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Vorgezogene Parlamentswahlen sollen Türkei aus der Krise führen

Die gescheiterte Präsidentschaftswahl hat die politischen Gräben in der Türkei neu aufgerissen und eine Machtprobe zwischen dem religiösen und weltlich orientierten Lager ausgelöst, die das politische System erschüttert hat. Einen Ausweg aus der Krise sollen nun vorgezogene Parlamentswahlen bringen.

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Mit der Kür eines eigenen Kandidaten zum neuen Staatspräsidenten wollte die regierende AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) ihre Ambitionen als führende politische Kraft im Lande unterstreichen und ihren erfolgreichen Werdegang sechs Jahre seit der Parteigründung 2001 nun mit dem Einzug in das höchste Staatsamt besiegeln. Über Monate wurde darüber gerätselt, ob der AKP-Vorsitzende und Premierminister Recep Tayyip Erdoğan selbst für das Amt des Präsidenten kandidieren werde, oder ob er einem anderen den Vortritt lässt, weil er ein siegreiches Abschneiden der AKP bei den Parlamentswahlen im Herbst unter seiner Führung für wichtiger hält.

Gül für die Opposition nicht wählbar

Aufgrund der klaren Mehrheitsverhältnisse im türkischen Parlament ist man allgemein davon ausgegangen, dass die AKP entsprechend den in der Verfassung vorgeschriebenen Regeln ihren Präsidentschaftskandidaten spätestens im dritten Wahlgang mit der dann ausreichenden einfachen Mehrheit der Abgeordneten wählen lassen kann. Mit Außenminister Abdullah Gül schickte die AKP einen Kandidaten ins Rennen, der als ein über das religiöse Lager hinaus respektierter und damit auch für die Opposition akzeptabler AKP-Politiker eingeschätzt wurde. Dies erwies sich als Irrtum. Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) erklärte von vornherein, den Wahlvorgang boykottieren zu wollen und behauptete, dass für die Gültigkeit der ersten beiden Abstimmungen die Anwesenheit von zwei Dritteln (367 von 550) der Abgeordneten erforderlich sei. Sie drohte damit, andernfalls beim Verfassungsgericht eine Annullierung der Wahlen zu beantragen. Die AKP, die über 352 Stimmen im Parlament verfügt (der von der AKP gestellte Parlamentspräsident darf selbst nicht abstimmen, ein Abgeordneter gab seinen Austritt aus der AKP bekannt), versuchte noch vor der ersten Abstimmung am Freitag, den 27.04., genügend Überläufer von den kleinen Parteien ANAP (Mutterlandspartei) und DYP (Partei des Rechten Weges) sowie von den unabhängigen Abgeordneten zu gewinnen, um eine Verfassungsklage der CHP zu verhindern. Am ersten Wahlgang nahmen dann jedoch nur 361 Abgeordnete teil, auf Gül entfielen 357 Stimmen. Die CHP rief unmittelbar danach das Verfassungsgericht an und beantragte, den Wahlgang wegen mangelnder Beschlussfähigkeit für ungültig zu erklären. Das Verfassungsgericht nahm die Klage an und erklärte, noch vor der zweiten Wahlrunde am Mittwoch, den 3. Mai, eine Entscheidung treffen zu wollen.

