmt, dass die dafür Verantwortlichen den Betroffenen in den meisten Fällen nicht mehr begegnen. Täter-Opfer-Gespräche, also bewusst intendierte Zusammentreffen, sind bis heute überaus selten, und die meisten von ihnen scheitern erfahrungsgemäß.

II.

Wenigstens auf den ersten Blick unsichtbar scheint das Leid, das auf einer Gesellschaft lastet, in der Menschen zusammen leben müssen, die einander einst als von Unrecht Betroffene und als dafür Verantwortliche gegenüber standen. Dennoch bleibt es vielfach in eminenter Weise präsent und wirksam. Hierbei geht es nicht nur um die Folgen persönlich verantworteter Schuld im geläufigen Sinn des Wortes. Am Phänomen der Verstrickung wird vielmehr deutlich, wie sehr etlichen Handlungszusammenhängen, in denen Menschen sich vorfanden, tragische Züge zukommen. Der Versuch, im eigenen Handlungsrahmen Unrecht und Leid wenigstens zu mindern, konnte darauf hinauslaufen, auf andere Weise dem Unrecht aufzuhelfen, seine Wirksamkeit noch zu steigern. Erfahrungen von Ausweglosigkeit und Ohnmacht

prägen die Erinnerung unzähliger Menschen, zugleich damit ihr Lebensgefühl in der Gegenwart4.

Viele erinnern sich daran, gerade in moralischer Hinsicht nur allzu oft nicht als Subjekt eigener Entscheidungen respektiert, sondern auf subtile oder auf brachiale Weise fremdbestimmt worden zu sein. Diese Erinnerung an eine spezifische Form der Demütigung, die den Kern der eigenen Persönlichkeit antastete und der man weitgehend wehrlos gegenüber stand, wirkt wie ein Gift, das in der Seele nur sehr langsam abgebaut werden kann 5. Denn es zerstört im Innersten das Empfinden, als Person einen Wert und Eigenstand zu besitzen, der für Andere nicht verfügbar ist und durch sie nicht verletzt werden darf. Angesichts solcher Erfahrungen hat der israelische Philosoph Avishai Margalit gezeigt, dass der Grundsatz, dass Menschen nicht gedemütigt werden dürfen, den Ausgangspunkt jeder Ethik darstellt, die die menschliche Würde als systematisches Zentrum ihrer Argumentation ausweist 6. Denn vor dem Hintergrund der Kontrasterfahrung, was es heißt, gedemütigt zu werden, wird die Bedeutung des Topos Menschenwürde überhaupt erst verständlich. Menschen haben ein Recht darauf, weder durch ihre Mitmenschen noch durch die Institutionen einer

Gesellschaft gedemütigt zu werden oder ihnen auf andere Weise ausgeliefert zu sein.

Ein weiteres charakteristisches Merkmal der gegenwärtigen Situation liegt in der bleibenden Zäsur der Lebenswelten. Menschen, die zu Betroffenen von Systemunrecht wurden, empfinden sich als von jenen getrennt, die dieses verantworteten oder solches Handeln stillschweigend akzeptierten. Letzteren gelingt es meist, in und nach Wendezeiten in der unter neuen politischen Vorzeichen entstehenden gesellschaftlichen Realität wieder Fuß zu fassen. Nicht selten können sie sich erfolgreich darin etablieren, ja den Gang der weiteren Entwicklung womöglich maßgeblich mitbestimmen. Dadurch können erneut Verhältnisse entstehen, die ihren eigenen Interessenlagen und Präferenzen günstig sind. Denjenigen, die die Erfahrungen des Opfer-Seins in sich tragen, fällt dies ungleich schwerer. Nicht nur gelegentlich scheitern solche Versuche, nachdem sie wiederholt unternommen wurden. Menschen, die unter den Systembedingungen der Diktatur ausgegrenzt und verfolgt wurden, sehen sich vielfach auch unter gewandelten politischen Bedingungen wiederum marginalisiert und von der großen Mehrheit weitgehend isoliert. Dies schon deswegen, weil kaum jemand von ihren Erfahrungen und ihrer Lebenssituation Kenntnis nehmen will und sich in sie einfühlen kann, der diese nicht selbst in ähnlich leidvoller Weise erfahren hat. Nicht nur im psychologischen, sondern auch im soziologischen Sinn erscheint die Beobachtung berechtigt, dass die markierte Trennung der Lebenswelten nicht Fiktion, sondern schmerzhafte Realität ist.

