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"Die größte geopolitische Katastrophe"?

Eine ambivalente Zwischenbilanz nach 25 Jahren

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Das Ende war unspektakulär: Was im November 1917 – nach damaligem russischen Kalender war es Oktober – mit den Schüssen des Panzerkreuzers Aurora in Petrograd (Sankt Petersburg) angefangen hatte, endete am 25. Dezember 1991 mit dem Einholen der roten Fahne über dem Moskauer Kreml. Die Sowjetunion, der erste kommunistische Staat, hatte aufgehört, zu bestehen. Erstaunlich war weniger die Tatsache des Zusammenbruchs selbst als vielmehr seine Art und Geschwindigkeit. Die Basis der Sowjetunion war schon lange erodiert. Misswirtschaft und grassierende Korruption hatten das Land zugrunde gerichtet. Anhaltende Menschenrechtsverletzungen erregten den Unmut freiheitsliebender Dissidenten, und auch die stärker werdenden nationalen Unabhängigkeitsbewegungen ließen sich nur mit Gewalt unterdrücken. Als der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow mit seiner Reformpolitik den Druck lockerte, führte dies entgegen seinen Erwartungen nicht zu einer Renaissance des Kommunismus, sondern zu dessen endgültigem Zusammenbruch.

Mit dem Kollaps der UdSSR ging jedoch mehr zu Ende als das kommunistische Menschenexperiment. Es zerfiel zugleich ein Vielvölkerreich, das älter war als der aus der Oktoberrevolution hervorgegangene Staat. Der überwiegende Teil der heute unabhängigen Staaten, wie die Ukraine, Georgien, Kasachstan oder Kirgisistan, war bereits im Laufe der vergangenen Jahrhunderte in den Herrschaftsbereich des Zarenreichs gekommen, meist infolge kriegerischer Auseinandersetzungen.

 

Freiheit und Zerfall

Die Zusammenbrüche multiethnischer Imperien sind in ihren Wirkungen immer ambivalent. Sie bringen nationale Selbstbestimmung und neue ethnische Minderheiten, mehr Freiheit und einen Verlust an Gewissheiten, neue Grenzen und neue Revisionsbestrebungen. Als Beispiel hierfür mag die Monarchie Österreich-Ungarn dienen: Die Tschechoslowakei wurde nach dem Untergang des Habsburger Reichs im Ersten Weltkrieg unabhängig, gleichzeitig entstand das Problem der dort lebenden deutschen Bevölkerungsgruppe, die Hitler zwei Jahrzehnte später den Vorwand für die Eroberung des Landes liefern sollte. Die Schaffung Rumäniens weckte Revanchegelüste Ungarns, und zahlreiche Minderheiten fühlten sich in den neuen Nationalstaaten verloren. Der des Revanchismus unverdächtige Joseph Roth, der aus dem nun polnischen Galizien stammte, trauerte in seinen Büchern dem untergegangenen Vielvölkerstaat nach.

