Ausgaben

Qiu Yang, 2016 / Gestaltung: StanHema

Neues Denken – wo kommt es her? Wo geht es hin?

Dass die Begriffe „Sicht“ und „Einsicht“ unterschiedliche Verwandte sein können, ist eine philosophische Urerkenntnis. Neuere Wahrnehmungsdefizite lassen es geraten erscheinen, dem für offensichtlich Gehaltenen wieder verstärkt zu misstrauen. Der zuvor nahezu unvorstellbare Brexit, der ausgeschlossen geglaubte Wahlsieg Trumps und vor allem die verdrängte Möglichkeit eines russischen Überfalls auf die Ukraine haben vermeintlich unerschütterliche Weltsichten ins Wanken gebracht. Längst beeinflussen neue Denkansätze wie die Identitätspolitik die gesellschaftliche Realität. Heute zeigt sich, dass die Relevanz dieser forcierten Fortschrittsmodelle teils unterschätzt worden ist. Ihre Anhängerschaft ist inzwischen oftmals derartig mobilisiert, dass die Kritik meist entweder ähnlich erregt oder eingeschüchtert reagiert. Das Neue ist im christlich inspirierten Denken ambivalent und bewegt sich zwischen Hoffnung und Skepsis. Die Aufgabe besteht darin, dem Neuen offen zu begegnen, möglichst integrative, aber zugleich selbstbewusste Antworten auf andere Denkansätze zu erarbeiten.

Gabriele Galimberti, Gestaltung: StanHema

Kinder – ohne Lobby?

Warteschlangen in und vor Kinderkliniken, Fiebersaftnotstand und „Mandel-OP-Streik“ auf Kosten der Kinder – wird wirklich genügend an die Kleinsten und Kleinen gedacht? Die desaströse Nachricht, dass jedes vierte Kind nach der Grundschule nicht richtig lesen, schreiben und rechnen kann, hat einmal mehr allein die routiniert folgenlosen Statements von Bildungsprofis getriggert. Beiläufig ging die jetzt auch noch kriegs- und energiekrisengeschüttelte deutsche Öffentlichkeit darüber hinweg, dass die Corona-Zumutungen von Kita- und Schulschließungen rückblickend als unnötig gelten. Die „Altenrepublik Deutschland“, in der viel zu wenige Nachkommen nachkommen, verzeichnet ein zunehmendes Missverhältnis zur jüngsten und jungen Generation. Nicht einmal die Zukunft der Demokratie ist sicher, wenn sich junge Menschen überwiegend außerhalb von Institutionen und Parteien engagieren. Waren es womöglich Minderheitserfahrungen der Jüngeren, eine mangelnde Empathie für ihre Belange und Perspektiven, die dazu beigetragen haben? Unsere aktuelle Ausgabe geht diesen und anderen Fragen nach und verfolgt dabei einen weitgefassten Ansatz.

Foto: Danila Tkachenko, Lost Horizon (2016), mit freundlicher Genehmigung von Danila Tkachenko und Spasibo Studio

CCCP – Der lange Schatten des sowjetischen Imperiums

Vordergründig bietet der 100. Gründungstag der Sowjetunion am 30. Dezember den Anlass unserer aktuellen Ausgabe. Sie ist jedoch vor allem dadurch motiviert, dass die Vorkriegszeit und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine selbst viel Unkenntnis, Unverständnis und sogar Überheblichkeit gegenüber den Entwicklungen in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion offenbart hat. Im Mittelpunkt stehen – ausgehend von historischen Betrachtungen – politische Fragestellungen, die durch internationale Expertisen ergänzt werden. Darüber hinaus weitet sich der Blick auf geistig-kulturelle Fragen wie beispielsweise: Wie konnte die Ukraine, die noch in den 1990er-Jahren als „stummes Land“ galt, nicht einmal zwei Jahrzehnte später zu dem Land werden, in dem sich die Zukunft des europäischen Projekts und seiner Werte erweist?

Gestaltung: StanHema

Zeitenwende? Zur sicherheitspolitischen Debatte

Unsere aktuelle Ausgabe widmet sich sicherheitspolitischen Umbrüchen, die durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine virulent geworden sind. Dabei geht es beispielsweise um die Stärkung der NATO – unter anderem mit Blick auf eine weitaus entschlossenere Haltung gegenüber Russland und eine glaubwürdigere Abschreckung an den NATO-Außengrenzen. Einzelaspekte beschäftigen sich mit der Neuaufstellung und Verstärkung der deutschen Bundeswehr und mit ihrer Rolle zur Verteidigung des Bündnisgebietes vor allem in den baltischen Ländern. Darüber hinaus werden die sicherheitspolitischen Veränderungen in verschiedenen Regionen beleuchtet (Nordeuropa: Ende der Neutralität Finnlands und Schwedens; Moldau: Bedrohung durch militärisches Vorgehen, aber auch durch politische Einflussnahme et cetera). Der russische Krieg gegen die Ukraine bildet den Hintergrund.

