Herr Professor Teltschik, nach UNO-Angaben sind bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Ukraine bisher 3.000 Menschen gestorben. Wie würden Sie das bezeichnen, was sich dort ereignet – als Bürgerkrieg oder Krieg?
Horst Teltschik: Im Zweifel beides! Es ist ein Bürgerkrieg, weil auf der einen Seite sogenannte Separatisten der Ostukraine gegen Bürger oder Soldaten der Westukraine, also der Zentralregierung, kämpfen. Daneben gibt es ukrainische Milizen, auch rechtsradikale Banden. Das heißt, es herrscht eine diffuse Gemengelage auf ukrainischer Seite. Darüber hinaus ist offensichtlich, dass russische Soldaten, wenn auch verdeckt, auf ukrainischem Boden eingesetzt werden. Bis zur Stunde gibt es auch keine Sicherheit, dass die Kampfhandlungen nicht wieder voll aufflammen.
Für US-Senator Robert Menendez sind nicht Rebellen auf dem Vormarsch, sondern russische Soldaten. Wie ist die Gewichtung zwischen denen, die im Osten der Ukraine einen Bürgerkrieg ausfechten, und den russischen Kräften, die sozusagen von außen Krieg führen?
Horst Teltschik: Das ist schwierig zu beurteilen. Denn die Interessenlage von Präsident Putin erscheint sehr diffus. Wie zuletzt gegenüber Präsident Poroschenko in Minsk spricht er ständig davon, dass ein Waffenstillstand erreicht werden soll. Andererseits dachten die von Russland unterstützten Separatisten nicht daran, die Kämpfe einzustellen. Deshalb war auch Kiew nicht bereit, die Waffen ruhen zu lassen. Putin hat – nicht zuletzt auch durch die Infiltration russischer Soldaten – alles zu tun versucht, um eine Niederlage der Separatisten zu verhindern. Das wäre, wie er es sieht, auch für ihn ein Gesichtsverlust – und den will er in jedem Fall verhindern. Aus diesem Grund will er auch die Beteiligung der Separatisten an den Gesprächen am sogenannten Runden Tisch.
Davon ausgehend kann die jetzige Kampfeinstellung auf beiden Seiten ein wichtiger Test sein, um die Ernsthaftigkeit von Putins Worten zu prüfen – etwa in der Kontaktgruppe, die in Minsk zusammensitzt und politische Lösungen für den zukünftigen Status der Ostukraine innerhalb der Gesamtukraine erarbeiten soll.
Die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitė sagt, Russland befinde sich „praktisch im Krieg gegen Europa“. Inwieweit ist die europäische Sicherheit bedroht?
Horst Teltschik: Wir haben in der Ostukraine einen Konflikt, der einem Krieg sehr nahe kommt oder sogar als Krieg bezeichnet werden kann. Die Gefahr einer Ausdehnung dieser militärischen Auseinandersetzung sehe ich nicht, denn kein Mitgliedstaat innerhalb der Europäischen Union oder in der NATO will der Ukraine mit eigenen Truppen zur Hilfe kommen. Alle versuchen im Gegenteil, den Konflikt regional oder lokal zu begrenzen und die Tür für politische Lösungen offen zu halten. Deshalb wäre ich in der jetzigen Situation vorsichtig mit Formulierungen, welche Gefahren heraufbeschwören, die sich hoffentlich eindämmen lassen.
Aber vielen in der Nachbarschaft Russlands ist unwohl geworden. Dabei sind es nicht allein die Balten, die sich Sorgen machen. Auch Finnland will ein Gastlandabkommen mit der NATO abschließen und erhofft sich durch mehr westliche Militärpräsenz größere Sicherheit. Spricht daraus nicht ein starkes Bedrohungsgefühl?
