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Länderberichte

Quo vadis Tadschikistan?

von Dr. Thomas Kunze, Lina Gronau
Tadschikistan, das ärmste Land Zentralasiens, das bisher als einigermaßen freiheitlich galt, macht seit Sommer 2010 vor allem negative Schlagzeilen. Mehrere Terroranschläge auf Polizei, Zivilisten und Armee haben die relative Ruhe im Land zerstört. Wie genau die Lage sich entwickeln wird, kann niemand sagen: Die Regierung hat Teile des Landes vollständig abgeriegelt und gibt nur spärliche Informationen heraus. Im gebirgigen Osten Tadschikistans hat der Kampf gegen den Terror Einzug gehalten. Nur gegen wen genau die tadschikische Armee dort kämpft, ist unklar.

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Die komplexe innenpolitische Lage und die jetzigen Vorkommnisse lassen sich nur im Zusammenhang mit der jüngeren Geschichte Tadschikistans erklären. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte Tadschikistan von allen zentralasiatischen Ländern den schwersten Start. Schon früher galt es als das Armenhaus der Sowjetunion, nur 7 % seiner Fläche ist besiedel- und bewirtschaftbar, der Rest ist eine beeindruckende, jedoch kaum zugängliche Berglandschaft. In Tadschikistan wird, wie im Rest Zentralasiens auch, Baumwolle angebaut. Wertvolles Land, auf dem Nahrungsmittel gezogen werden könnten, ist so für die arme Bevölkerung relativ nutzlos, denn die Erlöse aus der Baumwolle landen – natürlich – nicht bei der Bevölkerung. So ist das Land seit dem Wegfall der Versorgung durch die Sowjetunion dringend auf Unterstützung durch internationale Hilfsorganisationen angewiesen.

Nach der Unabhängigkeit konnte sich in Tadschikistan keine politische Kraft eindeutig durchsetzen. Die verschiedensten Gruppen konkurrierten um die Macht und damit um den Zugang zu überlebenswichtigen Ressourcen: religiöse und säkulare Kräfte, einzelne Clans und Ethnien, der Süden, der Norden, das Zentrum und der Osten des Landes. Die Differenzen zwischen den einzelnen Ethnien bzw. Bewohnern einer bestimmten Region ergeben sich nicht nur aus der Familien- oder regionalen Zugehörigkeit: Die Gruppen pflegen zum Teil völlig unterschiedliche Lebensstile, haben unterschiedliche Vorstellungen von Gesellschaft oder hängen verschiedenen religiösen Schattierungen an.

Zu diesem im Prinzip schon unüberschaubaren Interessenchaos kamen noch Einflüsse aus den Nachbarländern. So kamen unter anderem aus Afghanistan die Drogenschmuggler und die Islamisten, Russland wollte seinen gerade verlorenen Einfluss möglichst schnell zurückgewinnen. Im November 1991 gewann der ehemalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Rachmon Nabijew, die Präsidentschaftswahlen. Er baute zügig ein autokratisches Herrschaftssystem auf. Doch der Widerstand der zahlreichen oppositionellen Gruppen war zu stark. Nur ein halbes Jahr später, im Mai 1992, entbrannte ein Bürgerkrieg. Die Vereinigte Tadschikische Opposition (VTO) – ein Zusammenschluss mehrerer Interessengruppen – stürmte den Präsidentenpalast. Es kam zu bewaffneten Auseinandersetzungen in Duschanbe, die VTO musste zunächst nach Afghanistan fliehen und kämpfte von dort aus mit islamistischer Hilfe weiter. Nach und nach breitete sich die Gewalt im ganzen Land aus.

