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Veranstaltungsberichte

Warum sind wir, wie wir sind? Zur kulturellen Prägung durch den Sozialraum DDR

Ringvorlesung: Wie schmeckte die DDR?

Verklärung und Verachtung der DDR sind für den Psychoanalytiker Prof. Dr. Hans-Joachim Maaz Abwehrformen gegen eine differenzierte und kritische Bewertung des eigenen Versagens oder der persönlichen Erfolge, die im vereinten Deutschland wenig gelten.

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Eine ehrliche Analyse der eigenen Entwicklung wäre für Maaz aber die wichtigste Voraussetzung für die notwendige kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart, um Fehlentwicklungen nicht zu wiederholen oder um auch nicht in das Fehlverhalten westdeutscher Sozialisation nur überzulaufen.

Maaz, der Chefarzt des Diakoniekrankenhauses in Halle ist, war Gastredner der Ringvorlesung „Wie schmeckte die DDR“. In seinem Vortrag ging er der Frage nach, „Warum wir sind, wie wir sind“.

Für Maaz geschieht die entscheidende Prägung des Menschen in den ersten Lebensjahren. Wir können im Ergebnis der Säuglingsforschung und der Neurobiologie nicht mehr davon ausgehen, dass das Kind nur ein „Objekt der Erziehung“ sei, dem das „richtige“ Leben beigebracht werden müsse, sondern es ist von Anfang an ein „Subjekt“ von Beziehung. Damit ist die Qualität der ersten Beziehungserfahrungen mit Mutter und Vater von prägender Bedeutung. So stehen mütterliche und väterliche Fähigkeiten der Eltern auf dem Prüfstand. Es lassen sich Mütterlichkeits- und Väterlichkeitsstörungen klassifizieren, die spezifische Entwicklungsstörungen bei Kindern bewirken.

„Kinderstube“ entscheidet über die Zukunft der Gesellschaft

Im Streit um die Betreuung von Kindern dürfen nicht Fragen der Kosten und der Berufstätigkeit der Eltern in den Vordergrund gestellt werden, sondern die Bedürfnisse des Kindes. Die „Kinderstube“ entscheidet praktisch über die Zukunft der Gesellschaft. Und aus der Sicht des Kindes geht es darum, zuverlässig versorgt zu werden durch eine sicher anwesende Bezugsperson und auch in den eigenen Bedürfnissen und Befindlichkeiten verstanden und ausreichend gut befriedigt zu werden. Präsenz, Empathie, Befriedigungsfähigkeit, Bestätigung und Schutz sind notwendige Beziehungsfunktionen der Eltern, um den Bedürfnissen des Kindes gerecht werden zu können. Ein Kind will gewollt und geliebt sein und sich nach seinen Möglichkeiten unter Akzeptanz von Begrenzungen entwickeln dürfen.

Jede Gesellschaft konstituiert sich aus dem Zusammenspiel politisch-ökonomischer Faktoren und dem Verhalten der Menschen, das aus ihren Entwicklungsbedingungen resultiert. Wir haben verstehen gelernt, dass soziale Faktoren einen großen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung und auf das Wohlbefinden der Bürger und Bürgerinnen nehmen, also auch über Gesundheit und Krankheit wesentlich mitbestimmen. Was aber weniger bekannt ist, dass durch soziale Einflüsse entsprechend geprägte Menschen auch wesentlichen Anteil an der Ausgestaltung der Strukturen einer Gesellschaft haben. Ein demokratisches Gesellschaftssystem kann auf Dauer nur bestehen, wenn die Menschen zu demokratischem Verhalten auch individuell in der Lage sind und das ist vor allem eine Frage innerseelischer Funktionen, wie man im Selbstwert bestätigt ist, damit man auch eigene Fehler, Schwächen und Begrenzungen sehen und akzeptieren kann und deshalb auch tolerant gegenüber Andersdenkenden bleiben kann. Für pathologische Gesellschaftsstrukturen formuliert: es gäbe keine Kriege, keinen Völkermord, keinen Unrechtsstaat und keine Umweltzerstörung, wenn nicht die Mehrheit einer Bevölkerung daran beteiligt oder sogar am destruktiven Agieren interessiert wäre. Das klingt nahezu absurd, ist aber eine bittere Realität, weil Menschen mit ihren frühen Erfahrungen – meist unbewusst – ihre Gegenwart und Zukunft ausgestalten. So wie sie als Kind gesehen und behandelt worden sind, so sehen sie später die Welt und so gestalten sie ihre Beziehungen – entweder in der Fortsetzung und Wiederholung früher Beziehungsstörungen oder auch im betonten Gegensatz dazu, was aber nur eine gegenabhängige Form seelischer Unfreiheit ist. Ein späterer „Täter“ ist ein früheres „Opfer“ gewesen.

