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Länderberichte

Die Stellung der Armee in der türkischen Politik und Gesellschaft

Im Zusammenhang mit den jüngsten Entwicklungen in der Türkei wurde in den Medien und von politischen Beobachtern verstärkt über den Einfluss des Militärs auf die Politik diskutiert. Insbesondere hinsichtlich der Krisen um die Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2007, das Verbotsverfahren gegen die regierende Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) im Sommer 2008 und den laufenden Strafprozess gegen ein kriminelles Verschwörernetzwerk mit der Bezeichnung „Ergenekon“ wurde in unterschiedlicher Weise ein möglicher Bezug zum türkischen Militär hergestellt.

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Unbestritten ist das Militär eine nach wie vor dominierende Kraft im türkischen politischen System. In der Geschichte der türkischen Republik hat es seinen Einfluss wiederholt direkt (1960, 1971 und 1980 mit militärischen Interventionen) oder indirekt (1997 mit dem erzwungenen Rücktritt der Regierung Erbakan) zur Geltung gebracht. Auch das im Vorfeld zur Präsidentschaftswahl Abdullah Güls im April 2007 auf der Internet-Seite des Generalstabs veröffentlichte „Memorandum“ wurde von vielen Medien als Putschdrohung gedeutet. Die beiden wichtigsten innenpolitischen Ereignisse im Sommer diesen Jahres, das Verbotsverfahren gegen die AKP und die „Ergenekon“-Ermittlungen (in deren Folge auch einige hochrangige Ex-Militärs verhaftet wurden), gelten als Zuspitzung des politischen Machtkampfes zwischen säkularen und islamisch-konservativen Kräften, wo auch über eine partizipierende Rolle des Militärs spekuliert wird, jedoch bislang keine dies unterstützende Indizien vorgebracht werden konnten.

Nachdem sich die letzten politischen Krisen allesamt glimpflich und im demokratischen Rahmen lösen ließen und momentan eine ruhigere Phase in die Beziehungen zwischen Militär und Regierung eingetreten ist, variieren die Kommentare in den Medien zwischen Vermutungen über eine Schwächung des Einflusses der Armee bis hin zu einem „Deal“ zwischen dem Generalstab und dem Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Tatsache ist, dass mit der im September ernannten neuen Militärführung ein neuer Politikstil im Auftreten der Armee zu verzeichnen ist.

Die Stellung des Militärs in der Politik und Gesellschaft in der Türkei muss in einem historischen Kontext und vor dem Hintergrund der Entwicklungen in den letzten Jahren bewertet werden. Die besondere Rolle der Armee in der Politik kann bis in das Osmanische Reich zurückverfolgt werden. Damals war das Militär die Kraft, die erste Reformen durchsetzte, und nach dem Zerfall des Reiches am Ende des Ersten Weltkrieges spielten die türkischen Streitkräfte unter der Führung Mustafa Kemal Atatürks die entscheidende Rolle im nationalen Befreiungskrieg und bei der Entstehung der Türkischen Republik. Die Armee genießt somit das Ansehen der Republikgründerin und versteht sich seitdem als entscheidender Verantwortungsträger für die Einheit und Sicherheit der Republik und als Erbwächter der politischen Prinzipien von Mustafa Kemal Atatürk (Kemalismus). Dies betrifft auch und vor allem den Schutz des laizistischen Charakters des Staatswesens.

Neben ihrer Rolle als Republikgründerin und Urheber sowie Garant der Modernisierung „von Oben“ in den Anfangsjahren der Türkischen Republik hält das Militär seine privilegierte Stellung im Bewusstsein der Bevölkerung auch weiterhin durch seine besondere soziale Funktion aufrecht (Vgl. Esra Sezer „Das türkische Militär und der EU-Beitritt der Türkei“, Das Parlament, Beilage „Aus Politik und Gesellschaft“, 22.10.2007). Die allgemeine Wehrpflicht gilt als ein integrierender Aspekt zwischen der Armee und Gesellschaft. Die Einberufung wehrpflichtiger junger Männer, unabhängig vom sozialen und ökonomischen Status, wird als ein Beitrag zur Aufhebung sozialer Unterschiede und zur Stärkung des türkischen Nationalbewusstseins verstanden. Darüber hinaus bietet die Armee berufliche Ausbildungsmöglichkeiten und technische Schulungen, in unterentwickelten Regionen werden jungen Männern auch Alphabetisierungskurse geboten. Nicht zuletzt gelten die türkischen Streitkräfte als eine Institution, die berufliche Aufstiegschancen für alle Sozialschichten bietet, auch Frauen können über eine Offizierskarriere gesellschaftliche Geltung erlangen.

Vor allem aufgrund dieser Tatsachen stößt das Militär in der türkischen Bevölkerung auf hohe Akzeptanz. Dies wird regelmäßig durch Meinungsumfragen verschiedener Forschungsinstitute bestätigt, wo die Armee konstant als die vertrauenswürdigste Institution im Staat bezeichnet wird. Eine im Oktober 2008 von der Agentur TSM Piar durchgeführte Umfrage (Vgl. Vatan, 17. 11. 2008, S. 1/17) ergab, dass die Türkischen Streitkräfte von 86,9 % der Befragten als die vertrauenswürdigste Institution gesehen werden, an zweiter Stelle wurde die Polizei mit 71,8 % genannt, dahinter rangierten das Verfassungsgericht (66,0 %), der Staatspräsident (53,8 %) und der Premierminister (42,6 %). Weit abgeschlagen befanden sich die politischen Parteien, die allgemein als korrupt, machthungrig und unzuverlässig empfunden werden. Dieses Stimmungsbild in der Öffentlichkeit ist ein schwerwiegender Hemmungsfaktor für die türkische Demokratie.

