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Veranstaltungsberichte

NATIONALISMUS IN DER EUROPÄISCHEN UNION

von Dr. Wilhelm Hofmeister, Martin Friedek

Bericht zum European Roundtable 2018

Vom 1. bis zum 3. Juni 2018 veranstaltete das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung für Spanien und Portugal in Barcelona seinen jährlichen European Roundtable zum Thema "Nationalismus in der Europäischen Union". Die Teilnehmer waren Politiker, Wissenschaftler, Politikberater und Journalisten aus 11 europäischen Ländern. Im Folgenden werden die wichtigsten Punkte der Diskussion zusammenfassend präsentiert.

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ERT 2018

Nationalismus in der Europäischen Union - European Roundtable 2018 des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer Stiftung in Spanien

Vom 1. bis zum 3. Juni 2018 veranstaltete das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung für Spanien und Portugal in Barcelona seinen jährlichen European Roundtable zum Thema "Nationalismus in der Europäischen Union". Die Teilnehmer waren Politiker, Wissenschaftler, Politikberater und Journalisten aus 11 europäischen Ländern. Im Folgenden werden die wichtigsten Punkte der Diskussion zusammenfassend präsentiert.

Der Nationalismus ist zurück in Europa. Nicht nur in Ungarn oder Polen, sondern auch in Ländern wie Frankreich, Großbritannien, Italien, Grie-chenland und auch in Deutschland sind in den letzten Jahren nationalistische und populistische Bewegungen aufgekommen und erstarkt. Besondere Aufmerksamkeit erreichten neben der Front National in Frankreich und der Lega in Italien die sezessionistische Bewegung der Nationalisten in Katalonien, der Einzug der Alternative für Deutschland in den Deutschen Bundestag oder die umstrittenen Rechtsreformen in Polen, die von der EU-Kommission sogar als Bruch von rechtsstaatlichen Normen bezeichnet wurden.

Während des European Roundtable wurden Antworten auf die Fragen gesucht, was den neuen Nationalismus in Europa ausmacht, ob er eine Bedrohung für die EU darstellt, wie die EU und die EU-Mitgliedstaaten auf diese Tendenz reagieren sollten, was Volksparteien gegen Nationalismus und Populismus unternehmen können, und wie die Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 dazu beitragen können, die europäische Identität zu stärken.

Die Rückkehr des Nationalismus

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre be-stand in Europa und anderen westlichen Ländern eine breite Überein-stimmung bei Politikern, Wissenschaftlern und Medien über das bevorstehende Ende des Nationalismus. Diese Erwartung einer „postnationalen Politik“ wurde auch von so unterschiedliche Autoren wie Francis Fukuyama und Jürgen Habermas geteilt. Allerdings war der Abgesang auf den Nationalismus verfrüht, nicht zuletzt aufgrund eines irrtümlichen Verständnisses von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen und auch des Begriffs des Nationalismus.

Die aktuellen Diskussionen über die Rückkehr des Nationalismus zeigen, dass es eine eindeutige Definition dessen, was Nationalismus ist, nicht gibt. Auf keinen Fall folgt Nationalismus quasi zwangsläufig aus der Existenz von Nationen. Nationen haben sich entwickelt und bestanden, ohne dass es den Nationalismus als Doktrin oder politisches Phänomen gab. In der Vergangenheit und auch in der Gegenwart kommen viele Nationen ohne die Antriebskraft des Nationalismus aus.

Allein in den letzten Jahrzehnten seit Ende des Kalten Krieges lassen sich in Europa viele unterschiedliche Strömungen des Nationalismus beobachten. Nachdem in den ehemaligen Mitgliedstaaten der Sowjetunion in Mittel- und Osteuropa in den 1980er und 1990er Jahren die Abwendung vom politischen Machtzentrum Moskau im Mittelpunkt stand - wobei diese Länder ja zum Ende des Kalten Krieges standardmäßig unabhängig wurden - ist seither eine wachsende Bedeutung von nationalistischen Doktrinen in Mittel- und Osteuropa festzustellen. Gleiches gilt für die Nachfolgestaaten Jugoslawiens, die schon in den 1990er Jahren durch nationalistische Bewegungen in den Krieg getrieben wurden und wo noch heute starke nationalistische Gefühle an der Tagesordnung sind.