Horst Teltschik: Subjektiv ist es verständlich, dass sich die baltischen Staaten, die noch unter Gorbatschow 1991 den Einsatz sowjetischer Militäreinheiten gegen ihre friedlich für die Unabhängigkeit demonstrierenden Bürger erlebt haben, bedroht fühlen. Sie haben ja auch eine starke russische Minderheit, die in Lettland und Estland zwischen zwanzig und dreißig Prozent der Bevölkerung liegt. Auch für die Polen, deren Geschichte ebenfalls stark von Konflikten mit Russland und der Sowjetunion geprägt ist, muss man emotional Verständnis haben. Aber der Unterschied besteht heute darin, dass alle diese Länder Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der NATO sind und für sie gilt, dass, wenn ein Mitglied angegriffen wird, das ein Angriff auf alle ist. Noch stärker ist die Beistandsverpflichtung im Rahmen der Europäischen Union. Wenn man diesen Garantien nicht mehr vertrauen würde, könnte man beide Bündnissysteme eigentlich beenden.
Sie gelten als ein Verfechter der Auffassung, dass der Gesprächsfaden mit Russland nicht abreißen darf. Können Sie denn nachvollziehen, dass mancher inzwischen den Eindruck gewinnt, die Gesprächsdiplomatie mit Moskau verfange nicht?
Horst Teltschik: Wir sollten uns an die Erfahrungen im Umgang mit der Sowjetunion und Russland seit dem Zweiten Weltkrieg erinnern. Bis 1967 gab es im Kalten Krieg gegenüber der Sowjetunion eine Politik der politischen Isolierung, der Konfrontation und der Sanktionen. Dann hat die NATO im Dezember 1967 zu Recht festgestellt, dass eine solche Politik nicht zu Ergebnissen führt, die die Spannungen verringern. Deshalb hat sie im Rahmen des sogenannten Harmel-Berichts gesagt: Wir müssen unsere Prioritäten einerseits beibehalten, das heißt, an erster Stelle die eigene Sicherheit zu garantieren – und das gilt auch heute noch; aber auf der Grundlage der eigenen Sicherheit müssen wir andererseits eine Politik des Dialogs, der Zusammenarbeit und der Entspannung beginnen.
Ich erinnere hier an Helmut Kohl, der Bundeskanzler wurde, als der Kalte Krieg wegen des NATO-Doppelbeschlusses vor einem neuen Höhepunkt stand. In dieser Situation hat Helmut Kohl gleich im Dezember 1982 einen Brief an den damaligen sowjetischen Generalsekretär Andropow geschrieben – mit dem Angebot, dass die neue Bundesregierung die Beziehungen positiver gestalten möchte. Und im Sommer 1983 ist er trotz der sowjetischen Drohung eines dritten Weltkrieges nach Moskau gereist, um mit Andropow zu reden.
Denken Sie auch an Willy Brandt, der wenige Monate nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 den sowjetischen Vorschlag zu einer Konferenz über Sicherheit in Europa (KSE) aufgegriffen hat! Daraus wurde die KSZE. Das heißt, wir haben selbst in den gefährlichsten Momenten des Kalten Kriegs immer versucht, den Dialog und die Zusammenarbeit fortzusetzen und Spannungen abzubauen. Das gilt heute mehr denn je.
Dass man den Versuch machen muss, ist schon klar. Aber was nutzt das, wenn im Dialog keine Verlässlichkeit herrscht? Glauben Sie, dass der russische Präsident noch ein glaubwürdiger Gesprächspartner ist? Spätestens seit dem Coup auf der Krim mit den „grünen Männchen“ gibt es daran doch zumindest begründete Zweifel.
Horst Teltschik: Wir können uns unsere Partner nicht aussuchen. Das gilt übrigens weltweit. Denken Sie einmal an die Volksrepublik China, die im Augenblick auch eine Politik betreibt, von der sich Nachbarstaaten bedroht fühlen. Die Entscheidung der chinesischen Führung, Anspruch auf Meeresgebiete zu erheben, die die Nachbarstaaten in gleichem Maße für sich beanspruchen, verstehen diese als einen Akt der Bedrohung. Dennoch hat niemand über Sanktionen gegenüber der Volksrepublik China nachgedacht.
Wir messen da manchmal mit unterschiedlichen Maßstäben. Natürlich ist Russland uns viel näher. Aber wir haben in der Vergangenheit eine Reihe von Fortschritten mit Russland, auch gerade mit Putin, gemacht. Die Frage ist: Haben wir nicht umgekehrt Angebote Russlands zu leichtfertig vom Tisch gewischt?