Im Verhältnis derer, die hierfür verantwortlich sind, zu denen, die eine gewisse Distanz zur Tat, aber auch zu den von ihr Betroffenen hielten, sind Zäsuren vergleichbarer Art hingegen kaum spürbar. Dies mag ein Stück weit erklären, warum gerade in Transformationsgesellschaften oft ein ausgesprochener gesellschaftlicher Druck auf möglichst schnelle Reintegration der Belasteten in die jeweils neuen politischen Systemstrukturen wahrzunehmen ist. Dagegen fehlt es weitgehend an angemessenen Versuchen, die Lage der Opfer in ihrer ganzen Tragweite zur Kenntnis zu nehmen und wenigstens zu lindern.

III.

Schon bald nach 1989 wurde gefragt, ob es Wege gebe und welche dies seien, die sich verfestigende Gegenüberstellung zwischen solchen Gruppen in der Gesellschaft, die unter Systemunrecht zu leiden hatten, und denjenigen, denen dies erspart blieb, zu überwinden. In diesem Kontext war und ist auch heute oft die Rede von Versöhnung. Sie hat eine individuelle, aber auch eine gesellschaftliche und politische Dimension. Unter welchen Bedingungen kann sie gelingen, ist sie also etwas substanziell Anderes als eine besondere sprachliche Artikulation des Wunsches nach business as usual? Wie weit hält sie sich aber auch fern von jener Anmaßung, die das Gegenüber, dessen es in jedem Versöhnungshandeln bedarf, in die Situation moralischer Nötigung zu bringen versucht und genau dadurch die Chance auf tatsächliche Versöhnung verspielt?

Eine entscheidende, häufig jedoch fehlende Voraussetzung gerade für die individuelle Dimension von Versöhnungsprozessen liegt darin, dass ein Minimum an Vertrauen bestehen muss, dass die Suche danach überhaupt ernst gemeint ist. Versöhnung kann nur dort gelingen, wo das Bemühen darum nicht überlagert ist vom taktischen Kalkül, dadurch die eigene Position aufzuwerten und vor allem die Deutungshoheit über die Situation zurückzugewinnen. Sie setzt voraus, dass zuvor geschehenes Unrecht als solches festgestellt statt bestritten oder relativiert wird – und sie hat nur dort eine Chance auf Dauerhaftigkeit, wo nicht schon der Keim neuen Unrechts mitgesät wird. Aber wie soll jemand, in dessen Seele sich Erfahrungen permanenter Würdeverletzungen und Demütigungen tief eingebrannt haben, solches Vertrauen in das Gegenüber aufbringen, dessen Handeln diese Erfahrungen bewirkt hat?

Eine besondere Form der Tragik begegnet dort, wo ein Mensch aufgrund womöglich wiederholter traumatischer Erfahrungen sein Vertrauen in Welt und Menschen in grundlegender Weise verloren hat. Denn unter dieser Voraussetzung kann es kaum gelingen, eine neue Beziehung nicht nur zwischen den an der konkreten Situation Beteiligten, sondern zu anderen Menschen überhaupt zu begründen, so sehr gerade das traumatisierte Opfer sich dies auch wünschen mag. Die Angst, sich möglicherweise erneut einem Anderen ausgeliefert zu sehen, ist letztlich stärker als der sehnliche Wunsch, im eigenen Leben dort wieder anknüpfen zu können, wo man sich befand, bevor die traumatische Sequenz der eigenen Leidenserfahrungen begann. Diese Angst und den Umgang mit ihr als Unversöhnlichkeit zu beschreiben und somit in einen moralischen Vorwurf gegen die Opfer zu wenden, zeigt nur, wie wenig von dem verstanden wurde, was sich in ihnen wirklich abspielt.

Daran wird deutlich: Versöhnung und Vergebung sind dort, wo sie existenziellen Ernst gewinnen, gerade nicht einklagbar wie moralische oder rechtliche Pflichten. Denn sie hängen von Voraussetzungen ab, die durch Willensakte allein nicht herstellbar sind. Aus der Psychotraumatologie ist zudem bekannt, dass die Heilungschancen von traumatisierten Menschen wesentlich davon abhängen, ob die traumatisierende Situation verlässlich in der Vergangenheit liegt oder aber ob man weiterhin Gründe hat, ihre Wiederkehr zu befürchten. Angesichts der gegenwärtig feststellbaren, ja offenbar zunehmenden Gefahr, die von Seiten antidemokratischer Politikmuster droht, kann es hier durchaus unterschiedliche Einschätzungen geben.

