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von Hans-Gert Pöttering

Wie christlich ist Europa?

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Immer wieder wird Europa angelastet, ein rein wirtschaftlicher Zusammenschluss zu sein. Ein Zweckbündnis, in dem die einzelnen Nationalstaaten je nach Bedarf ihre eigenen Interessen durchsetzen. Ein künstliches und beliebig veränderbares Gebilde. Umso mehr kommt es darauf an, dass wir uns auf unsere gemeinsamen Wurzeln besinnen. Im Kern meines Verständnisses von Europa als Wertegemeinschaft steht der Mensch mit seiner unverwechselbaren Würde. Als Christen glauben wir, dass Gott uns diese unverwechselbare Würde verliehen hat. Sie kann uns von keinem anderen Menschen genommen werden.

Dabei wäre es zu kurz gegriffen, würden wir einfach nur an die christlichen Wurzeln erinnern. Vielmehr liegt der Ursprung Europas an drei Orten, wie der erste Bundespräsident, Theodor Heuss – ein Liberaler –, 1950 erklärte: „Es gibt drei Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen, das Kapitol in Rom. Aus allen ist das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muss sie als Einheit sehen.“ Die griechische Philosophie und der Zugang zur Wissenschaft und den Künsten, die Rechtsund Herrschaftsordnung, wie sie sich erstmals in Rom ausgeprägt hat, und schließlich das Christentum, das seinen Ursprung in Jerusalem, in der Bibel hat, prägen uns bis heute. Dass das Christentum aus dem Judentum hervorgegangen ist, dürfen wir dabei nicht vergessen. So sprechen wir von der jüdisch-christlichen Kultur.

Die rasche Ausbreitung des Christentums in der Spätantike war vor allem auf die Förderung Konstantins des Großen und die Erhebung zur Staatsreligion unter Kaiser Theodosius I. zurückzuführen. Karl der Große, der als „Vater Europas“ gilt, wollte im Westen des Kontinents das Römische Reich unter dem Christentum erneuern. Es gibt heute kaum ein europäisches Land, das nicht auf eine mindestens 1.000 Jahre währende christliche Tradition zurückblickt. Bis ins Mittelalter hinein blieb das Christentum, die Christianitas, das entscheidende Merkmal Europas. Europa definierte sich als „Christliche Republik“.

Prägung durch die christliche Kultur

Die Prägung Europas durch die christliche Kultur war dabei kein geradliniger Prozess. Zu den entscheidenden Wegmarken der europäischen Geschichte gehören die Reformation und die Französische Revolution. Die Spaltung der Christen im Jahr 1517 – die zweite, nachdem sich bereits im Jahr 1054 mit dem morgenländischen Schisma die Trennung der orthodoxen von der römisch-katholischen Kirche vollzogen hatte – hatte einerseits eine Vielzahl konfessioneller Kriege zur Folge. Andererseits ebnete die Reformation den Weg zur Aufklärung und zur Anerkennung religiöser Pluralität. Religiöse Vielfalt und Toleranz gegenüber Andersdenkenden wurden zu anerkannten Werten, und mit dem Westfälischen Frieden von 1648 gelang es schließlich, den zwischenstaatlichen Frieden von den Religionsgegensätzen abzukoppeln. Die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft von der Rechtsordnung zu trennen und religiöses Bekenntnis und staatsbürgerliche Rechte zu entkoppeln, wurde indessen erst mit der Französischen Revolution durchgesetzt. Für ganz Europa hatte dies weitreichende Folgen – wenngleich weitere eineinhalb Jahrhunderte vergehen mussten, bis auch die Kirchen diese Prinzipien anerkannten.