Im November 1992 stand Nabijews Regime vor einer militärischen Niederlage, seine eigenen Leute stürzten ihn schließlich. Sein Nachfolger wurde Emomali Rachmon, der offen einen Anschluss des Landes an Russland und die Wiederherstellung der Sowjetunion forderte. So konnte er sich die militärische Unterstützung der russischen Armee sichern und mit deren Hilfe die Opposition in Schach halten. Der Bürgerkrieg dauerte an, Rachmon konnte seine Macht jedoch weiter ausbauen, Ende 1994 wurde er zum Präsidenten gewählt. Kurz darauf wurde ein Waffenstillstand geschlossen. Doch erst 1997 endete der Bürgerkrieg mit einem Friedensvertrag, der versprach, die Opposition an der Regierung zu beteiligen. Dies geschah auch, wenigstens formal. Die Mehrheit der oppositionellen Warlords hielt sich an den Frieden, einige bekamen staatliche Ämter, viele aufständische Kämpfer wurden in die tadschikische Armee und Polizei integriert. Wichtigste Oppositionspartei war die zu diesem Zeitpunkt moderate Partei der Islamischen Wiedergeburt. Durch ihre Beteiligung an der Regierung kehrte in Tadschikistan zunächst Ruhe ein.

Doch der Bürgerkrieg hatte das ohnehin schon schwache Land regelrecht zerstört. Nach offiziellen Schätzungen forderte er zwischen 20.000 und 50.000 Todesopfer, internationale Beobachter gingen jedoch von 150.00 bis zu 300.000 Toten aus. Die heimische Wirtschaft, Landwirtschaft und Infrastruktur lagen in Trümmern, hunderttausende Menschen waren nach Afghanistan geflohen, ein Großteil der slawischen Bevölkerung war nach Russland abgewandert. Zudem gab es zwar offiziell demokratische Strukturen, Oppositionsparteien waren erlaubt, die Medien wenig eingeschränkt. Dennoch verfuhr der tadschikische Präsident ähnlich wie sein Kollege im benachbarten Kirgistan: In immer mehr staatlichen Ämtern waren nur noch Verwandte und Personen aus seiner Heimatregion Kulab zu finden, die Opposition wurde nach und nach aus den Regierungsgeschäften herausgedrängt.

Korruption, Inkompetenz und Vetternwirtschaft breiteten sich aus. So zogen sich die ehemaligen Warlords allmählich wieder in ihre Stammgebiete zurück und beschränkten sich zunächst darauf, die Lokalpolitik möglichst unabhängig von der zentralen Staatspolitik zu erhalten. Doch mit der Zeit wuchs der Ärger über die Regierung in Duschanbe immer weiter. Besonders die religöseren Oppositionsgruppen verschlossen sich islamistischen Einflüssen nicht, die vor allem aus Afghanistan nach Tadschikistan drangen. Der Osten des Landes, der fast ausschließlich aus unzugänglichem Gebirge besteht, wurde Rückzugsort für Angehörige der verbotenen „Islamischen Bewegung Usbekistans“ (IBU) und der Izb ut Tahrir, beides radikale Organisationen, die die Abschaffung der säkularen Staaten Zentralasiens fordern und von einem islamischen Groß-Khanat, einem Gottesstaat, träumen. Derartige Ideen finden vor allem in der Region Sogd im Norden des Landes Anklang, wo im Ferganatal Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan aufeinandertreffen und der Islam traditionell sehr präsent ist.

In den letzten Jahren gab es in Tadschikistan immer wieder kleinere Anschläge, Scharmützel unbekannter Aufständischer mit der Armee: Drohgebärden ehemaliger oppositioneller Warlords, die sich inzwischen wieder in die Illegalität begeben hatten. Unabhängige Nachrichten-agenturen der Region vermuten schon seit Jahren, dass der autoritäre Regierungsstil Rachmons und dessen an Klaninteressen orientierte Politik die früheren Rebellenführer wieder radikalisieren könnte. Gleichzeitig wird die Grenze zu Afghanistan immer mehr zum Problem. Sie verläuft hunderte Kilometer lang durch mehr oder weniger unzugängliches Gebirge und ist schwer zu sichern. Mehrere Drogenschmuggel-Routen führen von Afghanistan durch Tadschikistan, die leicht zu überwindende Grenze nutzend.