In Westeuropa dagegen dominieren zwei unterschiedliche Formen des Nationalismus. Einerseits gibt es in einigen Regionen, beispielsweise im Baskenland, in Katalonien, in Flandern, in Schottland, in Korsika und in der Lombardei, regionalistische Kräfte, die sich von den Nationalstaaten, denen diese Regionen angehören, abspalten wollen. Sie charakterisieren sich durch ihre Exklusions- und Abgrenzungsbestrebungen als nationalistische Bewegungen, die durch vermehrte Autonomie weitere zusätzliche Privilegien und Finanzmittel für ihre Region sichern wollen. Sie sind nicht notwendigerweise - oder nur in einzelnen Fällen - gleichzeitig auch populistisch. Diese Bewegungen wenden sich nicht gegen die regionalen Eliten, sondern werden zum Teil sogar von ihnen angeführt. Zumindest einige dieser nationalistischen Bewegungen sind in allen Belangen einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Demokratie verpflichtet (z.B. die Scottish National Party).

Andererseits aber existieren in Westeuropa auch nationalistisch-populistische Strömungen, die Prinzipien und Werte einer freiheitlichen Demokratie in Frage stellen. Die Parteien oder Bewegungen, die diese Richtung des Nationalismus repräsentieren, konstruieren eine idealisierte vermeintliche Identität des Staates und des Staatsvolkes. Dabei definieren ihre Anführer genau, wer zu diesem vermeintlichen Volk dazugehört bzw. dazugehören darf oder muss, und wer nicht. Allen Andersdenkenden und weiteren Mitgliedern der Gesellschaft wird das Recht auf Meinungsäußerung, Partizipation und Rechtsschutz abgesprochen. Diese nationalistischen Bewegungen sind daher anti-pluralistisch. Mobilisiert wird die vermeintlich "legitime Volksgemeinschaft" meist über Kritik an den "herrschenden Eliten". Die Infragestellung grundlegender Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaats aber – wozu u.a. der Respekt gegenüber Minderheiten, aber auch die europäischen Verpflichtungen als EU-Mitgliedsland gehören – weist diese nationalistischen Bewegungen gleichzeitig als populistisch aus. Zu den nationalistisch-populistischen Parteien in Europa gehören u.a. die Freiheitliche Partei Österreich, die Freiheits-partei der Niederlande, die Nationale Front Frankreichs oder die Alternative für Deutschland.

Zur Kennzeichnung des neuen Nationalismus in Europa

Um festzustellen, inwiefern diese Tendenzen gegenwärtig die demokratische Qualität des politischen Systems der Europäischen Union tatsächlich bedroht, empfiehlt sich ein historischer Vergleich zum Nationalismus der Zwischenkriegszeit 1918-1939. Dabei fällt auf, dass die heutigen Bewegungen bisher die Anwendung von Gewalt nicht glorifiziert haben und auch keinen Rückhalt im Militär genießen. Waren die Nationalisten in der Zwischenkriegszeit offen antidemokratisch, so zeigen sie sich heute weitaus pragmatischer, manche nehmen für sich sogar in Anspruch, die Demokratie gegen konspirative fremde Kräfte verteidigen zu wollen. War der Nationalstaat und dessen vermeintliche Expansionsmöglichkeit im 19. Jahrhundert noch ein neues Phänomen, so geht die nationalistische Diskurslinie heute entlang von innergesellschaftlichen Spaltungen, vor allem den Einkommens- und Bildungsunterschieden und Migrationsthemen. Im 19. Jahrhundert wurden die nationalistischen Wogen von den jungen Generationen getragen, die den größten Bevölkerungsanteil stellten. Heute sind es die bevölkerungsstarken Älteren, die gegenüber der EU und der Globalisierung Skepsis an den Tag legen. Bei der Brexit-Abstimmung stimmte die Mehrzahl der Jungen für einen Verbleib, und die Mehrzahl der Älteren für einen Austritt Großbritanniens aus der EU. Auch Frauen sind heute als nationalistische Protagonisten anzutreffen (siehe Marine Le Pen), was in den 1920er Jahren undenkbar war.

