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Indiens junge Demografie und alte Demokratie

Warum die politische Repräsentation in Indien vor Herausforderungen steht

Rund um Indien sind politische Systeme im Umbruch, wobei in Nepal kürzlich beobachtet werden konnte, wie die junge Generation gegen die gesamte Parteienlandschaft bzw. gegen die aus ihrer Sicht überalterte politische Klasse rebellierte. Auch Indienreisenden fällt sofort auf, dass das Land eine junge Bevölkerung hat. Kinder, Teenager und Menschen in ihren Dreißigern prägen das Straßenbild. Die indische Politik hingegen wird in erster Linie von älteren Herren verkörpert. Doch lässt sich dieses Phänomen statistisch erfassen? Klaffen die junge Demografie des Landes und die vermeintlich deutlich ältere politische Klasse weiter auseinander, als es in anderen Ländern der Fall wäre?

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Shpërndaj

Indien und China werden im Hinblick auf die Größe ihrer Bevölkerung oftmals in einem Atemzug genannt. Allerdings gibt es enorme Unterschiede bei der Zusammensetzung der Bevölkerung. Täglich werden weltweit rund 380 Tsd. Menschen auf der Welt geboren. 65 bis 70 Tsd. dieser Neugeborenen sind Inder, also fast jedes fünfte Baby. „Ein durchschnittlicher Inder ist inzwischen etwa 10 Jahre jünger als sein chinesisches Pendant.“[1]  Laut dem letzten UN-Bericht „8 Milliarden Menschen, unendliche Möglichkeiten“, der im April 2023 veröffentlicht wurde, ist Indien inzwischen das bevölkerungsreichste Land der Welt. Indien hat ein „Fertilitätsersatzniveau“ von knapp über zwei Kindern pro Frau erreicht, während es in China zwischen 1,2 und 1,3 Kinder liegt. Die Bevölkerung Indiens wird noch einige Zeit weiterwachsen, da die Mehrheit der Inderinnen im gebärfähigen Alter ist oder in dieses kommt – zwei Drittel der Bevölkerung sind unter 35 Jahre alt. Ein weiterer Grund sind die immer besser werdenden Lebensbedingungen und damit eine höhere Lebenserwartung. „Dies bedeutet, dass der sogenannte „Abhängigenquotient“ in Indien bis 2078 voraussichtlich nicht in den negativen Bereich kippen wird. Selbst wenn dies eintritt, wird diese Entwicklung langsam erfolgen, so dass sich der indische „Abhängigenquotient“ bis zum Jahr 2100 als äußerst robust erweisen dürfte.“[2] Auf absehbare Zeit wird Indien somit eine ‚junge‘ Demografie haben. Folgt man der Definition der indischen Regierung, umfasst der Begriff ‚Jugend‘ alle Personen unter 29 Jahren. Dies entsprach rund 730 Mio. Indern im Jahr 2023, also rund 62 Prozent der indischen Gesamtbevölkerung[3]. Diese Zahlen wirken nach: Die gesamte Europäische Union mit 450 Mio. Einwohnern sowie Japan und Russland haben insgesamt weniger Einwohner als Indien Einwohner unter dreißig Jahren hat. Dies bedeutet eine enorme demografische Dividende im Hinblick auf die Arbeitskraft, die in Indien auf absehbare Zeit vorhanden sein wird. Bei ausbleibendem Wirtschaftswachstum kann diese Demografie allerdings auch zu einem Pulverfass werden und hat das Potenzial, die mit weitem Abstand größte Migrationsbewegung der Menschheitsgeschichte in Gang zu setzen.

 

