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Interview: Für einen weltoffenen Islam

von Mouhanad Khorchide

Was es bedeutet, für ein modernes Islamverständnis einzustehen

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Sie setzen sich für eine historisch-kritische Lesart des Korans und eine moderne Interpretation des Islam ein. Wie kann ein solcher Islam aussehen?

Mouhanad Khorchide: Ein solcher Islam ist ein offener Islam. Er ist ein Islam, der nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern in einem historischen Kontext entstanden ist. Um den Islam zu verstehen, müssen wir die historischen Rahmenbedingungen zu seiner Entstehungszeit ab dem 7. Jahrhundert berücksichtigen. Erst vor diesem Hintergrund können wir verstehen, was uns der Koran heute, im 21. Jahrhundert, sagen will. Ein solcher moderner, progressiver und damit offener Islam sollte sich an erster Stelle als eine Plattform der Entfaltung von Spiritualität und Ethik verstehen. Es geht also weniger um die Klärung von Rechtsfragen, sondern vielmehr um eine ethische Anstrengung sowie um die Entfaltung von Liebespotenzialen im Islam. Mit so einem Islam können alle in einer modernen Gesellschaft friedlich und konstruktiv zusammenleben.

An welche Traditionslinien und theologischen Diskurse in der islamischen Welt knüpfen Sie bei der Entwicklung eines solchen Islamverständnisses an?

Mouhanad Khorchide: Innerhalb der islamischen Ideengeschichte gibt es verschiedene Ansätze, auf die ich mich beziehe. Das betrifft vor allem die islamische Mystik und rationale Ansätze in der systematischen Theologie sowie die klassische islamische Philosophie, die sich im Mittelalter offen gegenüber anderen religiösen Traditionen gezeigt hat. Viele theologische und philosophische Konzepte und Ideen nicht-islamischer Denker sind damals übersetzt, kommentiert und in die islamische Theologie eingebaut worden. Vor allem vom 9. bis zum 13. Jahrhundert wurden damit theologische Konzepte entwickelt, an die sich heute anknüpfen lässt. Daher ist mein Islamverständnis kein von außen in die islamische Tradition hineingetragenes, sondern es greift vielmehr islamische Traditionslinien, vor allem des sogenannten Mittelalters, wieder auf.

Wie kommt das bei jungen Leuten an?

Mouhanad Khorchide: Gerade junge Muslime in Europa wollen einen solchen offenen Islam. Sie finden oft keinen Anschluss in den traditionellen Moscheegemeinden und fühlen sich von diesen nicht wirklich angesprochen. Die Imame der traditionellen Verbände und Moscheen kommen meist aus dem Ausland und kennen die Lebenswirklichkeit junger Muslime in Europa nicht. Sie repräsentieren ein Islamverständnis, nach dem meist keine Fragen gestellt werden dürfen. Die jungen Muslime müssen sehr oft vieles einfach unhinterfragt hinnehmen. Viele junge Leute suchen daher nach Alternativen. Sie wollen keinen Islam, der auf Angst und Gehorsam beruht. Sie wollen nicht bevormundet werden. Ich will ihnen dabei helfen, einen anderen Zugang zum Glauben zu finden. Es geht mir um eine Vertrauensbeziehung des Gläubigen zu Gott.

Mit welchen Widerständen haben Sie bei Ihrer Suche nach einem in Deutschland beheimateten Islam zu kämpfen?

Mouhanad Khorchide: Einerseits mit dem Widerstand von Islamisten und Salafisten. Diese Leute beanspruchen für sich, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein und den einzig wahren Islam zu vertreten. Hiervon abweichende Auslegungen lehnen sie ab. Aus dieser Richtung erhalte ich sogar Morddrohungen. Aber auch bei den großen islamischen Verbänden treffe ich zum Teil auf Ablehnung. 2013 haben diese ein Gutachten zu meinem Buch „Islam ist Barmherzigkeit“ herausgegeben, in dem sie argumentieren, ich würde mich „am Rande des Islam“ bewegen. Dabei ging es ihnen offensichtlich nicht um Inhalte, sondern um Machtfragen und damit um die Deutungshoheit über den Islam in Deutschland. Schließlich erlebe ich teilweise aber auch Ablehnung in der islamkritischen nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft. Auch hier gibt es Stimmen, die behaupten, nur der aggressive, gewalttätige Islam sei der richtige Islam. Sie werfen mir vor, ein geschöntes Bild zu zeichnen.