Um die Dynamik des heutigen Nationalismus zu verstehen, muss man die Angebots- und Nachfrageseite von nationalistischen Bewegungen berücksichtigen. Umfragen zeigen, dass die meisten „Nachfrager“, also die Wähler bzw. Bürger, bei diesen Bewegungen verständliche Antwor-ten und Lösungsvorschläge auf ihre komplexen sozio-ökonomischen Probleme abfragen. Im Umkehrschluss, liefern die „Anbieter“, d.h. die Führungsfiguren des neuen Nationalismus, ihre Heilsversprechen stets in Verbindung mit Identitätsfragen. Aus den Erfahrungen der 1920er Jahre darf nicht vergessen werden, dass damals der Zerfall der liberalen Demokratie in Europa besonders auf den Zusammenbruch der Mittelschicht in Deutschland zurückzuführen war.

Verschiedene Faktoren spielen für beide Phänomene in der Wahrnehmung derjenigen, die sich nationalistischen und populistischen Bewegungen zuwenden, eine Rolle. Dazu gehören allgemeine Faktoren wie die Globalisierung, die Digitalisierung, die Einwanderung, die wirtschaftliche Ungleichheit und Arbeitslosigkeit sowie ein empfunde-nes Elite-Versagen.

Auf der praktischen Ebene bestimmt anscheinend auch der technokrati-sche Charakter der EU, die Unübersichtlichkeit der Entscheidungsstrukturen des politischen Mehrebenensystems und ein daraus hervorgehendes Gefühl des Fehlens eines politischen Mitspracherechts des Einzelnen die Frustration vieler Wähler mit.

Obwohl viele heutige nationalistische Bewegungen sehr populistisch auftreten, ist Populismus nicht mit Nationalismus gleichzusetzen. Wäh-rend sich Populisten in erster Linie gegen eine vermeintliche (korrupte) Elite richten und anti-pluralistisch sind, zeichnet sich der gegenwärtige Nationalismus durch eine aktive Ausgrenzung und Diskriminierung aller derjenigen aus, die die nationalistischen Meinungsführer von einer Kerngruppe ausschließen und daher als illegitim betrachten.

Das ist und vor allem war nicht unbedingt typisch für den Nationalismus, zumindest in der Zeit seiner Entstehung während des 19. Jahrhundert. In seinen Anfängen ist der Nationalismus als Ideologie auch mit der gesellschaftlichen Modernisierung Europas und als eine der Antworten darauf verbunden. In einigen Fällen hatte der Nationalismus sogar eine positive und befreiende Wirkung, so beispielsweise in Polen und Irland im 19. Jahrhundert.

Wichtig ist auch der Hinweis auf den Unterschied zwischen Nationalismus und Patriotismus. Der Patriotismus bringt eine zivilisatorische Tugend zum Ausdruck, nämlich eine höhere Zuneigung zum Gemeinwesen über die eigene Person hinaus. Der Patriotismus ist einschließend und integrativ. Nationalismus ist ausschließend und diskriminierend.

Bei allen nationalistischen Bewegungen treten heute in der Regel zwei Faktoren deutlich hervor. Zum einen sprechen die Nationalisten die Gefühle der Menschen an. Gefühle aber sind aus der Politik nicht wegzudenken, insbesondere nicht aus einer so komplexen und institutionell verwobenen Welt wie der unseren. Zum anderen haben diese Bewegungen offensichtlich Erfolg damit, den Bürgern vermeintlich einfache - wenn auch falsche - Lösungsvorschläge für komplizierte Probleme zu verkaufen.

Die Rolle der sozialen Medien

Der neue Boom an nationalistischen und populistischen Medien, Inhalten, Bewegungen und Parteien ist ohne die sozialen Medien nicht zu verstehen. Jedwede Meinung kann heute auf den entsprechenden Online-Plattformen ein Publikum finden, ohne dass Meinungsäußerungen in diesen Medien und Plattformen kritisch hinterfragt und durch Experten oder professionelle Presseorgane moderiert werden. Die ernsten Konsequenzen zeigen sich beispielsweise in Form neuer Breitenphänomene wie dem "long distance nationalism", also einer nationalistischen Denkweise von Menschen, die nationalistische Doktrinen und Bewegungen unterstüt-zen, obwohl sie physisch in einem anderen Staat zu Hause sind.

Diese Entwicklung hat sicherlich mehrere Ursachen. Dazu gehört wohl auch, dass die Phase des Kalten Krieges in gewisser Weise eine Periode von außergewöhnlicher Stabilität war und die Antworten, nach denen die Volksparteien auf der Suche nach einer Verlängerung dieser Stabilität nun fahndeten, keinesfalls technokratisch im Sinne von "Antworten des Marktes" sein dürfen, sondern echte politische Angebote und Initiativen sein müssen.