Wie sich die junge Demografie Indiens nicht auf sein politisches System auswirkt

Es drängt sich die Frage auf, was es für ein demokratisches System bedeutet, wenn eine Gesellschaft eine so junge Bevölkerung hat. Bei den Wahlen im Jahr 2024 wurde das älteste Unterhaus seit 1952 gewählt. Im Lok Sabah sind es 60 Abgeordnete, die zwischen 25 und 40 Jahren alt sind. Diese Alterskohorte war in den beiden vorherigen Legislaturperioden größer. Blickt man auf die älteren Alterskohorten, dann zeigt sich, dass jeder dritte Abgeordnete des indischen Unterhauses zwischen 60 und 70 Jahren alt ist. Auch vor den Lok-Sabah-Wahlen im Jahr 2024 befand sich die Zahl der Parlamentarier, die über 70 Jahre alt waren, auf einem Rekordniveau. Dieser Rekord wurde nach der Wahl eingestellt. Es gibt zudem einige Abgeordnete, die zwischen 80 und 90 Jahren alt sind, was umso bemerkenswerter ist, da dies weit über der durchschnittlichen Lebenserwartung in Indien liegt. Im Vergleich zu Deutschland kann man etwas überspitzt die Aussage treffen, dass Bundestagsabgeordnete fast eine Dekade jünger sind als ihre indischen Kollegen – obwohl die Bevölkerung, die sie repräsentieren sollen, gut 15 Jahre älter ist als ihr indisches Pendant[4]. Seit den ersten Wahlen des Unterhauses 1951-52 wurde das Unterhaus stetig älter[5]. Die Diskrepanz zwischen der Demografie und dem Alter der Parlamentarier lässt sich leicht anhand der einzelnen Alterskohorten verdeutlichen. Nicht einmal fünf Prozent der indischen Bevölkerung ist zwischen 70 und 80 Jahre alt. Dies trifft jedoch auf gut über 10 Prozent der Parlamentarier im Unterhaus zu. In den Alterskohorten 50 bis 60 und 60 bis 70 sind jeweils ungefähr 30 Prozent der Mitglieder des Unterhauses zu verorten. Beide Alterskohorten machen aber nur jeweils vier bzw. fünf Prozent der Bevölkerung aus. Die Alterskohorte der unter 25-Jährigen stellt ungefähr 50 Prozent der indischen Bevölkerung. Sie ist im Parlament nicht wirklich vertreten[6]. Im 1. und 2. Unterhaus gab es jeweils über 160 Parlamentarier, die zwischen 25 und 40 Jahre alt waren. Die schwache Repräsentation des jüngeren Teils der Bevölkerung war also nicht von Anfang an gegeben. Ab dem 16. Lok Sabah war die Altersgruppe mit weniger als 70 Mitgliedern im Parlament vertreten[7].

Bei einer Analyse aus dem Jahr 2023, welche die Vorsitzenden der relevantesten Parteien (elf insgesamt) zugrunde legt, kam ein Durchschnittsalter der Parteivorsitzenden von 67 Jahren heraus. Der Jüngste war 50 Jahre alt.  Eine Analyse der Vorsitzenden der Jugendorganisation dieser Parteien aus demselben Jahr ist noch interessanter. Indiens zweitgrößte Partei hatte eine Jugendorganisation, dessen Vorsitzender 42 Jahre alt war. Eine andere Partei hatte eine Jugendorganisation mit einem 50-jährigen Vorsitzenden[8]. Von den fünfzehn Staatspräsidenten war die Mehrheit zum Zeitpunkt des Amtsantrittes über 70 Jahre alt. Die jüngste Person, die dieses Amt jemals antrat, war 64 Jahre alt. Premierminister Modi kam im Alter von 63 Jahren in das Amt des Regierungschefs, was in Deutschland kein Aufsehen erregt hätte. Zum Ende seiner Dritten Legislaturperiode wird er 78 Jahre alt sein. Sein Vorgänger Manmohan Singh wurde im Jahr 2004 mit 71 Jahren Premierminister und schied mit über 80 Jahren aus dem Amt. Vier Premierminister wurden mit über 70 Jahren vereidigt und weitere vier im Alter von über 60 Jahren. Morarji Desai wurde 1977 im Alter von 81 Jahren Premierminister. In diesem Jahr lag die Lebenserwartung in Indien bei Mitte 50. Lediglich Indira Gandhi mit 48 Jahren und Rajiv Gandhi mit 40 Jahren waren zum Zeitpunkt ihres Amtsantrittes deutlich jünger. Da es sich in beiden Fällen um Kinder der Amtsvorgänger handelte, hat hier die Biologie die entscheidende Rolle gespielt. Indira Gandhi war 66 Jahre alt, als sie starb, sodass ihr Amtsnachfolger und Sohn, Rajiv Gandhi, um die 40 Jahre alt war und nicht das für indische Premierminister übliche hohe Alter haben konnte. Auch indische Minister sind üblicherweise relativ alt. Im Jahr 2022 wählte der INC, also die zweitgrößte Partei des Landes, einen Achtzigjährigen zum Vorsitzenden. Eine Fußnote ist das Amt des Jugendministers. Im Jahr 2008 trat ein Herr dieses Amt an, der zu diesem Zeitpunkt 73 Jahre alt war; 2004 kam Sunil Dutt in das Amt, der 75 Jahre alt war und im Amt verstarb[9].