Türkische Streitkräfte sehen Entwicklung mit Besorgnis

Die Abstimmung im Parlament war gegen 20:00 Uhr beendet, um 23:20 Uhr wurde auf der offiziellen Internetseite des türkischen Generalstabs eine Presserklärung veröffentlicht, in der mit scharfen Tönen vor antilaizistischen Tendenzen gewarnt wird. Sie nimmt dabei Bezug auf einige Vorfälle der vergangenen Wochen und direkt auch auf die Präsidentenwahl. In der Erklärung heißt es u. a., dass „„in den letzten Tagen im Prozess der Präsidentschaftswahlen die Diskussionen um den Laizismus in den Vordergrund getreten sind. Diese Entwicklung wird von den türkischen Streitkräften mit Besorgnis beobachtet. Man darf nicht vergessen, dass die türkischen Streifkräfte bei diesen Diskussionen als Partei auftreten und die schärfsten Verfechter des Laizismusprinzips sind. Ferner lehnen die türkischen Streitkräfte sowohl diese Diskussionen als auch die damit zusammenhängenden negativen Einschätzungen aufs schärfste ab. Wenn notwendig werden die türkischen Streitkräfte ihre Haltung und ihr Verhalten klar und deutlich offen legen. Zusammenfassend: Alle diejenigen, die sich gegen die Anschauung unseres erhabenen Republikgründers und Vorbilds Atatürk ‚Wie glücklich, wer sich als Türke bezeichnet’ richten, sind Feinde der Republik Türkei und werden dies für immer bleiben“.

Die Erklärung wurde sowohl wegen ihres Inhaltes als auch wegen des Zeitpunkts der Veröffentlichung als eine offene Warnung vor einem direkten Eingriff des Militärs verstanden.

Massendemonstrationen

Am Sonntag, den 29. April versammelten sich in Istanbul mehrere Hunderttausend Menschen (einige Quellen sprechen von über einer Million) zu einer Kundgebung zum Schutz der Republik und des Laizismus. Es war ein gewaltiger Massenprotest des säkularen Lagers, das mit Parolen wie „Diese Regierung ist der Feind von Atatürk“ und „Die Türkei ist säkular und wird säkular bleiben“ für die Trennung von Religion und Staat demonstrierte. Neben der Sorge um den Schutz der laizistischen Ordnung standen Forderungen nach „voller Demokratie und Unabhängigkeit“ und die Ablehnung „Weder Putsch noch Scharia“ im Vordergrund. Aber auch antiwestliche und antieuropäische Parolen waren nicht selten. Bereits vor zwei Wochen waren in Ankara über 300.000 Menschen für eine säkulare Türkei auf die Strasse gegangen.

Verfassungsgericht erklärt Wahl für ungültig

Am Dienstag, den 1. Mai, gab das Verfassungsgericht der Klage der CHP statt und erklärte die erste Runde der Präsidentschaftswahl für ungültig. Das Gericht schloss sich mit neun gegen zwei Stimmen der Auffassung an, dass für die Abstimmung ein Quorum von mindestens 367 Abgeordneten zwingend ist, eine Regel, die so nirgends in der türkischen Verfassung festgehalten ist und die bei keiner der früheren Wahlen eine Rolle spielte. Auch in dem Gutachten des Berichterstatters, das den Richtern vor dem Entscheid zur Verfügung gestellt worden ist, wurde eine Ablehnung der CHP-Klage empfohlen. Angesichts der zugespitzten politischen Situation und der Gefahr eines Einschreitens des Militärs wurde diese Entscheidung jedoch von vielen politischen Akteuren eher mit Erleichterung zur Kenntnis genommen. Zudem bietet sie für beide Seiten eine Lösung: Das säkulare politische Lager kann für sich verbuchen, dass sie die Wahl Abdullah Güls zum neuen Staatspräsidenten verhindert hat, und der AKP bietet sich die Chance zum gesichtswahrenden Rückzug.

Die AKP reagierte denn auch am späten Abend des 1. Mai mit der Erklärung von Ministerpräsident Erdoğan, dass zum frühstmöglichen Zeitpunkt Parlamentswahlen angesetzt werden sollen. Gleichzeitig kündigte er einen Antrag der AKP zu einer Verfassungsänderung an, mit der die Direktwahl des Staatspräsidenten für zweimal fünf Jahre (bisher ist nur eine einmalige siebenjährige Amtszeit möglich) eingeführt und die Amtszeit des Parlamentes von fünf auf vier Jahre gekürzt werden soll. Die CHP schloss sich der Forderung nach Neuwahlen an. Eine Verfassungsänderung lehnte sie jedoch kategorisch ab.