2022

iStock / Hindenberg

Preise - wenn es teuer wird

Noch im Herbst des vergangenen Jahres hielt das Gros der Experten den Anstieg der Verbraucherpreise für ein temporäres Problem. Inzwischen schlägt die Wahrnehmung um: Nicht nur in Deutschland, sondern auch weltweit drohen sich die Volkswirtschaften in einem Wald wildwüchsiger Krisen zu verlieren. Es fehlt an Orientierung, wie den explodierenden Energie- und Lebensmittelkosten, der Konjunkturschwäche, wachsenden sozialen Spannungen und fiskalischen Notwendigkeiten zu entrinnen ist. Manch Irrweg staatsdirigistischer Preiskontrolle und -verzerrung wird bereits beschritten. Die Nöte bei uns sind weit weniger existenziell, doch spitzt sich auch hier die soziale und wirtschaftliche Lage in kaum gekanntem Maße zu. Für viele Menschen geht es ans Eingemachte, wenn Essen, Wohnen und Heizen extrem viel teurer werden. Mittelfristig birgt die weitere Schädigung der Altersvorsorge gesellschaftliche Sprengkraft. Auch politisch, nicht zuletzt zur Abwehr Putins, ist das Scheusal Inflation eine Katastrophe. Nicht Zögerlichkeit, sondern Wachheit und Entschlossenheit sind gefragt, um es wieder loszuwerden.

2022

Foto: JR, Gestaltung: StanHema

Gemeinsam? Nachdenken über Allgemeinheit

Verfrüht ist der Jubel über die neu gefundene Einigkeit in und unter den westlichen Demokratien. Der Preis der Kriegsfolgen und Sanktionen – noch schlägt er nicht vollständig durch – bietet überreichlich brisantes Potenzial für Konflikte und Spaltung. Dass vor der Stichwahl in Frankreich Bundeskanzler Olaf Scholz sowie die sozialistischen Ministerpräsidenten von Spanien und Portugal in "Le Monde" implizit zur Wahl des Amtsinhabers aufriefen und die Franzosen ermunterten, ein Frankreich zu wählen, „das unsere gemeinsamen Werte verteidigt“, gehört zu den ungewöhnlichen Details eines Wahlkampfs, in dem nicht allein die Populisten polarisierten und die Wahl als Wahl ohne substanzielle Optionen erschien. Gestützt auf ihre überlegene Autorität, wirkten die auswärtigen Regierungschefs auf das Wahlverhalten der europäischen Nachbarn ein und setzten sich noch dazu dem altbekannten Vorwurf aus, dass die politische Mitte erneut nur mit Moralisierung auf den Populismus reagiere. Der unausgesprochene Wahlaufruf verdeutlicht, wie problematisch es ist, etwas Allgemeines wie „unsere gemeinsamen Werte“ für sich in Anspruch zu nehmen, vermittelt das doch den Anschein, dass die Angesprochenen vernünftigerweise gar nicht anderer Ansicht sein könnten. Hierin liegt ein entpolitisierendes Moment, auf Dauer sogar eine antipluralistische Gefährdung. Wer das Politische zurückdrängt, sollte sich über Distanz- und Frustrationsmehrheiten, die vorerst nur den Wahlen fernbleiben, nicht wundern. Der Verweis auf das Allgemeine vermag ein profiliertes politisches Programm nicht zu ersetzen. Mehr Gemeinsamkeit entsteht – so paradox es erscheint – auch im Streit und Widerstreit.

2022

Laura Morton | Gestaltung: StanHema

Netzkultur - Leben in der digitalisierten Gesellschaft

Vorwärts in die Vergangenheit? Mit dem Überfall von Putins Armeen auf die Ukraine ist die alte Schimäre vom Ende der Geschichte unwiderruflich dahingegangen. Und es wächst die Befürchtung, dass der unvorstellbare Gewaltakt gegen ein Vierzig-Millionen-Volk das Ende der Zukunft einläuten könnte, wie wir sie uns ausgemalt hatten. Statt schmiegsamer Visionen von Netzwelten, die sich nebulös in Clouds verflüchtigen, stehen Panzer und Kanonen im Mittelpunkt unserer Wahrnehmung. Die bunte Tech-Party ist gecrasht, und das Schwelgen in technokratischer Selbstevidenz hat sich entlarvt. Nach dem „Realitätsschock“ (Friedrich Merz) geht es darum, wieder Zugriff auf eine Welt zu bekommen, die chaotisch und bedrohlich ist und sich eben nicht allein durch durchtoolisierte Prozesse ordnen lässt. Eine technokratische Sicht ist selten darauf gerichtet, dass Menschen etwas Besonderes sind. Doch genau daraus speist sich christlich-demokratisches Denken. Es muss darum ringen, Nähe zum Alltag zu gewinnen – mit seinen Erfahrungen und Nöten. Wenn unsere aktuelle Ausgabe, die vor dem Kriegsausbruch konzipiert worden ist, sich dem Thema Netzkultur widmet, dann geht es ihr weniger um technische Fragen oder die kommunikativen Defizite von Politik-Accounts, sondern vielmehr um ein vertieftes Verständnis der sich verändernden Lebenswelt. Die Vitalität der Netzkultur besitzt in ihrer Faszination wie in ihren Gefährdungen enorme Energien. Sie kann durchaus zu gemeinsamen Wegen nach vorn mobilisieren. Trotz Putin darf diese Zukunft nicht zu Ende sein.