Auch im Falle der Sowjetunion liegen Gewinn und Verlust nahe beieinander. Am eindeutigsten lässt sich ihr Ende für die baltischen Staaten als Freiheitsgeschichte erzählen. Estland, Lettland und Litauen hatten bereits nach dem Ersten Weltkrieg ihre Unabhängigkeit erlangt. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt wurden sie 1940 von der UdSSR annektiert und Hunderttausende ihrer Bewohner nach Sibirien und Kasachstan verschleppt. Der Großteil der Bevölkerung akzeptierte den Verlust der nationalen Unabhängigkeit nie. Dementsprechend war es wenig verwunderlich, dass die Wiedererlangung der vollen Souveränität ganz oben auf der Liste der Forderungen stand, die erhoben wurden, nachdem Gorbatschows Reformen den Raum dafür geschaffen hatten: Am 23. August 1989, dem 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts, demonstrierten rund zwei Millionen Balten mit einer 600 Kilometer langen Menschenkette von Tallinn über Riga nach Vilnius für ihr Recht auf Selbstbestimmung, und 1990 erklärten die drei Sowjetrepubliken ihre Unabhängigkeit. Moskau reagierte mit Gewalt und schickte im Januar 1991 Panzer ins litauische Vilnius, traf dort aber auf eine Bevölkerung, die ihnen mutig die Stirn bot. Insgesamt vierzehn Zivilisten zahlten dafür mit ihrem Leben. Auch in Riga kam es zu Kämpfen, auch hier gab es Tote. Zudem versuchte Gorbatschow, durch wirtschaftliche Sanktionen den baltischen Wunsch nach Unabhängigkeit zu unterdrücken. Zu einem Blutbad großen Stils, zu einer Wiederholung der Ereignisse in Ungarn 1956 oder Prag 1968, war die Zentralmacht jedoch nicht mehr bereit. Nach dem gescheiterten Putsch kommunistischer Hardliner gegen Gorbatschow im August 1991 nahmen die meisten westlichen Länder diplomatische Beziehungen zu den neu entstandenen Staaten auf.

 

Mehr Souveränität führt nicht automatisch zu mehr Frieden

Anders sah es bezüglich der übrigen Sowjetrepubliken aus. Das begann damit, dass ihre Zugehörigkeit zur UdSSR vorher nie infrage gestellt worden war. Die Annexion des Baltikums hatten etwa die USA nie anerkannt, weshalb der politische Spielraum der US-Regierung begrenzt war, die dortige Entwicklung aus Stabilitätserwägungen nicht zu unterstützen.

Dagegen konnten die meisten anderen Sowjetrepubliken nicht auf eine eigene Staatlichkeit zurückblicken, viele waren vor 1917 Teil des russischen Zarenreichs gewesen. Zudem war der Wunsch der dortigen Bevölkerung nach nationaler Unabhängigkeit deutlich schwächer ausgeprägt als im Baltikum. Die Furcht im Westen war groß, dass der Zerfall der UdSSR zu einem gewaltigen Chaos, zu Gewalt und Bürgerkriegen führen könnte. Da die sowjetischen Atomwaffen über das Riesenreich verteilt waren, hätte sich zudem die Zahl der nuklear bewaffneten Staaten auf einen Schlag vervierfacht. Neben Russland waren in der Ukraine, Belarus und Kasachstan Atomwaffen stationiert. Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl hatte bereits die baltischen Unabhängigkeitsbestrebungen mit großer Sorge gesehen und schon im Januar 1991 erklärt: „Ob dieses Riesengebilde [die Sowjetunion] zusammenbleibt, ist eine Frage, die sicher offen bleibt. Ich glaube aber nicht, dass bei einem Prozess, in dem das Baltikum ein hohes Maß an Souveränität gewinnt, das automatisch zu mehr Frieden führt. Unser Interesse in dieser Region muss jedenfalls Stabilität sein.“ Nach dem August-Putsch äußerte sich Kohl anerkennend über die nun unabhängigen baltischen Staaten, warnte aber erneut vor einem weiteren Zerfall der Sowjetunion und trat für eine Föderation ein. Damit befand er sich auf einer Linie mit US-Präsident George Bush, der bis weit in die zweite Jahreshälfte 1991 hinein Gorbatschow bei dessen Versuch unterstützte, das Imperium zusammenzuhalten.