„Nationalismus in den EU-Mitgliedstaaten – eine Herausforderung für den Zusammenhalt der EU?“

Nationalismus weist in West-, Mittel- und Osteuropa deutliche Unter-schiede auf, die mit dem Spannungsverhältnis von Rechtstaatlichkeit und Nationalismus in Verbindung stehen. In Teilen Mittel- und Osteuropas sind zwei verschiedene Systeme der politischen Korruption zu beobachten, die staatliche Entscheidungsprozesse im politischen System durch unlautere Partikularinteressen beeinflussen (state capture). In Litauen, Polen und Ungarn gibt es Merkmale der parteigebundenen politischen Korruption (party state capture). In der Slowakei, der Tschechischen Republik und Lettland stehen Unternehmensinteressen im Zentrum der politischen Korruption (corporate state capture). Um ihre Interessen voranzutreiben, bedient sich insbesondere die parteigebundene politische Korruption einer nationalistisch-populistischen Rhetorik, da es ihren Meinungsführern nicht um eine unlautere Modifikation der Gesetzgebung (policy changes), sondern um eine langfristige Änderung des politischen Systems an sich geht (polity change).

Die Möglichkeiten der Europäische Kommission, solchen Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit Einhalt zu gebieten, müssen nüchtern betrachtet werden. Nicht nur hat die Kommission faktisch keine Kompetenzen, um die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten durch wirkungsvolle Sanktionen zu garantieren. Dem vorausgehend hat sie vor allem auch ein Evaluierungsdefizit, da sie viele Strukturen der corporate state capture und der daraus resultierenden existierenden Rechtsstaatsverletzungen nicht wahrnimmt. Es ist jedoch fraglich, ob Sanktionen überhaupt der richtige Ansatz sein können, um die Rechts-staatlichkeit in den EU-Mitgliedsstaaten zu gewährleisten, oder ob solche supranationalen Druckmittel nicht gerade erst Öl ins Feuer der Nationalisten und Populisten gießen.

In Westeuropa existiert eine unterschiedliche Form von Nationalismus, die nur teilweise populistisch bzw. anti-elitistisch ist. Die separatistischen Nationalisten staatlicher Teilregionen in Katalonien, dem Baskenland und andernorts geben sich in vielerlei Hinsicht sogar proeuropäisch, da sie hoffen, ihre Region nach einer etwaigen Unabhängigkeit als souveräne Staaten in die EU einzugliedern. Gerade in Spanien gibt es diese Zentrifugalkräfte, da seit dem Ende der Franco-Diktatur aufgrund der Diktaturerfahrung ein gesamtstaatlicher spanischer Nationalismus weitestgehend diskreditiert ist. Die Beispiele des Baskenlandes und Kataloniens zeigen, dass sich diese Regionen auf die direkte Demokratie berufen, um ihre Unabhängigkeitsbestrebungen voranzubringen - dabei jedoch den gleichrangigen Grundsatz der Verfassungsdemokratie verletzen. Das nationalistische, abgrenzende Gedankengut der regionalen Eliten in diesen beiden spanischen Regionen stammt aus der Zeit der industriellen Revolution. Auch wenn die aktuelle Verfassung den Regionen bereits weitgehende Autonomie einräumt, hat nicht zuletzt die Finanz- und Wirtschaftskrise dazu beigetragen, dass die nationalistische Elite dieser Territorien mithilfe von kulturellen Bewegungen und parteiischen Medien und einer emotional aufgeheizten Debatte versucht, eine regionale "nationale" Identität zu schmieden. Auch wenn die regionalen Eliten aus dem Bas-kenland und Katalonien eine Loslösung von Spanien weiter vorantreiben, bleibt festzuhalten, dass die Nationalisten zwar in beiden Regionalparlamenten eine Mandatsmehrheit inne haben, sie jedoch in beiden Regionen auch nach vier Jahrzehnten immer noch keine Bevölkerungsmehrheit auf sich vereinigen können. In beiden Fällen hat die die Europäische Union wirkungsvoll deutlich gemacht, dass sie eine Sezession ablehnt und die Abspaltung nicht automatisch zur EU-Mitgliedschaft führt.