2022

StanHema

Staat - Ideen zu seiner Modernisierung

Bei aller berechtigten Kritik: Deutschland ist ein leistungsfähiger Staat. Doch zu einem wahrheitsgetreuen Befund gehört ebenso die weniger schmeichelhafte Tatsache, dass nicht erst die Krisen der jüngsten Vergangenheit wie der Umgang mit der Corona-Pandemie oder der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen gezeigt haben, welche gravierenden Schwachstellen staatliche Strukturen aufweisen, die die Handlungsfähigkeit des Staates beeinträchtigen. Deshalb hat die Konrad-Adenauer-Stiftung Experten aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft unter der Leitung von Thomas de Maizière gebeten, konkrete, umsetzbare und finanzierbare Vorschläge für die Modernisierung des deutschen Staates zu erarbeiten. Die Ergebnisse wurden in dem Thesenpapier "Für einen handlungsfähigen deutschen Staat im Oktober 2021 der Öffentlichkeit" präsentiert. Unsere Zeitschrift greift diese Ergebnisse auf und spinnt den Faden weiter – durch Beiträge einiger Mitglieder der Expertenkommission und erweitert durch zusätzliche Perspektiven auf den Modernisierungsbedarf des deutschen Staates.

2021

Fotos: Imagined by a GAN (generative adversarial network) StyleGAN2 (Dec 2019) – Karras et al. and Nvidia, Gestaltung: StanHema

Anthropos - neue Bilder vom Menschen?

Im Monat Dezember, wenn Christen die Menschwerdung Gottes feiern, fragen wir, inwieweit der biblische Blick auf den Menschen heute Orientierung für ethische Entwicklungen sein kann, wenn sich das Verhältnis von Mensch, Natur und Technik fundamental verändert. Denn vieles spricht dafür, dass der Mensch gerade neu erfunden wird. Seine Alleinstellung wankt, wenn Computer Kreativität und Phantasie beherrschen und sogar zu träumen lernen. Trennendes, das vormals das Menschenbild konturierte, hebt sich auf. Lohnt es sich überhaupt noch, für den Menschen zu streiten, der für sich selbst und die gesamte Schöpfung zum Problem geworden ist? Mit den Menschen-Bildern stehen und fallen auch die Menschen-Rechte. Unvorstellbar wären die Folgen, wenn der Mensch in fluider werdenden Vorstellungswelten zu etwas Verhandelbarem würde.

2021

Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz, Gestaltung: StanHema

Deutschland - wie geht es weiter?

Die Zitrus-Gespräche der Spitzenvertreter von Grünen und FDP nach der Bundestagswahl 2021 haben Neuverortungen vor Augen geführt. Das einträchtige Ensemble vormaliger Kontrahenten kehrt bekannte Machtarithmetik um. Drei-Parteien-Konstellationen hat es, weiland unter Konrad Adenauer, bereits gegeben, aber noch nie verfügten die kleineren Parteien gemeinsam über mehr Stimmenanteile als der größte potenzielle Partner. Stets stand sein Kanzlerkandidat an der Pole-Position zu einer neuen Regierung. Damit ist es vorläufig vorbei. Für die Union führt nichts mehr an der fundamentalen Frage vorbei: Schlägt den Volksparteien nun die „Stunde Null“, wie sie Politikbeobachter seit Jahren für unabwendbar halten? Fraglos ist das Wahlergebnis nicht allein Folge eines historisch-sozialen Prozesses. So schlimm hätte es nicht kommen müssen. Unübersehbar gab es Schnitzer, inhaltliche Schwächen und interne Scharmützel. Gleichzeitig griffe die Fehleranalyse zu kurz, würde sie sich auf diese Aspekte beschränken. Es wird nun darum gehen, wieder möglichst viele Menschen, Kräfte, Traditionen und Tendenzen zusammenzuführen und – prinzipienorientiert – aus diesen Debatten Ziele abzuleiten.