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Was muslimische Jugendliche über die deutsche Geschichte wissen wollten

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Seinerzeit bestand bei der Perzeption historischer Zeugnisse des Holocaust im Schulunterricht ein gewisser Unterschied zwischen mir und meinen Mitschülern ohne Migrationshintergrund. In den 1980er-Jahren gehörte es zum didaktischen Standardrepertoire, Dokumentationen über die Gräueltaten der Nationalsozialisten in den Unterricht einzubauen. So bekamen wir die dramatischen Filmaufnahmen von britischen Soldaten zu sehen, die 1945 das Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit hatten und von Sidney Bernstein zu „Memory of the Camps“ zusammengestellt worden waren. Die Schwarz-Weiß-Wiedergaben zeigen SS-Leute, die von alliierten Soldaten gezwungen wurden, die ausgemergelten, entkleideten Körper ermordeter KZ-Insassen, deren tote Gesichter schmerzverzerrte Fratzen konservierten und schwarze Löcher anstelle von Augen aufwiesen, eigenhändig durch den Sand zu ziehen und in Gruben zu werfen, die sie zuvor selbst mit Spaten und Schaufel hatten ausheben müssen. Langsame Kameraschwenks präsentierten das KZ-Gelände übersät mit Körpern, bei denen es kaum vorstellbar war – jedenfalls ich konnte es mir kaum vorstellen –, dass in ihnen einmal Leben gewesen sein sollte. Plansequenzen von scheinbar teilnahmslosen Tätern und Überlebenden verstärkten die Aussagekraft der Bilder, und schließlich tauchten die emblematisch gewordenen Bilder von Leichenbergen auf, die wie Steinhaufen von Bulldozern in Massengräber geschoben wurden.

Diese Darstellungen von Grausamkeit und Unmenschlichkeit versetzten uns alle in gebannte Stille, sie nahmen uns auch emotional mit, doch in der weiteren Bedeutung ließen sie mich und andere Mitschüler mit Migrationshintergrund seltsam kalt. Die Aufnahmen wirkten auf uns irreal und irgendwie artifiziell, obwohl gerade dieser Eindruck von den Machern verhindert werden sollte. Wir schalteten ab und drifteten mit unseren Gedanken in andere Sphären. War es, weil wir weniger empathisch waren als unsere deutsch-deutschen Mitschüler? Eine genauere Antwort auf die Frage sollte sich erst im Laufe meiner Forschungstätigkeiten und meiner Praxiserfahrungen als islamische Religionslehrerin und Initiatorin von Projekten zur Extremismus- und Antisemitismusprävention speziell unter muslimischen Jugendlichen nach und nach herauskristallisieren.

Wenn man die Geschichtsvermittlung in Deutschland betrachtet, sticht der Nationalsozialismus zu Recht heraus. Dieser Teil der Geschichte sowie die deutsche Wiedervereinigung haben mit dem Leben heutzutage die meisten unmittelbaren Berührungspunkte. Das gilt für alle Schüler unabhängig von ihrer Herkunft und sonstigen persönlichen Eigenschaften, denn mit keinen anderen historischen Ereignissen werden sie in ihrem Alltag so oft konfrontiert. Zwei Drittel der 14- bis 19-Jährigen führen beides laut dem Marktforschungsinstitut Mindline Media von 2009 auf die Frage hin an, welche Ereignisse aus den letzten 100 Jahren die größten Auswirkungen auf unser heutiges Leben hätten.

Religiöse Einstellungen nicht entscheidend

An der Bedeutung beider Themen für das Curriculum hat sich in der Vergangenheit somit wenig geändert; geändert hat sich jedoch die Zusammensetzung der Gesellschaft. Deutschland ist in verstärktem Maße zu einem Einwanderungsland geworden. Menschen, die heutzutage geboren werden, weisen eine erhebliche migrationsbedingte Heterogenität auf. Das Land steht seit einigen Jahren an der Schwelle, diese Realitäten zu akzeptieren.