Gerade in Spanien wird deutlich, dass sich eine regionale und eine nationale Identität nicht gegeneinander ausschließen. Nur die wenigsten Basken fühlen sich nur baskisch, ohne sich auch zugleich spanisch zu fühlen (nur 19%). Und so muss auch gegenüber der nationalistischen Rhetorik deutlich gemacht werden, dass viele EU-Bürger bereits zugleich eine lokale, eine regionale, eine nationale und eine europäische Identität besitzen, ohne dabei in einen Widerspruch zu verfallen.

In Ungarn, Polen und Italien sind die nationalistischen Populisten zwei-felsohne bereits zu politischen Hauptakteuren in ihren Ländern geworden. Durch die mittlerweile recht extrem divergierende Interessenlage zwischen einzelnen EU-Mitgliedstaaten und dem daraus entstehenden Spannungsverhältnis ergeben sich für die Europäische Union als Gemeinwesen drei große Konfliktlinien: Erstens existiert ein Souveränitätskonflikt (welche Institutionen auf EU- oder der nationalen Ebene besitzen Entscheidungskompetenzen über welche Fragen und weshalb?), zweitens besteht ein Solidaritätskonflikt (welche Akteure erhalten welche EU-Ressourcen und warum?) und drittens liegt ein Identitätskonflikt vor (wer sind wir als Europäer?).

Reaktion der EU-Institutionen auf nationalistische Bewegungen

Hinsichtlich der nationalistischen Sezessionsbewegungen regionaler Kräfte im "alten" Europa wurde deutlich, dass gerade die Regionalpolitik der EU-Kommission der 1990er und 2000er Jahre zum Ziel hatte, die Regionen an den Mitgliedstaaten vorbei direkt an den Entscheidungsprozessen der EU zu beteiligen, weil man sich davon erhoffte, durch einen direkteren Austausch der EU mit den subnationalen Gebietskörperschaften die EU näher an den Bürger zu bringen und die Kohäsion zwischen den Territorien zu verbessern.

Allerdings hat dieses Vorgehen möglicherweise dazu beigetragen, etwaige Zentrifugalkräfte der Regionen gegen ihre eigene nationalstaatliche Ebene zu stärken. Aufgrund des politischen Boome-rang-Effekts jener Regionalpolitik verfolgt die EU diesen Ansatz heute nicht mehr in gleicher Weise. Angesichts der zunehmenden Urbani-sierung wäre zu überlegen, ob die EU künftig ihren Fokus von den Regionen weiter weg und stärker auf die urbanen Räume und Metropolregionen hin lenkt und diese auf der Grundlage der gegebenen nationalstaatlichen Struktur untereinander zu vernetzen hilft.

Hinsichtlich des "klassischen" Nationalismus ist zu fragen, warum diese Bewegung, die gemeinhin ja mit Phänomenen wie mit dem Brexit, mit LePen, Wilders in den Niederlanden und Strache Österreich in Verbindung gebracht werden kann, gegenwärtig gerade in Mittel- und Osteuropa auf so fruchtbaren Boden fällt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatten diese Staaten ja gerade erst ihre langersehnte Souveränität, Freiheit und Demokratie erreicht, weshalb man erwartete, dass sie einen unfreiheitlichen Nationalismus ablehnen würden, was aber nicht generell der Fall ist. Es kam vielmehr in der heutigen komplexen Zeit, in der viele Bürger in Mittel- und Osteuropa den Eindruck haben, im System der geteilten Souveränität der EU würden ständig weitere Kompetenzen auf die europäische Ebene verlagert, zu einer nationalistischen Gegenbewegung, die einem "empfundenen Souveränitätsverlust" entgegentreten will. Dem geht die Frustration mancher Wähler voraus, die subjektiv empfinden, ihre Wahlstimme mache im System der geteilten Souveränität keinen wirklichen Unterschied und der Einzelne besitze angesichts der herrschenden Machtstrukturen "Brüssels", "des Marktes", "des Internets" oder "der Unternehmen" u.ä. keinen wirklichen demokratischen Gestaltungsspielraum mehr.