Autoritär-repressives Gesellschaftssystem

Auf die Verhältnisse in der DDR angewendet, können wir das Gesellschaftssystem als autoritär-repressiv mit vielfachem Mangel (wirtschaftlich, aber auch psychologisch hinsichtlich Toleranz und Freiheit) einschätzen mit einer psychosozial durch Belohnung und Strafe wirksamen Anpassungs-Nötigung. Diese Strukturen müssen im Wechselspiel politisch-ideologischer und Erziehungsfaktoren gesehen werden. Die Sozialisation wurde durch spezifische Mütterlichkeits- und Väterlichkeitsstörungen umgesetzt. Repressive Erziehung mit Einschüchterung und Unterdrückung („Vaterterror“), Mangelerfahrungen an Beziehung und Liebe durch eine zu frühe Trennung von Mutter und Kind („Muttermangel“) und eine Selbstentfremdung durch ideologisch geprägte Unterwerfung und Anpassung an Fremd-Erwartungen („Muttervergiftung“) hatten entsprechende entwicklungspsychologische Auswirkungen. Auf der einen Seite waren dadurch soziale Absicherung durch basale materielle Versorgung mit Arbeit, Wohnung und Nahrung gesichert, auf der anderen Seite aber um den Preis des Verlustes an Freiheit, Autonomie und Individuation.

DDR war auch süß und salzig

Das ist die bittere und saure Seite des Geschmackes an DDR. Es gibt aber auch eine süße und salzige Seite. Das Liebenswerte erwuchs aus der Enge und Not. Man war aufeinander angewiesen: So lebten die privaten Beziehungen von Vertrauen und Vertrautheit, von Hilfe und Solidarität, durch gemeinsames Klagen und Protestieren, auch im Widerstehen und sich ermutigen. Die Alltagskultur war vielfach kreativ, einfallsreich, kommunikativ, hilfsbereit, gemeinschaftlich und subversiv. Etwas zu improvisieren, zu tauschen, zu handeln, zu borgen, den Mangel zu kultivieren, das war spannendes, aktives, liebenswertes Leben.

So wurde „Muttermangel“ in der hilfreichen Gemeinschaft und in der Tausch-Kultur der Mangelwirtschaft ausgeglichen und dem „Vaterterror“ entzogen sich viele im subversiven Doppelleben mit Kritik am System, mit Humor, mit privaten Lebensformen, wobei Literatur, Kunst und Westfernsehen eine wichtige Rolle spielten. Gerade darin lag der „salzige“ Geschmack der DDR: subversiv, alternativ, privat, Nischen-Kultur.

Im Mangel, etwas zu erwirtschaften, in der Repression etwas zu wagen, im Kollektiv individuell zu reagieren, der verordneten Lebensweise zu entkommen, der Gehirnwäsche eigene Gedanken entgegenzusetzen, der Unterwerfung sich zu entziehen, dem Verrat zu widerstehen und sich in der äußerlichen Enge innerlich gut bewegen zu lernen – sind großartige Erfahrungen, sind das Salz eines sonst grauen Lebens.

So kann man DDR mit aller Bitterkeit als Unrechtsstaat, als säuerliches Mangelsystem, mit der liebenswerten Süße einer hilfreichen Beziehungskultur und einer salzigen Brise mutiger Herausforderung charakterisieren.

Die Ost-Identität besteht aus einer unterschiedlichen Mischung dieser „Geschmacks-Qualitäten“. Mit der Wende haben viele ihre Ost-Identität und vor allem die dazugehörigen Sozialisationsbedingungen verleugnet, abgewehrt und versucht, sich nur an neue Verhältnisse anzupassen: mit der Anpassungs- und Versorgungsmentalität auch den versprochenen Wohlstand bekommen zu können. Der langsame Zusammenbruch dieser Illusion, dazu der Verlust alter Sicherheiten, die Entwertung der bisherigen Identität führten bei vielen zur Ernüchterung und Enttäuschung, aber leider zumeist nicht zur Erkenntnis der eigenen Fehleinschätzung, weshalb eine psychosoziale Reifung nicht erreicht werden kann. Im Moment herrschen besonders saure Erinnerungen („Verteufelung“ des ganzen Systems) oder sehr versüßte Einschätzungen (Idealisierungen) des Lebens in der DDR.

Tipp: Die Konrad-Adenauer-Stiftung wird Ende des Jahres 2008 mit einer Online-Wissensplattform unter www.DDR-Mythen.de auf die beschriebene Problematik reagieren.

In dieser Reihe sind bisher erschienen:

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