Wie gehen Sie mit Beschimpfungen, Diskreditierungen und Morddrohungen um?

Mouhanad Khorchide: Anfang 2013, als ich zum ersten Mal Morddrohungen erhielt, war das sehr belastend. Ich musste meine Wohnung im ersten Stock aufgeben, mich an viele Sicherheitsmaßnahmen gewöhnen und bei jedem Auftritt die Polizei benachrichtigen. Irgendwann habe ich angefangen, mich andauernd umzuschauen. Mittlerweile habe ich mich an vieles gewöhnt. Gerade wenn ich mit jungen Menschen arbeite und sehe, dass ich etwas verändern kann, gibt mir das viel Kraft und Hoffnung. Ich habe auch gelernt, besser mit Kritik umzugehen. Wenn Kritik berechtigt ist, dann versuche ich, daraus zu lernen. Wenn sie aber nur verletzend und polemisch ist, dann ignoriere ich sie.

Bekommen Sie vom Staat, von der Gesellschaft und aus den muslimischen Gemeinden genug Unterstützung?

Mouhanad Khorchide: Die muslimischen Gemeinden sind vielfältig und reagieren dementsprechend unterschiedlich auf meine Arbeit. Manche sind sehr offen und laden mich regelmäßig zu Vorträgen ein. Das trifft allerdings nicht unbedingt auf die großen Verbände zu. Aus Politik und Gesellschaft erfahre ich viel Zuspruch und Unterstützung. Das gilt vor allem für meine Universität und für das Bildungsministerium in Nordrhein-Westfalen. Auch der Besuch von Bundespräsident Joachim Gauck in unserem Zentrum für Islamische Theologie im November 2013 war ein starkes Zeichen. Mir persönlich ist es aber am wichtigsten, dass aus ganz Deutschland junge Muslime an den Lehrstuhl kommen und mir sagen, dass sie genau nach dieser offenen Auslegung des Islam suchen. Die große Zahl der Bewerbungen für unseren Studiengang betrachte ich als Bestätigung meiner Arbeit. Wir haben etwa 850 Studierende an unserem Zentrum, seit 2012 gab es um die 7.000 Bewerbungen. Auch die vielen positiven Mails und Rückmeldungen junger Muslime in Deutschland machen mir große Hoffnung.

Angesichts des großen Interesses stellt sich die Frage, welche Berufsperspektiven die Absolventen Ihres Studiengangs erwarten. Zurzeit verlassen die ersten in Deutschland ausgebildeten Religionslehrer und Theologen die Universitäten. Welche Rolle können und sollen sie spielen?

Mouhanad Khorchide: Es gibt bislang 60 bis 90 Absolventen. Bei vielen handelt es sich um Religionslehrerinnen und -lehrer, also um religiöse Multiplikatoren, die später an Schulen tätig sein sollen und hier auch als Ansprechpartner für die Eltern und Kollegen zur Verfügung stehen. Ich erwarte, dass ihre Aufnahme in den Schuldienst klappt, und hoffe, dass diese jungen Multiplikatoren ein positives Islambild in die Gesellschaft und die muslimischen Gemeinden tragen werden. Ich ermuntere meine Studenten außerdem, mit den muslimischen Gemeinden zusammenzuarbeiten, damit sich diese stärker für ein progressives Islambild öffnen.