Vor diesem Hintergrund muss man zumindest darüber nachzudenken, eine Erweiterung und Vertiefung der Kompetenzen der EU vor allem auf denjenigen Feldern im Moment weiter voranzutreiben, auf denen sowohl die EU-Befürworter als auch die Mehrzahl der eher enttäuschten Bürger noch einen Mehrwert der EU sehen. Das gilt beispielsweise für das Politikfeld der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik sowie der Antiterrorbekämpfung. Gleichzeitig muss man aber auch darüber nachdenken, ob das demokratische Gefüge der EU in Zeiten einer territorialen Entkopplung wichtiger politischer, wirtschaftlicher und sozialer Entscheidungsprozesse von den Wahlkreisen weg hin zu globalen, technisch-digitalen und virtuellen Räumen auch durch ein post-territoriales Demokratiemodell ergänzt werden muss, im Rahmen dessen die Bürger ihre Wahl- und Mitentscheidungsfreiheit wieder wirkungsvoll wahrnehmen können. Die Prinzipien der Transparenz, der Pluralität, der effektiven Gewaltenteilung und des Men-schenrechtsschutzes müssen dabei aber auf jeden Fall garantiert bleiben.

Volksparteien und nationalistischen Bewegungen

Der Umgang der EU-Institutionen sowie der europäischen Volksparteien mit nationalistisch-populistischen Bewegungen, sowohl im Mitte-rechts- als auch im Mitte-links-Spektrum, hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten grundlegend verändert. Während Österreich für die Regierungsbeteiligung der FPÖ im Jahr 2000 noch sanktioniert wurde, sitzen heute nationalistische Regionalparteien wie die PDeCAT und die PNV sogar in der 2004 gegründeten liberalen ALDE-Fraktion im Europäischen Parlament.

Der Schockzustand, in dem sich die großen Volksparteien gegenwärtig angesichts der erstarkenden nationalistischen und populistischen Bewegungen befinden, ist besorgniserregend. Denn das immer wiederkehrende Mantra von vielen Volksparteien während der letzten zwei Jahrzehnte war es, dass die Zeit des Nationalstaates vorüber ist und Europa sich in ein post-souveränes Gebilde entwickelt. Diese Illu-sion wird nun mit der Realität konfrontiert. Denn weder die USA, noch Russland oder China oder andere geopolitische Regionen hatten sich der Idee einer post-nationalen Welt angeschlossen. Ganz im Gegenteil ist vielmehr zu beobachten, dass der Eindruck der Bürger, ohne eigene Gestaltungsmacht den abstrakten höheren Kräften der supranationalen Institutionen und der Globalisierung ausgeliefert zu sein, diesen nationalistischen und populistischen Bewegungen Zulauf verschafft. Schon die Anziehungskraft des Marxismus hatte sich dadurch ausgezeichnet, den Menschen zu versprechen, dass sie sich nicht den Gesetzen des Wirtschaftskreislaufes zu unterwerfen bräuchten, sondern jeder sein eigener Herr werden könne. Die Rhetorik der meisten Volksparteien, einzig und allein auf die Alternativlosigkeit ihres Handelns hinzuweisen, ist ungleich weniger attraktiv.

Die Volksparteien (sowohl Mitte-links- als auch Mitte-rechts-Parteien) in der EU geraten sowohl von der extremen Linken als auch von der extremen Rechten unter Wettbewerbsdruck. Die Sozialdemokratie verliert dabei vielerorts Wähler an die extreme Linke wegen des Vorwurfes, bei der wirtschaftlichen Globalisierung, der Arbeitsplatzverlagerung und der zunehmenden Arm-reich-Gegensätze vermeintlich tatenlos zuzusehen. Zugleich verlieren die moderaten linken Parteien jedoch auch Stimmen an rechte, nationalistisch-populistische Bewegungen, weil viele ihrer traditionellen Wähler nicht mit deren angeblicher Ideologie der grenzenlosen Zuwanderung übereinstimmen. Manche Kommentatoren kritisieren in den Medien, dass sich auch die christdemokratischen und liberal-konservativen Mitte-rechts-Parteien nicht wirksam dem Sog der extremen Rechten entgegenstemmten, was sich daran erkennen ließe, dass viele Parteien ihre Grundsatzprogramme überarbeiteten.