Ende des 18. Jahrhunderts hatten sich damit die für Europa zentralen Werte herausgebildet: das christliche Menschenbild, kulturelle Pluralität und Toleranz gegenüber Andersdenkenden sowie eine Rechtsordnung, die jedem Bürger dieselben staatsbürgerlichen Rechte garantierte. Von einem einigen Europa konnte indessen noch lange keine Rede sein. Zwar forderte Novalis 1799 in seinem Fragment „Die Christenheit und Europa“ die Wiederherstellung eines einigen christlichen Europas, und anknüpfend an diese Ideen sahen insbesondere katholische Kreise im nationalstaatlichen Denken eine Gefahr für die Zukunft des Kontinents. Auch der „Europäismus“ des 19. Jahrhunderts, der als Reaktion auf das „Wiener System“ entstand und in einem europaweiten Diskurs europäische Zukunftsmodelle erörterte, konnte eine Entwicklung nicht aufhalten, die den Kontinent letztlich in die Katastrophe stürzen sollte: den aufkommenden Nationalismus und Imperialismus, dem sich kaum ein europäischer Staat zu entziehen vermochte. Als Victor Hugo 1851 in einer Rede vor dem französischen Parlament von den „Vereinigten Staaten von Europa“ sprach, erntete er nur den Spott der Abgeordneten.

Erst nach der Erfahrung des verheerenden Ersten Weltkriegs trat der europäische Gedanke wieder auf. Die Frage nach der Schaffung stabiler Rahmenbedingungen für einen europäischen Frieden stellte sich nun umso dringlicher. Hinzu traten die Veränderungen im globalen Mächtesystem: Auf der einen Seite stiegen die USA zu einer Großmacht auf, der kein einzelner europäischer Staat mehr gewachsen war. Auf der anderen Seite bekannte sich Russland – das heißt die Sowjetunion – nach der Oktoberrevolution offen dazu, auch in Europa die gesellschaftliche und politische Ordnung umstürzen zu wollen. Vor diesem Hintergrund erlebte der Europagedanke in den 1920er-Jahren eine kurze Renaissance. Doch konnten auch die Konzepte, wie sie vor allem von Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi mit der Paneuropa-Union verbreitet wurden, den nationalstaatlichen Egoismus nicht bremsen. Vermengt mit totalitären Ideologien, mündete er in die zweite große Katastrophe des 20. Jahrhunderts.

Der Europagedanke nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Europagedanke dringlicher denn je. Aus der Katastrophe sollte ein neues Europa erwachsen, das den Frieden dauerhaft sichert und alte Feindschaften begräbt. Wie dieses Europa aussehen sollte, darüber gab es viele verschiedene Meinungen. Gerade im linken Lager gab es noch Anhänger eines Europas als „dritte Kraft“ zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion. Mit dem heraufziehenden Kalten Krieg wurden solche Konzepte jedoch bald ad absurdum geführt.

Die expansive Politik der Sowjetunion war für die westlichen Besatzungszonen und ganz Europa eine reale Bedrohung. Schon im Oktober 1945 erklärte Konrad Adenauer: „Rußland entzieht sich immer mehr der Zusammenarbeit mit den andern Großmächten und schaltet in den von ihm beherrschten Gebieten völlig nach eignem Gutdünken. In den von ihm beherrschten Ländern herrschen schon jetzt ganz andere wirtschaftliche und politische Grundsätze als in dem übrigen Teil Europas. Damit ist eine Trennung in Osteuropa, das russische Gebiet, und Westeuropa eine Tatsache.“

Für Adenauer, der am 15. September 1949 zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde, hatte die Sicherheit des jungen Staates und die Bewahrung des Friedens oberste Priorität. Gleichzeitig war er davon überzeugt, dass die Nationalstaaten nicht mehr allein den Anforderungen der Zeit gewachsen seien.