Noch lehnen viele dieser Gemeinden und vor allem die großen Verbände, die ja auch über Berufsperspektiven von Religionslehrern mitentscheiden, Ihre reformtheologischen Überlegungen ab. Wie wollen Sie das ändern?

Mouhanad Khorchide: Es geht hier um die Deutungshoheit. Wer spricht für den Islam? Es ist eher eine Machtfrage und weniger eine theologisch-inhaltliche. Schauen wir uns die Statistiken an. Detlef Pollack, Professor für Religionssoziologie und Sprecher des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ an der Universität Münster, hat im Mai 2016 eine Studie zur Religiosität von türkischstämmigen Muslimen in Deutschland herausgegeben. Die Studie hat ergeben, dass 32 Prozent der Befragten aus der ersten Generation mindestens einmal in der Woche die Moschee besuchen. Bei der zweiten und dritten Generation waren es nur noch 23 Prozent. Nur noch knapp ein Viertel der türkischstämmigen Muslime fühlt sich also von den existierenden Moscheegemeinden angesprochen. Das heißt: Die Zukunft gehört denen, die den restlichen drei Vierteln ein Angebot machen. Ich hoffe, dass die Vertreter der Verbände ihre Gemeinden durch die Arbeit unserer Absolventen bereichern lassen werden und verstehen, dass die jungen Muslime nach offeneren Interpretationen des Islam suchen. Sonst verlieren wir unsere Jugendlichen.

Sie sprachen die Macht- und Deutungsfrage an. Das Oberverwaltungsgericht in Münster hat am 9. November 2017 entschieden, dass zwei der wichtigsten Islamverbände in Deutschland keine Religionsgemeinschaften im Sinne des Grundgesetzes sind. Was halten Sie von dieser Entscheidung?

Mouhanad Khorchide: Ich bin zwar kein Jurist, aber ich habe die Gerichtsentscheidung so verstanden, dass sie damit begründet wird, dass die Verbände die juristischen Voraussetzungen, die an den Erwerb des Status einer Körperschaft geknüpft sind, noch nicht erfüllen. Selbst wenn diese Voraussetzungen eines Tages gegeben sein sollten, kann es nicht sein, dass nur ein Teil des Islam in Deutschland als Religionsgemeinschaft anerkannt wird. Denn der Islam ist vielfältiger, als uns bewusst ist. Auch bei der Klärung des Rechtsstatus des Islam in Deutschland muss daher dieser innerislamischen Vielfalt Rechnung getragen werden. Deshalb sollten letztendlich nicht nur die großen Verbände als Religionsgemeinschaften anerkannt werden, sondern auch andere, ein progressiveres und offeneres Islamverständnis vertreten.

Was kann der Staat dazu beitragen, diese Vielfalt auch rechtlich abzubilden?

Mouhanad Khorchide: Der Islam ist nicht hierarchisch organisiert. Er kennt keine Kirche, keine religiöse Organisation und keine Mitgliedschaft. Der Staat sollte dieser Tatsache Rechnung tragen und den Muslimen in der Frage der Organisation entgegenkommen. Wenn staatlicherseits immer darauf gedrängt wird, dass die Muslime eine Art Kirche gründen sollten, werden wir in der Frage der Anerkennung nicht weiterkommen. Der Staat muss bei dieser Frage über seinen Schatten springen und überlegen, wie er neue Kooperationsformen und Kooperationswege bereitstellen kann, um dem Islam gerechter zu werden. Ich denke hierbei an Beiräte oder Expertenkomitees. Wichtig ist aber vor allem, dass in jedem Modell staatlicher Kooperation mit dem Islam die Bandbreite islamischer Prägungen repräsentiert ist. Ich möchte meine Religion in Deutschland wiedererkennen und keine verkirchlichte Form davon vorfinden.

Das wäre aber Neuland. In allen islamischen Ländern gibt es einen offiziellen Kooperationspartner auf islamischer Seite. Sie fordern also ein völlig neues Modell der Beziehung zwischen Staat und Islam?