 

In Bezug auf die Festlegung des Wahlalters erhärtet sich der Eindruck. Vergleicht man Länder, die nicht alle zwangsweise als Demokratien definiert werden können, aber in denen es immerhin Wahlen gibt, ergeben sich über 70 Referenzwerte, wobei das Wahlalter in der Regel bei 18 Jahren oder sogar 16 Jahren liegt. Auffällig hierbei ist, dass viele bzw. fast alle Länder in der Vergangenheit ein höheres Wahlalter hatten. In Indien wurde das Wahlalter von 21 auf 18 Jahre gesenkt - dies geschah 1989[10]. Es lässt sich ein globaler Trend erkennen, die Altersgrenze für das aktive Wahlrecht abzusenken. Die Mehrheit der Demokratien ist diesem Trend gefolgt, wobei Indien das letzte Land war, das dies tat.  Zudem sind das aktive und das passive Wahlrecht in Indien mit unterschiedlichen Altersgrenzen versehen. Jemand kann mit 18 Jahren wählen, aber man muss mindestens 25 Jahre alt sein, um für das Unterhaus kandidieren zu können, und mindestens 30 Jahre alt sein, um für das Oberhaus kandidieren zu können[11].

 

Diese und andere Beispiele zeichnen ein klares Bild: Die politische Klasse Indiens ist erstaunlich alt, obwohl das Land eine sehr junge Bevölkerung hat. ‚Gerontokratie‘ geht auf das griechische Wort Geron (Greis) zurück und bedeutet „Herrschaft der Alten“. Sie ist eine Herrschaftsform, in der Menschen hohen Alters politische Entscheidungen treffen. Keine andere Demokratie der Welt zeigt dieses Phänomen evidenter als Indien[12]. Der Buchautor und Jugendaktivist Sudhanshu Kaushik misst dem Alter in der Politik eine normative Note bei. „Age, then, isn't just a number. It measures if our leaders are closer to the past than they are to the future.”[13].

 

Indiens Geschichte wurde von jungen Köpfen geprägt

Das ist verwunderlich, da es in der indischen Geschichte viele Beispiele für junge Menschen gibt, die früh Verantwortung übernommen haben. Ein Beispiel ist Bhagat Singh, ein Freiheitskämpfer, der 1931 im Alter von 23 Jahren hingerichtet wurde, nachdem er einen Bombenanschlag verübt hatte. Der berühmte Chandrashekar Azad war Mitte 20, als er im Kampf mit der Kolonialmacht starb. Rani Gaidinliu wurde mit 16 Jahren für 15 Jahre inhaftiert. Bisra Munda war ein indigener Freiheitskämpfer, der mit 20 Jahren eine Rebellion gegen die Briten anführte und später im Gefängnis verstarb. Im indischen finden sich ebenso wie im europäischen Mittelalter viele Herrscher, die als Teenager den Thron bestiegen und die Amtsgeschäfte führten. Auch der berühmte indische Denker Swami Vivekananda starb 1902 bereits im Alter von 39 Jahren. Sein Hauptwerk entstand im Alter von 30 Jahren. Auch in der indischen Götterwelt gibt es mit Ram, Krishna, Ganesha oder Abhimanyu junge Charaktere. Nicht zuletzt war das in den 1950er Jahren gewählte Parlament sehr viel jünger. Das Phänomen der indischen Gerontokratie könnte daher eher praktische Ursachen haben. Die enormen Geldmittel, die man benötigt, um als Parlamentarier kandidieren zu können, können vielleicht erst Menschen aufbringen, die am Ende ihres Erwerbslebens stehen. Gegen diese Interpretation spricht natürlich, dass in Indien Politdynastien an der Tagesordnung sind und es deshalb eher die Regel als die Ausnahme ist, dass spätere Politiker bereits wohlhabend geboren werden. Es gibt auch die Argumentation, dass es sich um eine Art bewusste Verschwörung der älteren Generation handelt. Ruft man sich in Erinnerung, dass zwei Drittel der Bevölkerung unter 35 Jahre alt sind, dann könnte dies schnell zu einer Herrschaft der Jungen (gegen die Alten) führen. Belege fehlen für diese Theorie. Das Phänomen der indischen Gerontokratie lässt sich nur schwierig erklären. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2025 gab es breite öffentliche Debatten, ob der Parteivorsitzende der CDU, Friedrich Merz, nicht bereits zu alt sei. Es gibt in Deutschland eine Altersdiskriminierung gegenüber jungen Menschen ebenso wie gegenüber älteren Menschen. In Indien gibt es Altersdiskriminierung jedoch lediglich gegen junge und nicht gegen ältere Menschen. Dies ist der entscheidende kulturelle Unterschied. In Indien wird das Leben nicht als Parabel verstanden. Ein Konzept des Lebensabends oder der Pension ist nicht verbreitet. Für einen indischen Politiker stellt sich deshalb nicht die Frage, ab einem gewissen Alter freiwillig aus dem Amt zu scheiden, sondern er wird lediglich seine Gesundheit als Maßstab nehmen.