In dieser Situation dürfte es deshalb am wichtigsten sein, den Betroffenen dabei zu helfen, dass sie mit den Beschädigungen weiterleben können, die die unversöhnte Situation in ihnen angerichtet hat. Solches Bemühen müsste für alle, die für den Umgang mit belasteter Vergangenheit eine Mitverantwortung empfinden, an erster Stelle stehen. Gewiss ist zu hoffen, dass sich darüber hinaus in möglichst vielen Fällen Wege eröffnen, zu Vergebung und Aussöhnung zu gelangen. Doch nur weniges scheint hier im Sinn planbarer Schritte möglich zu sein. Die (wechselseitige) Kraft dazu, nicht aufzugeben, ist in diesem Prozess oft wichtiger als fast alles Übrige. Jeder Versuch, Aussöhnung vorzeitig zu erzwingen, läuft deswegen Gefahr, sie zu stören oder ganz zu vereiteln.

Vor der Möglichkeit, zu vergeben und sich zu versöhnen, steht die Notwendigkeit der Trauerarbeit, für Betroffene wie für Verantwortliche. Es bedarf längerer Zeit, damit Trauer in die Fähigkeit verwandelt werden kann, zu vergeben; noch mehr gilt dies für die Bereitschaft, sich auf Schritte zur Aussöhnung einzulassen. Denn dazu ist es notwendig, dass sich die Beteiligten gemeinsam erinnern und zusammen den Gründen dafür nachgehen, dass eine versöhnungsbedürftige Situation zwischen ihnen steht. Der Frage nach der Wahrheit entrinnt man nicht; ein Opfer politischer Verfolgung fasste sie in die eindringlichen Worte: „Ich kann nur vergeben, was ich weiß“ 7.

Doch auch die dafür Verantwortlichen bedürfen der Konfrontation mit den tatsächlichen Geschehnissen und ihren Folgen, um Verdrängung und ideologische Verblendungen durchbrechen zu können, die ihnen das Verwerfliche ihres einstigen Tuns verbergen. Ihre innere Wandlung dürfte wesentlich davon abhängen, wie weit sie ihre eigene ehemalige Rolle zu betrauern imstande sind. Die Kategorie der persönlichen Verantwortlichkeit erschließt sich wohl erst in dem Augenblick in ihrem vollen Gewicht, in dem es zugleich möglich wird, sich ihr anders zu stellen als im Modus der Verharmlosung und Verdrängung. Dann aber wird es auch möglich, sich von Handlungsweisen zu distanzieren, die man bislang hartnäckig zu verteidigen suchte. So kann die Fähigkeit, Geschehenes zu betrauern, eine befreiende Erfahrung werden.

Zeichen von Vergebungsbereitschaft seitens der vom geschehenen Unrecht Betroffenen können dabei von großer Bedeutung sein. Doch oft liegt hier ein Dilemma, solange sich diese aus den eben dargelegten Gründen dazu nicht imstande sehen. Deswegen erweist sich die oft gestellte Frage: „Wer muss bereit sein zum ersten Schritt?“ als eher verfehlt; sie müsste vielmehr lauten: „Wer ist dazu imstande, und wie kann man ihr oder ihm dazu helfen?“ Und wie steht es um den zweiten Schritt, nachdem der erste voller Kraftanstrengung gegangen wurde? Alle Vergebungsbereitschaft läuft ins Leere, wo die Vergebung nicht angenommen wird. Auch für Prozesse der Aussöhnung bedarf es deswegen geschützter Räume, in denen das Risiko tragbar wird, sich darauf einzulassen – für alle Beteiligten.

IV.

Individuelle Bemühungen stehen zugleich im Kontext der gesellschaftlichen und politischen Dimension von Versöhnungshandeln. Hier kommt dem Ringen um eine authentische Erinnerung an das Geschehene und dem Streben nach Linderung der Folgen erlittenen Unrechts herausragende Bedeutung zu. Sie dürfen jedoch nicht von der Frage nach gelingender oder bis auf weiteres misslingender Versöhnung abhängig gemacht und auf diese Weise relativiert werden. Vielmehr haben solche Bemühungen einen unverzichtbaren Eigenwert, unabhängig von ihren Auswirkungen auf das Versöhnungsprojekt selbst.