Entschieden setzte er sich in seiner vierzehnjährigen Amtszeit für die Europäische Einigung ein, die aus seiner Sicht zunächst durch eine Verflechtung der europäischen Wirtschaft zu erreichen sei. Der am 9. Mai 1950 vom französischen Außenminister Robert Schuman vorgelegte Plan einer gemeinsamen supranationalen „Hohen Behörde für Kohle und Stahl“ wurde zur Initialzündung. Die wirtschaftliche Verflechtung der europäischen Staaten sollte Kriege verhindern und das Sicherheitsbedürfnis der Nachbarstaaten befriedigen. Adenauers vorrangiges Ziel war dabei immer die politische Einigung. Als am 30. August 1954 die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und damit der Plan einer Europäischen Politischen Gemeinschaft in der französischen Nationalversammlung scheiterten, war dies für den Bundeskanzler ein schwerer Schlag. Seiner Beharrlichkeit war es zu verdanken, dass die Krise in der Europäischen Einigung überwunden und – vor sechzig Jahren, am 25. März 1957 – die Römischen Verträge unterzeichnet werden konnten.

„Europa muss geschaffen werden“, lautete die Botschaft Adenauers. Diskussionen zwischen Föderalisten, die einen europäischen Bundesstaat anstrebten, und Befürwortern eines eher losen Zusammenschlusses in Form eines Staatenbundes sah er als müßig an, wenngleich er die „Vereinigten Staaten von Europa“ als Fernziel vor Augen hatte.

Christliche Gründerväter

Adenauers Europapolitik richtete sich jedoch nicht nur nach rein pragmatischen Aspekten. Vielmehr war Europa für ihn und seine Weggefährten Robert Schuman und Alcide de Gasperi eine Wertegemeinschaft. Dass es in erster Linie Christliche Demokraten waren, die sich – gegen teilweise erheblichen Widerstand aus dem linken Lager – für die Einigung Europas einsetzten, war kein Zufall. Für sie als Christliche Demokraten konnte diese Gemeinschaft nur im christlichen Menschenbild wurzeln. In Abgrenzung zum Nationalsozialismus, aber auch zum Kommunismus, sollte der einzelne Mensch wieder in den Mittelpunkt allen Handelns gestellt werden. Vermassung und Materialismus, wie sie in den menschenverachtenden totalitären Ideologien propagiert werden, galt es abzuwehren. Gerade im Atheismus des Kommunismus sah Adenauer eine große Gefahr für die Einigung Europas. So erklärte er 1956 auf dem Katholikentag in Köln: „Die gefährlichste Irrlehre unserer Zeit ist der atheistische Materialismus. Er verneint Gott, er haßt Gott, er bekämpft Gott, darum kennt er keine Freiheit.“

Dass es insbesondere ein Verdienst Christlicher Demokraten war, auf dieser Grundlage Europa zu einen, verpflichtet uns heute, für diese Werte einzustehen und das christliche Erbe zu bewahren. Für mich persönlich war diese Politik der Grund, in die CDU Deutschlands einzutreten und mich auf europäischer Ebene für Versöhnung, Verständigung und Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten einzusetzen.

Für die Gründungsväter hörte Europa nicht am Eisernen Vorhang auf. In seiner letzten großen Rede am 16. Februar 1967 im Ateneo in Madrid legte Konrad Adenauer seine Vision eines vereinten Europas dar, das durch seine gemeinsame Geschichte, Tradition und Kultur verbunden ist: „Auch nach Osten müssen wir blicken, wenn wir an Europa denken. Zu Europa gehören Länder, die eine reiche europäische Vergangenheit haben. Auch ihnen muss die Möglichkeit des Beitritts gegeben werden.“ Dieser Traum wurde Wirklichkeit, als die Menschen in der DDR und in den Staaten des Ostblocks mutig ihr Schicksal in die Hände nahmen und gegen das kommunistische Unrechtsregime aufbegehrten.