 

Offen bleibt, ob diese Entwicklung abgeschlossen ist, also ob die politische Klasse in den kommenden Jahren noch älter werden wird. Schlussendlich läuft es auf die Frage hinaus, wie weit Repräsentanten und Repräsentierte im Hinblick auf ihr Alter voneinander entfernt sein können. Keine irrelevante Frage, wenn man bedenkt, dass Indien eine hohe Jugendarbeitslosigkeit verzeichnet. Momentan scheinen Hunderte Millionen von jungen Inderinnen und Indern die Gerontokratie zu akzeptieren. Die demografische Analyse der Repräsentanten und der Repräsentierten in der indischen Demokratie ist kein bloßer Statistikfetischismus. Im Nachbarland Nepal hat gerade die junge Generation nicht nur die Regierung, sondern die gesamte politische Klasse gewaltsam aus dem Amt gefegt. In Indien ist das politische System stabiler, die Korruption geringer, die wirtschaftliche Lage besser und nicht zuletzt ist die regierende BJP in der Lage, mit altem Personal junge Wählerinnen und Wähler anzusprechen. Narendra Modi ist trotz seines hohen Alters bei jungen Wählern beliebt. Nepal ist einerseits ein Extrem, andererseits steht es beispielhaft für viele Demokratien, die eine sehr junge Demografie und gleichzeitig eine überalterte politische Klasse aufweisen. Dieses Phänomen existiert wie im vorangegangenen aufgezeigt, so auch in Indien. Das politische Erdbeben im Nachbarland sollte zumindest nicht als genuin nepalesisches Ereignis abgetan werden.

 

[1] Länderbericht, Marini Schäfer, August 2023, Das bevölkerungsreichste Land der Welt – Fluch oder Segen?

[2] Länderbericht, Marini Schäfer, August 2023, Das bevölkerungsreichste Land der Welt – Fluch oder Segen?

[3] Kaushik, Sudhanshu (2023); The Future is ours; Harper Collins Publisher, S.9

[4] Länderbericht Konrad-Adenauer-Stiftung: Götterdämmerung in Indien? Juni 2024 Dr. Adrian Haack, Elias Marini Schäfer

[5] Kaushik, Sudhanshu (2023); The Future is ours; Harper Collins Publisher, S.49

[6] Kaushik, Sudhanshu (2023); The Future is ours; Harper Collins Publisher, S.51

[7] Kaushik, Sudhanshu (2023); The Future is ours; Harper Collins Publisher, S.59

[8] Kaushik, Sudhanshu (2023); The Future is ours; Harper Collins Publisher, S.164ff

[9] Kaushik, Sudhanshu (2023); The Future is ours; Harper Collins Publisher, S.85

[10] Kaushik, Sudhanshu (2023); The Future is ours; Harper Collins Publisher, S.113ff

[11] Kaushik, Sudhanshu (2023); The Future is ours; Harper Collins Publisher, S.154

[12] Kaushik, Sudhanshu (2023); The Future is ours; Harper Collins Publisher, S.53

[13] Kaushik, Sudhanshu (2023); The Future is ours; Harper Collins Publisher, S.197

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Portrait Adrian Haack
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