Aber ist es nicht etwas völlig anderes, Teilgebiete eines anderen Staates zu annektieren oder zu destabilisieren, als Anspruch auf einige vorgelagerte Inseln zu erheben?
Horst Teltschik: Ja, hoffentlich ist es so. Ich setze China jetzt nicht mit Russland gleich, sondern sage nur: Es gibt Bedrohungspotenziale an mehreren Stellen dieser Welt, ohne dass wir agieren.
Das Problem ist natürlich, dass Russland die Krim annektiert hat, was ein völkerrechtswidriger Akt gewesen ist. Da gibt es kein Vertun! Die Frage nach der Annexion der Ostukraine stellt sich aus meiner Sicht aber nicht. Eher stellt sich die Frage, wie man jetzt – etwa im Rahmen einer Dezentralisierung oder Föderalisierung – die Ostukraine innerhalb der Ukraine stabilisieren kann. Und noch wichtiger: Können wir mit Russland einen Modus Vivendi finden, der ein Weiterschwelen des Konflikts verhindert? Ich habe da auch keine Lösung, die auf der Hand liegt, außer der, dass man mit Russland spricht.
Es könnte durchaus sein, dass Russland weiterhin kompromisslos seine Interessen verfolgt und sich einen Landweg zur Krim sichern will. Das wäre aber nur zu erreichen, wenn Kiew jeden politischen Einfluss auf die Ostukraine verlieren würde. Das muss am Runden Tisch verhindert werden.
Sie sind demnach der Auffassung, dass die russischen Ziele nicht fest gefügt sind, sondern dass Russland austestet, wie weit es gehen kann?
Horst Teltschik: Mit Sicherheit!
Ist es deshalb nicht wichtig, dass der Westen Russland entschlossen Grenzen aufzeigt – etwa durch Sanktionen und durch Schritte, wie sie auf dem NATO-Gipfel in Wales beschlossen wurden: unter anderem eine deutlich stärkere Präsenz in den osteuropäischen Mitgliedstaaten, den Aufbau einer als „Speerspitze“ bezeichneten Eingreiftruppe ….
Horst Teltschik: Natürlich muss man Russland Grenzen aufzeigen, und zwar politisch. Was die NATO anbetrifft, haben wir schon seit Jahr und Tag eine NATO-Response-Force, die aber weder richtig aufgebaut wurde noch operativ jemals leistungsfähig gewesen ist. Da muss man sicher einiges nachholen, um unsere osteuropäischen NATO-Mitgliedsländer zu beruhigen. Dagegen habe ich nichts. Und dass man bestimmte militärische Vorsorgemaßnahmen trifft, ist auch verständlich. Allerdings müssen die Mitgliedstaaten dann auch bereit sein, stärker zusammenzuarbeiten – das gilt vor allem für die europäischen. Wir müssen endlich eine wirkliche Gemeinsame Europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickeln. Man hat schon in der Vergangenheit versucht, innerhalb der Europäischen Union gemeinsame Truppenverbände von 60.000 Mann und sogenannte „battle groups“ von je 1.500 Mann für rasche Einsätze aufzustellen, doch sind diese nie einsatzfähig geworden. Auch das könnte man weiterentwickeln, was allerdings voraussetzt, dass die Mitgliedstaaten die Mittel dafür zur Verfügung stellen und nicht nur darüber reden. Maßnahmen sollten wir ergreifen, um den Verantwortlichen in Russland deutlich zu machen: Das passiert, wenn ihr nicht partnerschaftlich mit uns zusammenarbeiten wollt! Aber auf der anderen Seite muss man die Beziehungen zu Russland langfristig sehen. Für mich reduziert sich alles auf die schlichte Frage: Wollen wir ein ungebundenes Russland, ein „non aligned Russia“? Oder wollen wir ein Russland, das Teil Europas ist? Ich bin entschieden für Letzteres, und in diese Richtung haben wir auch stets gearbeitet: angefangen mit Helmut Kohl über Gerhard Schröder, mit einer Reihe von Maßnahmen in der NATO und in der EU. Diese Politik war ja durchaus im Ansatz richtig, aber sie hätte erfolgreicher sein können, wenn man gleichzeitig den russischen Angeboten ernsthafter entgegengekommen wäre.