 

Auch die russischstämmige Bevölkerung ist für die Unabhängigkeit

Dass dies nicht gelang, war im Wesentlichen der ukrainischen Führung geschuldet. Auch dort existierte eine starke Nationalbewegung, aber erst, als sich nach dem gescheiterten August-Putsch auch die Führung der dortigen Kommunistischen Partei um Leonid Krawtschuk aus Sorge um die eigene politische Zukunft der Unabhängigkeitsbewegung anschloss, war diese de facto besiegelt. Am 1. Dezember 1991 stimmten über neunzig Prozent der ukrainischen Bevölkerung für die Unabhängigkeit (bei einer Wahlbeteiligung von 84 Prozent). Entgegen Gorbatschows Erwartungen, der auf die mehrheitlich russischstämmige Bevölkerung auf der Krim und in der Ostukraine gesetzt hatte, votierte die Mehrheit in allen Landesteilen für die Loslösung von der Sowjetunion. Wenige Tage später einigten sich die Präsidenten Boris Jelzin und Krawtschuk zusammen mit dem Vorsitzenden des Obersten Sowjets der Belorussischen Sowjetrepublik, Stanislau Schuschkewitsch, auf die Auflösung der UdSSR. Bis zum Jahresende entstanden aus der Konkursmasse des sowjetischen Imperiums fünfzehn unabhängige Staaten.

In der überwiegenden Mehrzahl dieser Staaten hatte es jedoch kein starkes Bedürfnis nach Unabhängigkeit gegeben. Die Entscheidung hatten entweder führende Vertreter der sowjetischen Nomenklatur getroffen, die die Aussicht hatten, nun Oberhäupter unabhängiger Staaten zu werden. Oder sie waren einfach dem Auflösungsbeschluss der drei slawischen Sowjetrepubliken gefolgt.

 

Negative Folgen

Unübersehbar waren die negativen Folgen, die sich aus dem Ende des multinationalen Imperiums ergaben: Jahrzehntelang waren Kirgisen nach Moskau, Litauer nach Omsk, Moldawier nach Baku oder Ukrainer nach Alma Ata gezogen, sei es als Soldaten, zum Studium oder aus beruflichen Gründen. Auf einmal fanden sie sich durch Staatsgrenzen von ihren Familien getrennt oder als ethnische Minderheit in neugeschaffenen Nationalstaaten. Vor allem ethnische Russen lebten in großer Zahl in fast allen Teilen der ehemaligen Sowjetunion. Insbesondere in Estland und Lettland, wo sie beinahe ein Viertel der Bevölkerung stellten, galten sie vielen als Angehörige der ehemaligen Besatzungsmacht. Nicht mehr Russisch, sondern Estnisch und Lettisch waren nun die Verwaltungssprachen, und ohne gute Kenntnis dieser Sprachen wurde die Partizipation am wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Leben schwierig.

In zahlreichen Fällen wuchsen sich die ethnischen Spannungen zu gewaltsamen Konflikten aus, etwa immer wieder zwischen Kirgisen, Usbeken und Tadschiken im Ferghanatal. An anderen Orten kam es sogar zu teilweise langjährigen Bürgerkriegen wie in Bergkarabach, Transnistrien oder Abchasien.

Gleichzeitig blieb der Wunsch nach Unabhängigkeit nicht auf die Sowjetrepubliken beschränkt. Noch im Spätsommer 1991 erklärten Vertreter Tschetscheniens die Absicht, sich von Russland zu lösen, was schließlich in zwei blutige Kriege mit der Zentralmacht mündete – mit weit über 100.000 Toten und der vollkommenen Zerstörung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny.

 