Zu Anfang des „Krieges gegen den Terror“ galt der Norden Afghanistans noch als relativ sicher, doch seit sich das vor einigen Jahren geändert hat, mehren sich auch die Gerüchte, Islamisten würden die nahen Berge Tadschikistans als Rückzugsgebiet nutzen.

Das fruchtbare Fergana-Tal, dessen tadschikischer Teil zur Region Sogd gehört, gilt den islamistischen Ideologen als „Herz“ des geplanten islamischen Großreichs. Wie erwähnt, hängen die Menschen dort ohnehin dem traditionellen Islam an, das macht die Region zur ersten Adresse für die Rekrutierer islamistischer Gruppen. Dies ist einer der Gründe, weshalb Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan ihre Bürger dort besonders scharf im Auge behalten. Und tatsächlich nehmen tadschikische Sicherheitskräfte seit Jahren immer wieder Angehörige der IBU und anderer islamistischer Gruppen in Sogd fest. Durchschnittlich sollen es mehrere Dutzend pro Jahr sein.

25 solcher Häftlinge gelang am 23. August 2010 die Flucht aus einem Hochsicherheitsgefängnis in Duschanbe. Damit dürften die neuen Probleme für Tadschikistan angefangen haben. Bei ihrer Flucht töteten die Häftlinge sechs Wärter. Eine groß angelegte Verfolgungsaktion brachte nach einiger Zeit zwar kleinere Erfolge: nach offiziellen Angaben gelang es, sieben Flüchtlinge wieder festzunehmen. Von den anderen 18 fehlt jedoch offenbar jede Spur. Nur kurze Zeit später, am 03. September 2010 gab es den ersten Selbstmordanschlag in der Geschichte des unabhängigen Tadschikistan: Ein Attentäter lenkte sein Fahrzeug auf ein Polizeigelände in Chodschent, einer größeren Stadt im Norden des Landes, brachte es zur Explosion und tötete damit drei Polizisten. Knapp 30 wurden verletzt. Am 05. September 2010 explodierte in einem Nachtklub in der Hauptstadt Duschanbe eine Bombe, sieben Menschen wurden verletzt.

Als Reaktion auf diese Ereignisse wurde die Suche nach den Flüchtlingen, die die tadschikische Regierung für beide Attentate verantwortlich machte, offenbar intensiviert. Die Militär- und Polizeipräsenz in den Gebirgen im Osten des Landes wurde verstärkt. Man vermutete sie unter anderem im Rascht-Tal, ein Gebiet, das in Grenznähe zu Afghanistan liegt und dessen Regionalpolitiker und Klanchefs der Regierung in Duschanbe sehr misstrauisch gegenüber stehen. Hier kam es bereits in der Vergangenheit immer wieder zu kleineren Zusammenstößen zwischen Militär und Aufständischen. So dann offenbar auch am 19. September 2010. Über diesen Vorfall gibt es kaum zuverlässige Informationen. Nach Regierungsangaben geriet ein Militärkonvoi in einen Hinterhalt, zwischen 20 und 40 Soldaten sollen dabei ums Leben gekommen sein. Als Täter wurden wiederum die flüchtigen Häftlinge bzw. ausländische Terroristen vermutet. Kurz nach diesem Zwischenfall ließ die Regierung die Region weitgehend abriegeln, Telefonverbindungen wurden unterbrochen, journalistische Berichterstattung wurde verhindert. Wie die Jagd nach den Terroristen nun ablief bzw. immer noch abläuft, ist unklar.

Am 04. Oktober 2010 stürzte ein Militärhubschrauber ab, der verwundete Soldaten nach Duschanbe bringen sollte. Dabei starben nach offiziellen Angaben 6 Soldaten, anonyme Quellen berichteten jedoch von 28 Opfern. Die Regierung sprach von einer technischen Panne, der Hubschrauber sei nicht abgeschossen worden. Unabhängige zentralasiatische Medien kritisierten den tadschikischen Staat daraufhin scharf, er sei nicht mehr in der Lage, für Sicherheit im Land zu sorgen. Die Regierung regierte darauf äußerst ungehalten. Sie ließ zahlreiche Webseiten sperren und beschuldigte die Massenmedien der Destabilisierung des Landes.