Die Arbeit daran, im gesellschaftlichen Diskurs zu authentischem, also nicht selektivem und damit verfälschendem Erinnern vorzudringen, beugt zum einen späterer Legendenbildung vor. Gerade im Hinblick auf die nach 1990 Geborenen ist es wichtig, über die Zeit der DDR so differenzierend und sorgfältig wie möglich zu informieren. Wenn sich stattdessen Zerrbilder in den Köpfen einnisten, tut man schnell Menschen Unrecht, die in dieser Zeit leben und handeln mussten. Authentisches Erinnern ist aber darüber hinaus ein unverzichtbarer Beitrag dazu, ein Stück Gerechtigkeit für die Betroffenen von Unrechtsstrukturen und -handlungen zu schaffen, das ihre verletzte Würde wieder aufrichten kann: indem verhindert wird, dass die Verursachungsfaktoren und Verantwortlichkeiten für das ihnen zugefügte Leid auch nach Überwindung dieser Strukturen dem kollektiven Vergessen anheim fallen. Dadurch, dass unterschiedliche, ja gegensätzliche Erinnerungen verbindungslos nebeneinander und gegeneinander gestellt werden, wird die Spaltung einer Gesellschaft hingegen vertieft und werden die Chancen für Versöhnungsprozesse in ihr immer geringer.

Wiederherstellende Gerechtigkeit 8 schließt ein, die Möglichkeiten individueller Rehabilitierungen und Entschädigungen zu verbessern. Denn noch immer stehen, wie berichtet wird, viele Betroffene vor für sie fast unüberwindlichen Hürden bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche. Sie sehen sich oft nicht in der Lage, der Belastung durch wiederholte Befragungen standzuhalten, die aus der Schwierigkeit einer Beweisführung für Gesundheitsschäden resultieren, die durch politische Verfolgung ausgelöst wurden. Ein Fortschritt liegt darin, dass es mit der fünften Novellierung der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze möglich wurde, bei der Erstellung von Gutachten nur noch auf zertifizierte Fachleute zurückzugreifen – also auf Personen, die hinreichend Kenntnis von den politischen Verhältnissen haben, unter denen die Antragsteller lebten, und entsprechende Erfahrung mit den Besonderheiten der durch Verfolgung verursachten Traumatisierungen.9

Darüber hinaus jedoch gilt es, die Lebenssituation der Betroffenen von Systemunrecht zu verändern. Sie müssen aus der sozialen Isolation, unter der sie oft leiden, befreit und aktiv in den Prozess der gesellschaftlichen Aufarbeitung einbezogen werden. Dies ist möglich etwa durch Zeitzeugengespräche in Gedenkstätten, Schulen und Hochschulen. Denn nicht zuletzt wird die Wahrnehmung, isoliert zu sein, dadurch verstärkt, dass es den Betroffenen unmöglich ist, über das von ihnen Erlittene zu sprechen – sei es, weil die Tiefe der eigenen Verletzungen dies verwehrt, sei es, weil die lebensweltlichen Plausibilitäten der Gegenwart hierfür keinen Ort mehr zu bieten scheinen. Menschen, die sich für Formen der Zeitzeugenschaft zur Verfügung stellen, berichten dagegen oft, dass sie ihre Tätigkeit auch als einen Weg erfahren, mit ihrem Wissen um die Realität abgründiger Dimensionen des Menschseins weiterleben zu können.

Vor allem jedoch zeigt sich auf der Seite der Teilnehmenden an solchen Zeitzeugengesprächen immer wieder, wie tief sie diese Begegnungen beeindrucken. Denn sie erfahren in ihnen Dimensionen des Geschehenen, die durch andere mediale Formen der Erinnerungsarbeit nur unzureichend zur Darstellung kommen können. Die moderne Gedenkstättenpädagogik hat daraus bereits Konsequenzen gezogen. Nahezu in jeder Ausstellung findet man heute das Angebot, Interviewauszüge mit Menschen anzuhören, die über ihre damalige Lebens- und Erlebnissituation berichten. Oft sind sie wertvolle Ergänzungen dessen, was man aus Schautafeln oder Kommentartexten entnehmen kann.