In den letzten Jahren wurden im Vorfeld und im Rahmen der Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union Reformen zur Einschränkung des politischen Einflusses der Armee durchgeführt. Insbesondere im sog. 7. Anpassungspaket vom Sommer 2003 sind wichtige Veränderungen zur Rolle des Nationalen Sicherheitsrates und zur zivilen Kontrolle der Streitkräfte, vor allem der Militärausgaben, enthalten (Vgl. Dirk Tröndle "Das 7. EU-Anpassungspaket"). Der Nationale Sicherheitsrat (Milli Güvenlik Kurulu), seit 1961 in der Verfassung verankert, gilt als das Hauptinstrument der politischen Einflussnahme durch das Militär. Mit den Reformen wurden dessen Zuständigkeiten und Kompetenzen deutlich beschnitten. Galten bislang die Entscheidungen und Empfehlungen des Nationalen Sicherheitsrates de facto als verpflichtend für die Regierung, ist dessen Rolle fortan auf eine Beratungsfunktion – und dass vor allem in Sicherheitsfragen - beschränkt. Auch die personelle Zusammensetzung des Rates im Verhältnis Militärs-Zivilisten hat sich zu Gunsten der zivilen Mitglieder verändert. Der Sicherheitsrat tagt jetzt alle zwei Monate um sich mit Fragen der nationalen Sicherheitspolitik zu befassen. Ihm gehören laut Art. 118 der Verfassung der Ministerpräsident, seine Stellvertreter, der Außen, der Innen- und der Verteidigungsminister, der Generalstabschef, die Oberbefehlshaber von Heer, Marine, Luftwaffe und Gendarmerie sowie der Staatspräsident als Vorsitzender des Rates an. Seit 2004 wird der Generalsekretär des NSR von einem Zivilisten (Diplomaten) auf Vorschlag des Ministerpräsidenten besetzt, davor hatten diesen Posten hochrangige Militärs inne.

Eine wichtige Reform im 7. Anpassungspaket ist auch die Erweiterung der Kontrollkompetenzen des türkischen Rechnungshofes, so dass auch die Ausgaben und Fonds des Militärs der Überwachung unterliegen. Der Militärhaushalt wurde in den letzten Jahren kontinuierlich reduziert und liegt jetzt z. B. unter dem Niveau der Ausgaben des Bildungsministeriums. Weitere Veränderungen betreffen das Strafrecht und die Strafprozessordnung, wo die Rolle der Militärgerichte eingeschränkt wurde. Straftaten von Militärangehörigen, die außerhalb des Militärdienstes begangen wurden, können nun von zivilen Strafgerichten verhandelt werden.

Der Generalstabchef der türkischen Streitkräfte ist dem Ministerpräsidenten unterstellt. Oberster Befehlshaber der Armee ist der Staatspräsident.

Unter dem Vorsitz des Ministerpräsidenten trifft einmal jährlich der Oberste Militärrat (Yüksek Askeri Şura) zusammen, an dem auch der Verteidigungsminister sowie die Oberbefehlshaber aller Waffengattungen teilnehmen. Der OM befasst sich mit inneren Angelegenheiten des Militärs, wie der Ernennung der neuen Militärführung, Beförderungen und Disziplinarmaßnahmen, wie dem Ausschluss von Offizieren aus der Armee. Zum 1. September 2008 wurde General Ilker Başbuğ auf Vorschlag des Ministerpräsidenten vom Obersten Militärrat zum neuen Generalstabschef ernannt. General Başbuğ war zuvor Oberbefehlshaber der Landstreitkräfte, wo ihm General Işık Koşaner nachfolgt. Da laut Tradition der Armee der Kommandant des Heeres als designierter Nachfolger für den Posten des Generalstabschefs gilt, wird General Koşaner voraussichtlich ab 2010 zum neuen Armeechef aufsteigen.

General Başbuğ gilt als Analytiker und Stratege, der viel auf fachliche Expertise setzt. Als eine seiner ersten Amtshandlungen ließ er die Kommunikationsabteilung der Armee aufwerten und Beförderte den Armeesprecher in den Rank eines Brigadegenerals. Teil einer neuen Kommunikationsstrategie ist die Einführung einer wöchentlichen Pressekonferenz, zu der auch Journalisten aus den islamischen Medien zugelassen sind (bislang waren Journalisten von Medien, die auf einer Negativliste des Militärs standen, zu Konferenzen des Militärs nicht eingeladen). Seine erste Reise im Land führte der Generalstabschef nach Diyarbakır in den Südosten der Türkei durch, wo er sich u. a. mit Vertretern von lokalen Nichtregierungsorganisationen zu einem Meinungsaustausch über die Probleme der Region traf. Thema war speziell auch die Frage, wie man vermeiden kann, dass junge Menschen von der Terrororganisation PKK angeworben werden. Die neue Armeeführung betonte mehrmals öffentlich, dass das PKK-Problem nicht allein mit militärischen Mitteln gelöst werden kann, sondern dass der Terror langfristig nur durch ein umfassendes Maßnahmenpaket zur sozialen und ökonomischen Entwicklung im Südosten gestoppt werden kann. Dazu gehöre auch die Verbesserung der kulturellen Rechte der Kurden. Dies sei Aufgabe der Regierung. Zur Frage des EU-Beitritts der Türkei sagte der Generalstabschef, dass eine EU-Mitgliedschaft die Vollendung der Ziele Atatürks im Sinne einer Westintegration der Türkei bedeute. Die EU müsse jedoch die Türkei gleichermaßen wie auch andere europäische Länder behandeln und von Forderungen ablassen, die den nationalstaatlichen Charakter und die strukturelle Einheit des Landes gefährden.

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Sven-Joachim Irmer

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