Am 03. November 2010 berichtete die tadschikische Nachrichtenagentur Asia-Plus lediglich, dass die militärischen Operationen im Rascht-Tal noch nicht abgeschlossen seien. Vorher hatte es Gerüchte gegeben, die tadschikischen Truppen würden aus dem Gebiet abgezogen. Des weiteren geben die Behörden kaum Informationen darüber heraus, was im Osten Tadschikistans vor sich geht. Wenn doch, sind es Erfolgsmeldungen. So habe man Ende Oktober in der Region Sogd ein Versteck ausländischer Terroristen umstellt und bereits drei Angehörige der IBU getötet. Ob die Kampfhandlungen dort noch andauern, ist nicht bekannt.

Tadschikistan ist von allen zentralasiatischen Ländern dasjenige, das am stärksten mit Instabilität durch religiöse Kräfte zu kämpfen hat. Seine Nachbarländer betrachten dieses Problem seit jeher mit Sorge. Vor allem China, Kirgistan und Usbekistan verfügen über Gebiete, in denen der Islam stark ist und deren Bevölkerungen als für islamistische Tendenzen empfänglich eingestuft werden. Sollte sich die Lage in Tadschikistan nicht bessern, könnte das auch Auswirkungen auf seine Nachbarn haben. Die Unruhen in Kirgistan bereiten Zentralasien bereits einige Sorgen, auch wenn sie momentan vorbei zu sein scheinen. Zwei Länder ohne stabile Regierung könnten bereits die kritische Masse sein, die die relative Ruhe der gesamten Region beendet. Die Öffentlichkeit fragt sich vor allem, wer da eigentlich versucht, Tadschikistan zu destabilisieren. Sind es tatsächlich „ausländische Terroristen“ aus Afghanistan, Pakistan und Tschetschenien, wie die Regierung behauptet? Gibt es vielleicht auch schon „einheimische“ Terroristen? Angesichts der Armut im Land wäre das keine völlig abwegige Vermutung. Oder sind es doch die alten Warlords aus dem Bürgerkrieg, die ihre Kämpfer reaktiviert haben, weil sie die Regierung Rachmon nicht mehr dulden wollen? Vielleicht haben sich auch mehrere Lager zusammengetan. Sofern man überhaupt von Lagern sprechen kann. Denn die tadschikischen oppositionellen Kräfte waren von Anfang an auch religiös geprägt, im Gegensatz zur säkularen Regierung. Die Partei der Islamischen Wiedergeburt ist nach wie vor stärkste Oppositionspartei mit wachsendem Rückhalt in der Bevölkerung. Sie galt bisher als weltoffen und moderat, offenbarte jedoch jüngst immer deutlicher radikale, agressive Tendenzen, vor allem unter den jüngeren Mitgliedern. Die älteren Parteieliten versuchen diese Entwicklung zu bremsen bzw. nicht bekannt werden zu lassen. Doch realistisch gesehen dürfte es nicht mehr lange dauern, bis aus der islamischen eine islamistische Partei geworden ist, die Anspruch auf die Macht erhebt. Vermutlich sind die Grenzen zwischen „alter“, einheimischer Opposition und „neuen“, von außen kommenden islamistischen Einflüssen inzwischen eher schwimmend. Es bleibt zu hoffen, dass Regierung und Militär wissen, mit wem sie es zu tun haben und dass sie der Destabilisierung angemessen entgegenwirken können. Denn so sehr man die Regierung Rachmon kritisieren kann: Das tadschikische Volk, ebenso wie die Region Zentralasien, kann weder afghanische Verhältnisse in Tadschikistan noch einen neuen Bürgerkrieg um die Regierungsmacht gebrauchen.

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21. September 2010
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