Aber der Westen ist doch auf Russland zugegangen. Denken Sie an Bill Clintons heute verrückt erscheinende Idee, dass man Russland in die NATO aufnehmen könnte. Ist es nicht eher so, dass Russland in eine andere Richtung gedacht hat?
Horst Teltschik: Wir haben ja einen NATO-Russland-Rat gegründet. Wir haben eine Grundakte verhandelt und diese gemeinsam mit Russland beschlossen. Es war Bundeskanzlerin Angela Merkel, die auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007, und zwar unmittelbar vor der berühmten Putin-Rede, gesagt hat: Wir müssen die Beziehungen der NATO zu Russland weiterentwickeln. Sie hat nur nicht konkretisiert, was das heißt.
Die langfristige Perspektive einer Mitgliedschaft Russlands in der NATO hat selbst der polnische Außenminister Sikorski für möglich gehalten. Kurzfristig konnte das nie ein Ziel sein, langfristig hätte das durchaus ein Ziel sein können. Man hätte dann nur überlegen müssen, wie man weiter vorgeht. Denken Sie daran, dass die 35 Staats- und Regierungschefs im November 1990 die „Pariser Charta für ein neues Europa“ über eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok beschlossen haben! Damals hatten wir auch konkrete Ansätze für gemeinsame Institutionen, wie etwa die Einrichtung eines Konfliktverhütungszentrums oder einer jährlichen Außenministerkonferenz.
Aber das ist nicht fortgeführt worden. Die sogenannte OSZE ist in den letzten 25 Jahren verkümmert. Wir haben vieles, was 1990 und danach gerade unter Helmut Kohl in dieser Richtung begonnen wurde, leider nicht weiterentwickelt. Darüber sollte auch die CDU einmal nachdenken!
Aber ist es nicht zu spät für ein solches Bedauern? Hat Russland nicht durch sein Handeln relativ deutlich gezeigt, dass es zu all diesen Dingen wie beispielsweise der NATO-Russland-Grundakte nicht mehr steht? Oder anders gefragt: Wie können wir jemanden zum Partner machen, wenn er gar kein Partner mehr sein will?
Horst Teltschik: Da bin ich mir eben nicht so sicher, ob Russland nicht mehr Partner sein will. Im Augenblick werden Türen eher zugeschlagen, und zwar auf beiden Seiten. Das zeigen auch die Sanktionen, die noch nie irgendwo erfolgreich waren. Wie wollen wir denn die Beziehung zu Russland langfristig weiterentwickeln, wenn wir alle bisher erreichten Ergebnisse kaputt machen? Man muss doch irgendwo noch positive Entwicklungen für möglich halten. In der Geschichte soll man nichts für endgültig halten. Auch Putin wird nicht ewig russischer Präsident sein. Es gibt in Russland auch viele, die anders denken, selbst in seinem Umkreis, die im Augenblick aber schweigen, weil sie keine Chance sehen, gehört zu werden. Aber das kann sich ändern, die Welt bleibt nicht stehen. Und weil das so ist, müssen wir uns Optionen offenhalten.
Mein ganzes Leben ist durch den Kalten Krieg bestimmt, und trotzdem haben wir nie die Hoffnung aufgegeben, dass sich Europa verändert. Denken Sie an 1989/90! Da gab es die, die gesagt haben: Das mit der Wiedervereinigung ist alles Lüge und so weiter. Aber es ist möglich geworden, was für unmöglich gehalten wurde. Daher soll man nie Türen zuschlagen, ohne genau darüber nachzudenken. Es könnte ja sein, dass man eines Tages wieder durch die gleichen Türen gehen muss.
Horst Teltschik, geboren 1940 in Klantendorf, heute Kujavy (Tschechien), von 1982 bis 1990 Ministerialdirektor im Bundeskanzleramt, Leiter der Abteilung „Auswärtige und Innerdeutsche Beziehungen, Entwicklungspolitik, Äußere Sicherheit“, später unter anderem Mitglied des BMW-Vorstandes für Zentral- und Osteuropa, Asien und den Mittleren Osten.
Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 15. September 2014.