Eine weitere, in ihrer Bedeutung häufig unterschätzte Möglichkeit, die verletzte Würde von Betroffenen wieder aufzurichten, besteht darin, niedrigschwellig konzipierte psychosoziale Hilfsangebote bereitzuhalten. Es herrscht ein großes Missverhältnis zwischen dem erkennbaren Bedarf an solcher Hilfe einerseits und den dafür bereitgestellten personellen und finanziellen Ressourcen andererseits. Sie müsste dem Grundsatz folgen, den Betroffenen geschützte Räume und Wege zu eröffnen, auf denen sie das Gefängnis ihrer Erinnerungen ein Stück weit aufsprengen können 10. So soll es ihnen möglich werden, trotz der erlittenen Schädigungen Formen der alltagspraktischen Lebensbewältigung zu entdecken und die dazu notwendigen Kraftressourcen in sich zu erschließen. Es geht dabei nicht um die illusionäre Absicht, die seelischen Verwundungen umfassend zu heilen; das Ziel besteht darin, zu der Wahrnehmung zu gelangen: „Ja, ich war ein Opfer, aber letztlich haben mich die Verfolger nicht besiegt. Es ist Vergangenheit, ich habe noch ein Leben danach.“11

Zugleich zeigen Erfahrungen aus Transformationsprozessen auch außerhalb Deutschlands und Europas in jüngster Zeit, dass die Reichweite solcher Hilfsmöglichkeiten entscheidend davon abhängt, ob sie in einem “aufarbeitungsfreundlichen” gesellschaftlichen Klima bereit gestellt werden. Nur dann kann das Vertrauen darauf wachsen, dass die in der Transformationsperiode angestoßenen Prozesse eine Chance auf Stabilität und Dauerhaftigkeit erhalten. Dazu gehört nicht zuletzt, dass gerade die moralischen Bedeutungsgehalte dieser Neuorientierung im Alltag thematisch werden. Dies ist etwa durch methodisch wie didaktisch sorgfältig konzipierte Publikationen möglich, die breiten Leserkreisen zugänglich sind, und überhaupt die angemessene Behandlung dieser Problematik im Bereich von Erziehung und Bildung. Auch die fortdauernde Bedeutung der bereits erwähnten Gedenkstättenarbeit erschließt sich aus diesem Kontext öffentlicher Verantwortungsübernahme für den Umgang mit den Folgen, die aus repressiven Herrschaftsstrukturen erwachsen sind.

Insgesamt können alle diese Bemühungen dazu beitragen, dass eine fatale Historisierung von individuellen wie kollektiven Unrechtserfahrungen vermieden wird. Denn das, was zwar zeitlich immer weiter zurückliegt, ist doch in politisch-moralischer Hinsicht längst nicht Vergangenheit. Wie sehr es die sozialen und politischen Verhältnisse in der Gegenwart prägt, ist freilich denjenigen, die die zurückliegende Epoche selbst miterlebt haben, auf ganz andere Weise bewusst als der erst später geborenen Generation. Historisch betrachtet ist die zeitliche Distanz, die uns von den Ereignissen der Friedlichen Revolution und der Jahre davor trennt, eher kurz. Innerhalb wie außerhalb Europas beginnen viele Diskurse, in denen belastende Erinnerungen an eine belastete Epoche zum Thema werden, überhaupt erst nach einer solchen Periode, in der wachsender Abstand zum unmittelbaren Erleben das Erinnerte erträglicher gemacht hat.

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Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen gewinnt die Rede von Versöhnung im politischen Kontext eine gegenüber dem herkömmlichen Verständnis unterschiedliche Bedeutung: Versöhnung erscheint so nicht als ein einmaliger Akt, sondern als mögliches und zu erhoffendes Ergebnis eines längerfristigen gesellschaftlichen Prozesses, eines Ringens um eine angemessene Auseinandersetzung mit erfahrenem Systemunrecht, dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart hineinreichen. Zugleich wird an den anspruchsvollen Voraussetzungen dieses Prozesses deutlich, dass sein Ziel sich nur erreichen lässt, wenn es gleichermaßen engagiert und mit Beharrungsvermögen verfolgt wird – auch machtvollen Gegenströmungen und dem hiermit verbundenen Kampf um die Deutungshoheit hinsichtlich der Inhalte der kollektiven Erinnerung zum Trotz. Mein Wunsch lautet, dass es viele sind, denen sich die Bedeutung dieser Bemühungen erschließt und die, zusammen mit anderen, die Kraft finden, Wege solcher Versöhnungsarbeit zu suchen und sie zu beschreiten.

1 Vgl. Anna Kaminsky, Gesellschaftlich-politische Aufarbeitung von Systemunrecht und ihre Bedeutung für die Traumatherapie, in: Institut für Diktatur-Folgen-Beratung (Hg.), Die Auswirkung von Traumatisierung durch politische Verfolgung in der DDR, Schwerin 2015, 5967, hier 59.