Der Beitrag der Kirchen zur Versöhnung

Für uns war es ein Glücksfall, dass Helmut Kohl diese historische Chance erkannte und die Einheit in Freiheit – ganz in der Linie Konrad Adenauers – vollendete. Das Gelingen der deutschen Wiedervereinigung bleibt mit seiner staatsmännischen Klugheit und seinem persönlichen Vertrauenskapital verbunden, das er in Europa und der Welt erworben hatte. Dem Prozess der Europäischen Einigung gab er neuen Schwung. Das Schengener Abkommen, der gemeinsame Binnenmarkt, die Öffnung der Union für die Reformstaaten Ost- und Mitteleuropas und der Vertrag von Maastricht sind ohne sein Wirken schwer vorstellbar. Dabei waren ihm seine christliche Prägung und die Erfahrungen seiner Jugend Motivation und Auftrag. Am 11. Dezember 1998 wurde ihm die höchste europäische Auszeichnung zuteil: Die Staatsund Regierungschefs der Europäischen Union ernannten ihn zum „Ehrenbürger Europas“, eine Ehrung, die zuvor nur Jean Monnet erlangt hatte.

Dass heute zehn mittel- und südosteuropäische Staaten, die auf eine ebenso reiche christlich geprägte Geschichte zurückblicken, Teil der Europäischen Union sind, muss uns mit tiefer Dankbarkeit erfüllen. An der Aussöhnung zwischen der Bundesrepublik mit den osteuropäischen Ländern, hatten – lange, bevor der Eiserne Vorhang fiel – auch die Kirchen maßgeblich mitgewirkt. Im Oktober 1965 setzte die Ost-Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ein Zeichen, indem sie den Rechtsanspruch der Bundesrepublik auf die ehemaligen Ostgebiete infrage stellte und stattdessen dem Versöhnungsgedanken Vorrang gewährte. Auf katholischer Seite wurde der Briefwechsel zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen zum Markstein im Aussöhnungsprozess zwischen Deutschen und Polen. Am 18. November 1965 schrieben die polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder. Mit dem entscheidenden Satz „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ streckte die polnische Seite der deutschen die Hand zur Versöhnung aus.

Für den europäischen Einigungsprozess kann das Wirken von Papst Johannes Paul II. nicht hoch genug eingeschätzt werden. Seine Worte „Fürchtet euch nicht. Verändert die Welt, verändert diese Welt.“ waren eine Ermutigung für die Menschen, die mit Solidarność und anderen friedlichen Bewegungen an der politischen Wende 1989 mitwirkten.

Heute leben wir mehr denn je in einem pluralistischen Europa, das nicht nur durch Sprachenvielfalt und regionale kulturelle Unterschiede geprägt, sondern auch Heimat für eine Vielfalt unterschiedlicher Religionen ist. Der Anteil von Christen in Europa sinkt. Doch sollten wir deshalb nicht von einer „Entchristlichung“ sprechen. Vielmehr erleben wir einen Wandel vom christlichen zum christlich geprägten Europa. So wurzeln unsere Werte im christlichen Menschenbild: in der unantastbaren Würde des Menschen, in der auch die Freiheit begründet ist. Die christlichen Prinzipien von Subsidiarität und Solidarität sind auch Prinzipien der Europäischen Union. Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Frieden – ohne sie ist Europa nicht denkbar.

Die „Charta der Grundrechte“ der Europäischen Union beschreibt die bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte der europäischen Bürgerinnen und Bürger. In der Präambel der Charta heißt es: „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet.“ Mit dem Vertrag von Lissabon ist die „Charta der Grundrechte“ Bestandteil europäischen Rechts. Als Christen ist es heute unsere Aufgabe, diese Werte vorzuleben und zu verteidigen, damit sie in der Europäischen Union und Europa, aber auch weltweit ein friedliches Zusammenleben der Völker und Gesellschaften ermöglichen.

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Hans-Gert Pöttering, geboren 1945 in Bersenbrück, Mitglied des Europäischen Parlaments (1979 bis 2014), Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion (1999 bis 2007), Präsident des Europäischen Parlaments (2007 bis 2009), Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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