Am 03. Mai beschloss die Große Türkische Nationalversammlung mit 458 Stimmen der 550 Abgeordneten, die planmäßig im November anstehenden Parlamentswahlen auf den 22. Juli 2007 vorzuziehen. Obwohl die AKP einen früheren Termin (24. Juni) bevorzugte, schloss sich das Parlament dem Vorschlag des unabhängigen Hohen Wahlrats an, der zur Durchführung der Wahl eine Vorbereitungszeit von 80 Tagen geltend gemacht hat.

Am Sonntag, dem 6. Mai, wurde die vom Verfassungsgericht für ungültig erklärte erste Runde der Präsidentenwahl wiederholt. Erwartungsgemäß gelang es der AKP nicht, die erforderliche Präsenz von 367 Abgeordneten sicherzustellen, da die Oppositionsparteien abermals die Sitzung boykottierten. Zur Abstimmung erschienen nur 358 Parlamentarier. Außenminister Abdullah Gül gab darauf den Rückzug seiner Präsidentschaftskandidatur bekannt.

Verfassungsänderung

Die AKP konzentriert nun ihre Anstrengungen auf die Verabschiedung des Pakets mit den angekündigten Verfassungsänderungen im Parlament und auf die bevorstehende Wahlkampagne. Mit Unterstützung der 19 Abgeordneten der konservativen Mutterlandspartei (ANAP) ist es ihr gelungen, am Montag, den 7. Mai, in erster Lesung die Verfassungsänderung zur Direktwahl des Staatspräsidenten und Kürzung der Legislaturperiode des Parlamentes gegen den Widerstand der CHP zu beschließen. Allerdings bedarf es einer zweiten Lesung (die frühestens nach 48 Stunden stattfinden darf), um die Verfassungsänderung mit einer Zweidrittelmehrheit rechtmäßig zu verabschieden. Vor dem Inkrafttreten müsste noch der amtierende Staatspräsident Necdet Ahmet Sezer – ein entschiedener Gegner der AKP – dem Gesetz seine Zustimmung geben. Er hätte 15 Tage Zeit, um es zu prüfen und eventuell an das Parlament zurückzuschicken. Nach einer erneuten 15tägigen Wartefrist könnte er – falls er den Änderungen immer noch nicht zustimmt - ein Referendum ansetzen, das 120 Tage später stattfinden würde.

Die Opposition kritisiert, dass eine Direktwahl des Präsidenten einschneidende Folgen für das parlamentarische System mit sich bringe. Nachdem das Parlament bereits Neuwahlen für den 22. Juli beschlossen habe, sei das gegenwärtige Parlament zu solch weit reichenden Verfassungsänderungen nicht berechtigt.

Verfassungsrechtler halten Änderungen der Verfassung vor den Parlamentswahlen für äußerst unwahrscheinlich. Die beiden politischen Lager richten deshalb ihre Kräfte auf den Wahlkampf. Das Formieren von politischen Bündnissen und Koalitionen hat bereits begonnen. Die beiden konservativen Parteien ANAP und DYP haben sich nach zähen Verhandlungen am Freitag, den 4. Mai geeinigt, unter dem Namen „Demokratische Partei“ (DP) zu fusionieren und zu den Wahlen als neue Partei anzutreten. Auch im linken Lager gibt es Bemühungen, einen Zusammenschluss zwischen der CHP und der DSP (Demokratische Linkspartei) zu erzielen, allerdings bislang ohne Erfolg.

Schaden für türkische Demokratie

Die politische Krise um die Präsidentschaftswahl hat der Demokratie und der Rechtstaatlichkeit in der Türkei Schaden zugefügt. Das eigentliche Problem, die politische Spaltung der Gesellschaft und der Machtkampf zwischen dem säkularen und religiösen Lager, ist nicht gelöst. Sollte die AKP – wie viele Meinungsumfragen voraussagen – bei den vorgezogenen Parlamentswahlen gewinnen und erneut die absolute Mehrheit der Mandate erringen, könnte die Türkei an dem Punkt zurückgekehrt sein, an dem die Krise mit dem Eingreifen des Verfassungsgerichts begonnen hat.

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