Mouhanad Khorchide: In den islamischen Ländern gibt es Religionsministerien, die staatlicherseits kontrolliert werden. Da herrscht ein Staatsislam. Mir geht es hingegen um einen Ansatz, der dem Selbstverständnis des Islam gerecht wird. In islamischen Ländern kontrolliert der Staat selbst die Angelegenheiten des Islam. Hier gibt es Religionsämter oder Religionsministerien, die bestimmen, was in den Moscheen gepredigt und in den Schulen gelehrt wird. Das kann kein Modell für den Islam in Deutschland sein. Ich warne davor, dass man jetzt auch hierzulande einen Staatsislam „bastelt“. Stattdessen sollten sich beide Seiten – Staat und Muslime – zusammensetzen und überlegen, wie man in einem gegenseitigen Kooperationsverhältnis den Besonderheiten des Islam und seiner Vielfalt gerechter werden kann.

Viele Beklagen eine Distanz von Muslimen zum Staat. Glauben Sie, dass eine Klärung des Rechtsstatus helfen kann, diese Distanz zu überwinden?

Mouhanad Khorchide: Wir brauchen auf jeden Fall mehr Verständigung auf juristischer Ebene. Viele Muslime fühlen sich momentan vom Staat im Stich gelassen, vor allem weil die Stimmung in der Gesellschaft zu kippen droht. Der Islam wird in erster Linie als Bedrohung und Problem gesehen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir zur Normalität finden, sei es beim Kopftuch, beim Moscheebau, bei der Einhaltung von Gebetszeiten oder bei Minaretten. Das alles sollte zur Normalität und nicht zum Problem werden. Hierbei kann der Staat durch klare Regeln helfen.

Sie sprachen von muslimischen Vorbildern. Eines davon sind Sie selbst. Passt Ihnen diese Rolle? Wie gehen Sie damit um?

Mouhanad Khorchide: Ich sehe mich vor allem als Brückenbauer oder als jemand, der in zwei Richtungen wirken will. Auf der einen Seite kläre ich innerislamisch auf und will für einen offenen Islam werben. Auf der anderen Seite wirke ich in die Mehrheitsgesellschaft hinein und versuche, ein differenziertes Bild vom Islam zu vermitteln. Es ist nicht so, dass ich den Islam oder Deutschland verändern will. Aber ich versuche, meinen Beitrag zur Entstehung eines modernen und moderaten Islamverständnisses zu leisten.

Heißt das, dass der moderne Islam ein europäischer Islam sein wird?

Mouhanad Khorchide: Ich sehe die größten Chancen in Europa. Interessanterweise wird das in der islamischen Welt ähnlich gesehen. Ich f liege demnächst nach Kairo, wo ich an der Universität Magisterarbeiten betreue. Dort sagt man mir oft, dass man sich neue theologische Impulse aus Europa erhofft. Auch der Großscheich der Al-Azhar-Universität hat mir bei einem Besuch im vorigen Jahr gesagt: Wir wiederholen immer die gleichen Fragen und Antworten, und wir stehen unter enormem politischem Druck, sodass wir viele Fragen und Überlegungen nicht öffentlich machen können. Aber ihr könnt in Europa frei und ohne politische Einflussnahme forschen. Wenn es zu Veränderungen kommen wird, dann werden die von euch ausgehen. Ihr habt uns mehr zu sagen als wir euch. Ähnliches höre ich von Gesprächspartnern aus Marokko, Jordanien und sogar aus Indonesien. Es ist in der Tat keine Selbstverständlichkeit, dass islamische Theologie an einer Universität so viel freien Raum hat und keinem politischen Diktat unterliegt. Das gibt es im islamischen Raum kaum. Aber das gibt es in Deutschland.

Das Gespräch führte Andreas Jacobs, Koordinator Islam und Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung, am 28. November 2017.

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Mouhanad Khorchide, geboren 1971 in Beirut (Libanon), Soziologe, islamischer Theologe, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie und Professor für Islamische Religionspädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

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