Diese Annahme ist jedoch kritisch zu betrachten. Zwar richten sich viele christdemokratische und liberal-konservative Volksparteien tatsächlich wieder klarer im verfassungsgemäßen politischen Spektrum aus. Allerdings kommt die Schärfung des eigenen Profils, vor allem des Werteprofils, angesichts des demokratischen Parteien- und Ideenwettbewerbs einer essentiellen Notwendigkeit nach und ist daher grundsätzlich positiv zu bewerten. Fatal wäre es, falls sich der gegenwärtige Trend durchsetzt, die bewährte Links-rechts-Logik des demokratischen politischen Systems im Zuge des Drucks durch radikale Parteien von außen zugunsten von offenen Plattformen des politischen Zentrums aufzulösen. Denn dies bedeutet, dass sich langfristig, selbst nach einer anfänglich erfolgreichen Mobilisierungsphase, immer weniger Bürger mit ihrem Wertesystem in diesen offenen Bewegungen repräsentiert sehen. Durch das fehlende solide Identifikationsangebot besteht dann die Gefahr, dass immer mehr Wähler mit klaren ideellen Positionen an die zunehmend radikalen Ränder als dem einzig für sie zur Verfügung stehenden Angebot gedrängt werden. Folglich müssen sich die Volksparteien links und rechts der Mitte, anstatt sich in der immer enger werdenden Mitte zu tummeln, wieder klarer über ihren eigene Flügel hinweg positionieren und möglichst alle dort befindlichen Wählerschichten demokratisch an sich binden. Nur auf diese Weise können die zunehmend radikale Rhetorik der extremen nationalistischen und populistischen Randparteien sowie deren polemische Maximalforderungen wirkungsvoll gebremst werden.

Trotz positiver Kommentare in den Medien besteht folglich die Gefahr, dass die Neigung mancher Plattformen des politischen Zentrums, die politische links-rechts-Logik hinter sich lassen zu wollen, zur Radikalisierung der politischen Ränder beiträgt. Von einer Isolation a priori von nationalistisch-populistischen Bewegungen ist daher, trotz aller verständlicher Polemik, abzuraten. Neben einer Schärfung des eigenen Profils müssen die Volksparteien auf nationaler und auf EU-Ebene vielmehr rational und kühl prüfen, ob sich solche Organisationen nicht vielmehr zumindest teilweise wieder in moderatere Bündnisse einhegen lassen, so wie dies in der Vergangenheit bereits bspw. in Italien schon der Fall war. Auch im Europäischen Parlament versuchen die Fraktionen regelmäßig, Mitgliedsparteien mit extremeren Positionen zu moderieren und deren Gesprächsbereitschaft aufrechtzuerhalten.

Für die Volksparteien gibt es zwei mögliche Konsequenzen in der Reaktion auf die nationalistisch-populistische Herausforderung:

Auf der Ebene der Identität müssen sie anerkennen, dass die Menschen ein spirituelles und emotionales Verlangen nach Zugehörigkeit besitzen. Ein nationalstaatlicher demokratischer Patriotismus und die Identifikation mit den gemeinsamen kulturellen Werten Europas müssen deshalb gleichberechtigt zusammengebracht werden, anstatt sich gegeneinander auszuschließen.

Auf der Ebene der Inhalte ist es für die EU-Integration und die Legitimität der EU angebracht, sich auf die Vertiefung in denjenigen Politikbereichen zu fokussieren, in denen Europa unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips einen reellen Mehrwert bieten kann. So muss die Gemeinschaft der EU-Mitgliedstaaten und der EU-Institutionen endlich vor allem eine realistische Außen- und Verteidigungspolitik entwerfen, die über die hauptsächliche Fokussierung auf Handelsvereinbarungen hinausgeht und die EU und deren Mitgliedstaaten mit einer langfristigen, handlungsfähigen geopolitischen Strategie und Kooperation ausstattet.

Angesichts der guten kurzfristigen Umfragewerte von Plattformen des politischen Zentrums in mehreren europäischen Ländern (vor allem in Frankreich und Spanien), des technokratischen Charakters vieler verbleibender Volksparteien sowie aufgrund der Unwilligkeit bei sozialistischen und sozial-liberalen Parteien, sich mit den Wertesystemen der kontemporären nationalistisch-populistischen Bewegungen auseinanderzusetzen, bestehen erhebliche Zweifel daran, dass eine Reorganisation des klassischen Links-rechts-Spektrums inklusive der Rückbesinnung auf die jeweiligen Werte tatsächlich stattfinden wird. Die christdemokratischen und liberal-konservativen Mitte-rechts-Parteien bringen aber alle Erfordernisse mit, um sich mit der entsprechenden ideellen Bereitschaft und Motivation wieder erfolgreich im europäischen Parteienspektrum positionieren zu können, insofern sie denn zu einer Rückbesinnung auf ihre Wertegrundlage aus der Zeit der Gründung der Europäischen Union bereit sind.