2 Vgl. ebd., 61ff.

3 Vgl. etwa Klaus Behnke/Jürgen Wolf (Hg.), Stasi auf dem Schulhof. Der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch das Ministerium für Staatssicherheit, Berlin 1998.

4 Eindrucksvoll beschrieben werden diese Zusammenhänge bei Lothar de Maizière, Zwischen Anpassung und Verweigerung. Konsequenzen aus dem Leben in einem totalitären Staat, in: Kirchliche Zeitgeschichte 4 (1991) H.2, 412-422.

5 Ein Beispiel hierfür gibt Doris Denis, Kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung psychischer Folgestörungen nach politischer Inhaftierung in der DDR, in: Stefan TrobischLütge/Karl-Heinz Bomberg (Hg.), Verborgene Wunden. Spätfolgen politischer Traumatisierung in der DDR und ihre transgenerationale Weitergabe, Gießen 2015, 301-320, hier 302: „Bespitzelungen – auch durch Arbeitskollegen, Freunde und Angehörige – haben das Ausnutzen persönlicher Verletzlichkeiten ermöglicht und begründen bei den Betroffenen auch heute noch ein tiefes Misstrauen und das Unvermögen, sich anderen Menschen anzuvertrauen. Nicht zuletzt wurde auch die ärztliche Schweigepflicht nicht immer eingehalten und Vertraulichkeiten aus medizinischen Behandlungen an die Staatssicherheit weitergegeben.“

6 Vgl. Avishai Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Berlin 1997, sowie kürzlich Peter Bieri, Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, München 2013.

7 Aus einem persönlichen Gespräch mit dem Verfasser. In ähnlicher Weise formulierte Polens Ministerpräsident Jan Olszewski im Dezember 1991: „Wenn wir vergeben sollen, so wollen wir wissen, welche Schuld und wem wir vergeben“ (zit. nach: Sabine Grabowski, Vom „dicken Strich“ zur „Durchleuchtung“. Ansätze der Vergangenheitsbewältigung in Polen, in: Osteuropa 48 (1998) H.10, 1015-1023, hier 1017.

8 Das Konzept der restaurative justice spielte eine Schlüsselrolle in dem Projekt des anglikanischen Erzbischofs von Kapstadt, Desmond Tutu, nach dem Ende des südafrikanischen Apartheid-Regimes durch die Errichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission) einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Gesellschaft nicht auf Dauer in Verantwortliche für politische Verbrechen und deren Nutznießer auf der einen, in Opfer des Apartheid-Regimes und ihre Hinterbliebenen andererseits gespalten bleiben sollte. Zehn Jahre nach dem Ende dieses Prozesses nahm er zu dessen Ergebnissen kritisch Stellung, vor allem wegen der Weigerung vieler Täter, zu ihren Taten zu stehen und auf die Opfer zuzugehen, die bis in die Gegenwart hinein unter deren Folgen leiden.

9 Vgl. Kaminsky (Anm. 1) 65. Die Situation stellt sich bis heute allerdings von Region zu Region unterschiedlich dar, vgl. Ruth Ebbinghaus, Probleme in der aktuellen Begutachtungspraxis psychischer Traumafolgestörungen, in: Trobisch-Lütge/Bomberg (Hg.) (Anm. 5), 321-338, hier 325: „Es bestehen … nach wie vor sowohl deutliche Unterschiede in der Qualifikation der Gutachter als auch in der Durchführung und Abfassung der Gutachten. Daraus resultieren erhebliche Qualitätsunterschiede sowie zum Teil sehr gegenteilige Beurteilungen der Gutachter, woraus sich wiederum Probleme für die Entscheidungsprozesse der Richter ergeben, verbunden mit lang andauernden Gerichtsverfahren mit immer neuen Begutachtungen über mehrere Instanzen, hohen Kosten und nicht zuletzt erheblichen psychischen Belastungen für die Betroffenen.“

10 Vgl. Norbert Peikert, Psychosoziale Beratung für Betroffene von Systemunrecht und Gewaltherrschaft, in: Evangelische Theologie 70 (2010) 145-150; Thomas Hoppe, Psychosoziale Beratung für Betroffene von Systemunrecht in der ehemaligen DDR, in: ebd., 151-158.

11 Norbert F. Gurris, Interview, veröffentlicht im 4. Tätigkeitsbericht der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt, Magdeburg 1998, 108-114, hier 113.

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