Sehnsucht nach vergangener Größe

All diese Phänomene – Minderheitenproblematik, Grenzkonflikte und Bürgerkriege – waren bereits in anderen Fällen als Folgeerscheinungen des Zerfalls großer Imperien zu beobachten gewesen. Neu war auch nicht der Versuch, die nationalen Minderheiten als Schachfiguren im geopolitischen Spiel zu nutzen, wie Putin dies mit den Bewohnern der Krim und der östlichen Ukraine 2014 tat. Bereits 2005 hatte er den Zusammenbruch der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet und dabei ausdrücklich auf die Situation der vielen Russen verwiesen, die sich nun im Ausland befanden. Darüber hinaus führte er den wirtschaftlichen Abstieg und das Chaos an, die auf das Ende der UdSSR folgten. Wenn diese Entwicklungen auch eher als Konsequenz jahrzehntelanger sozialistischer Misswirtschaft zu verstehen sind, rührte der russische Präsident damit an eine emotionale Saite des Selbstwertgefühls seiner Landsleute. Vor allem aber konnte er an eine Nostalgie appellieren, die weit über die Grenzen der Russischen Föderation verbreitet ist: die Sehnsucht nach dem Imperium, nach dem Status einer Supermacht, nach dem Sozialismus. Denn bei allen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und allen Beschränkungen der politischen Freiheiten konnten sich die Bewohner der Sowjetunion an zwei Gefühlen weiden: dem Stolz, Angehöriger einer der beiden Supermächte zu sein, und der Illusion, im wirtschaftlich-moralisch überlegenen System zu leben. Das Jahr 1991 entzog diesen haltgebenden Selbstzuschreibungen den Boden. Die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch beschreibt die tiefen Spuren, die diese doppelte Erschütterung bei vielen Menschen hinterließ. Infolge des sowjetischen Kirchenkampfs konnte die Religion nur bei wenigen die entstandene Leerstelle füllen, und wer im Gewinn der nationalen Unabhängigkeit keinen Wert an sich sah, konnte sich damit nicht über den wirtschaftlichen Abstieg hinwegtrösten. Das betraf im besonderen Maße – wenn auch nicht ausschließlich – die Bevölkerung Russlands, die in der Abtrennung von Städten wie Kiew oder Sewastopol mehr als einen Verlust nationaler Größe sah. Es war deshalb für Putin ein Leichtes, diese nationalen Sehnsüchte für seine imperialistische Politik zu mobilisieren.

Ein letzter Grund, aus dem sich die einseitige Freiheitserzählung über 1991 zumindest retrospektiv verbietet, liegt an der gemischten demokratischen Bilanz der sowjetischen Nachfolgestaaten. Sieben der fünfzehn sowjetischen Nachfolgestaaten sind Diktaturen mit weitreichenden Freiheitsbeschränkungen für die Bevölkerung. Mit Ausnahme von Turkmenistan gewähren sie jedoch mehr Freiheiten als die Sowjetunion; das gilt zumindest dann, wenn man von den letzten Jahren der Perestroika absieht. Die übrigen aber werden demokratisch regiert, in einigen Fällen allerdings mit deutlichen Defekten und zahlreichen Rückschlägen. Damit bleibt die Gesamtbilanz des Zusammenbruchs der UdSSR bei aller Ambivalenz positiv. Selbst wenn man annimmt, dass eine föderativ reformierte Sowjetunion die Zentrifugalkräfte der Nationalbewegungen hätte eindämmen können – was keinesfalls sicher ist –, ist es sehr unwahrscheinlich, dass dieses riesige Reich dauerhaft demokratisch geblieben wäre. Das legt zumindest die Entwicklung im größten der Nachfolgestaaten nahe: Spätestens nach Jelzins verfassungswidriger Auflösung des Parlamentes und dem Beschuss des Weißen Hauses durch Jelzin treue Streitkräfte 1993 waren die demokratischen Defizite Russlands nicht mehr zu übersehen; drei Jahre später konnte sich Boris Jelzin nur mit massiver Wahlfälschung die Wiederwahl sichern. Sein Nachfolger baute das Land zielgerichtet zu einem autoritären Staat mit imperialen Ambitionen um. Es ist nicht erkennbar, dass das gleiche Land mit der zusätzlichen Bürde deutlich ärmerer Peripherien und ethnischer Konflikte einen erfolgreicheren Weg genommen hätte.

Der nostalgische Blick auf das untergegangene Imperium ist so immerhin erklärbar. Verständnis aufbringen für diejenigen, die die Ereignisse von damals zumindest teilweise rückgängig machen wollten, sollte man jedoch keineswegs.

 

Alexander Brakel, geboren 1976 in Bonn, stellvertretender Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste /Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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