Nationalismus: eine Gefahr für die europäischen Demokratien?

Nationalismus und Populismus müssen als eine Antwort auf die Sorgen der Menschen betrachtet werden, die jedoch gleichzeitig sowohl die Intoleranz als auch die Schere zwischen den Gesellschaften steigert bzw. vergrößert. Aus diesem Grund können Populismus und Nationalismus zu einer wirklichen Gefahren für unsere Demokratien sowie für unsere freiheitlichen politischen Systeme werden.

Mit Blick auf die Ideengeschichte der europäischen Christdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg kann man feststellen, dass das "post-nationalstaatliche Nirwana" stets Wunsch und Ziel der Sozialdemokratie und der progressiven Linken war, aber nicht der Christdemokraten. Angesichts der bestehenden Unzufriedenheit und dem wachsenden Nationalismus muss diese Unterscheidung wieder stärker deutlich gemacht werden. Durch eine klare christdemokratische Agenda, die die historischen Wurzeln der EU, die föderale Kompetenzaufteilung und -beschränkung sowie eine klare Zielvision der EU vermittelt, kann der Euroskeptizismus und damit ein Teil des wachsenden Nationalismus ausgebremst werden.

An dem European Roundtable 2018 in Barcelona nahmen teil:

Jokin Bildarratz Sorron

Spokesman of the Parliamentary Group of the Basque Nationalist Party (EAJ-PNV) in the Senate of Spain

Dr. Malgorzata Bonikowska

President, Centre for International Relations, Warsaw, Poland

Prof. John Breuilly

Emeritus Professor of Nationalism and Ethnicity, London School of Eco-nomics, London, United Kingdom

Prof. Josep María Castellà Andreu

University of Barcelona, Department of Political Science, Constitutional Law and Philosophy of Law, Spain

JakovDevcic

Desk Office Western Europe, Konrad Adenauer Foundation Berlin, Germany

Prof. Dr. Alain Dieckhoff

Senior research fellow CNRS, Director CERI, Sciences Po, Paris, France

Inês Domingos, MP

Member of Parliament, PSD, Lisbon, Portugal

Klaus-Dieter Frankenberger

Director of the Foreign Policy Section, Frankfurter Allgemeine Zeitung Newspaper, Frankfurt, Germany

Núria González Campaña

PhD Candidate in EU Law, Barcelona/ Oxford University

Dr. Wilhelm Hofmeister

Director, Konrad-Adenauer-Stiftung, Spain and Portugal

Prof. Dr. Ireneusz Paweł Karolewski

Professor and Chair of Politics, University of Wrocław, Poland

Bogdan Klich

Minority Leader of the Polish Senate, Former Defense Minister of Poland, Warsaw, Poland

Gunther Krichbaum, MP

Member of Parliament, CDU, Chairman of the Committee on European Affairs, Berlin, Germany

Dr. Michael Lange

Director, Konrad-Adenauer-Stiftung, Zagreb, Croatia

Dr. Miguel Morgado, MP

Member of Parliament, PSD, Member of the Committee on European Affairs, Lisbon, Portugal

Pedro Mota Soares

Member of Parliament, and former Minister of Labor and Social Security, CDS-PP, Lisbon, Portugal

Niklaus Nuspliger

Neue Zürcher Zeitung Newspaper, Brussels/Zürich, Belgium/Switzerland

Paulo Rangel, MEP

Member of the European Parliament, PSD Portugal

Federico Reho

Strategic Coordinator and Research Officer, Wilfried Martens Centre for European Studies, Brussels, Belgium

Michael Rimmel

Head of Office, Office of the Chairman of the Konrad-Adenauer-Stiftung, Konrad Adenauer Foundation Berlin, Germany

Pablo Rodríguez

El Mundo Newspaper Brussels/Madrid, Belgium/Spain

Prof. Dr. Dave Sinardet

Professor of Political Science at the Free University of Brussels (VUB), Belgium

Davor Stier, MP

Former Minister of Foreign Affairs, Member of the Foreign Affairs Committee, Zagreb, Croatia

Anna Szymanska-Klich

President of the Board, Foundation Institute for Strategic Studies, Krakow

Ambassador Dr. Vygaudas Ušackas

Director, Institute of Europe, Kaunas University of Technology, Lithuania

Sofia Zacharaki

Deputy Spokesperson, Nea Demokratia (New Democracy ND), Athens, Greece

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