Es wäre jedoch überambitioniert, sich nun speziell auf muslimische Jugendliche zu konzentrieren. Die Zuschreibung „muslimisch“ erzeugt ebenso von innen wie von außen eine Kollektivierung, die der Realität nicht standhält. In öffentlichen, vom „Islamhype“ dominierten Diskussionen einerseits und in Statistiken andererseits wird jeder unabhängig von seiner religiösen Einstellung zum Muslim gemacht. Wer aus einem mehrheitlich muslimischen Land wie der Türkei oder einem arabischen Staat kommt, wird als Muslim gezählt – auch dann, wenn er Schweinefleisch isst, Alkohol trinkt, nie betet, nie fastet, nie eine Moschee besucht et cetera. Der offizielle Grund dafür ist, dass in Deutschland die Religionszugehörigkeit wegen der Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus nicht erfasst wird – außer zur Erhebung der Kirchensteuern. Von daher wäre es ein Kardinalfehler, die Frage der deutschen Geschichtsvermittlung (wie im Übrigen auch viele andere gesellschaftspolitische Themen) an der Religion des Islams zu orientieren. Stattdessen sollte der Fokus stärker auf der familiären Herkunft der Menschen liegen. Studien zum Antisemitismus, historische und theologische Forschungen haben in der Vergangenheit immer wieder dargelegt, dass Einstellungen zu Juden, Israel und dem Holocaust unter „Muslimen“ weniger in der Religion begründet sind, sondern mehr mit der politischen Situation in den Herkunftsstaaten ihrer Familien zu tun haben. Stichwort: Nahostkonflikt.

In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg bedurfte es folglich für die Didaktik der Geschichte keiner besonderen Berücksichtigung der natio-ethno-kulturellen Zusammensetzung von Schulklassen. Wer in Deutschland zur Schule ging, hatte in der Regel einen familiären Bezug zur unmittelbaren Vergangenheit. Im Fokus pädagogischer Überlegungen in der Bonner Republik stand daher eher die Problematik der gesellschaftlichen Ignoranz gegenüber dem Thema Nationalsozialismus. Nach dem Fall der Berliner Mauer rückte dann zunächst die Frage in den Vordergrund, wie man die verschiedenen Lebenswelten der ost- und westdeutsch Sozialisierten zusammenbringt; heute ist die Frage der interkulturellen Vermittlung von Geschichtswissen eine der Hauptherausforderungen.

Verfehlte „Holocaust-Erziehung“

Der familiäre Bezug zum sogenannten „Dritten Reich“ ist wie in meinem eigenen Fall bei vielen Schülerinnen und Schülern, deren Eltern eingewandert sind, sozusagen nicht „biologisch“ verankert. Der Blick darauf wurde von außen vorgegeben, was bis in die Gegenwart hinein gilt. Damals wie heute ist festzustellen, dass es an Überschneidungen mit der persönlichen Familiengeschichte fehlt. Deshalb lassen sich nach meinen Beobachtungen für junge Menschen insbesondere mit einem außereuropäischen Migrationshintergrund die Geschehnisse der deutschen Geschichte allzu leicht als irrelevant für ihr eigenes historisches Empfinden abtun. Schüler begegnen den herkömmlichen didaktischen Ansätzen vielfach mit der Haltung: Meine Großeltern, Eltern und ich sind allesamt unschuldig; warum soll ich mich damit näher befassen? Diese Haltung konvergiert mit mangelndem Wissen und mündet nicht selten in der Relativierung der Geschehnisse. Die Schüler sagen sich: In anderen Teilen der Welt gab es ebenfalls schlimme Kriegsverbrechen. Zudem wird unter den herkömmlichen Konzepten der „Holocaust-Erziehung“, wie die Antisemitismusforscherin Juliane Wetzel schreibt, „nicht so sehr eine Vermittlung kognitiven Wissens über den Holocaust verstanden, sondern vielmehr eine Moral- und Werteerziehung, die gegen Rassismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und vieles mehr immunisieren soll und das eigentliche Geschehen immer weiter in den Hintergrund treten lässt. Die Vermittlung historischen Wissens steht dabei nicht im Mittelpunkt.“ Solche Ansätze schrecken Schüler mit Migrationshintergrund mitunter ab, weil sie sich angesichts eigener Diskriminierungserfahrungen in der deutschen Gesellschaft eher selbst als Opfer sehen.

Ergänzende Bausteine für den Lehrplan

Vor diesem Hintergrund muss eine Pädagogik der Solidarisierung entwickelt werden. Dazu ist zunächst Empathie-Vermittlung nötig. Die jungen Menschen müssen die Relevanz der Vergangenheit für ihre eigenen Biographien verstehen. Es geht um ein emotionales Begreifen, losgelöst von Schuldfragen.

„Junge Menschen können dann für Geschichte begeistert werden, wenn sie mit ihnen und ihrem Leben zu tun hat“, erklärte Sven Tetzlaff von der Körber-Stiftung, die im vergangenen Jahr eine Studie zum Geschichtsunterricht durchgeführt hat. Das gilt übrigens nicht nur für Menschen mit Migrationshintergrund, sondern auch für jüngere ohne. Zunehmend können wir beobachten, dass jüngere Generationen nicht mehr denselben Bezug zum Nationalsozialismus haben wie ältere Generationen. Besagter Studie der Körber-Stiftung zufolge wissen nur 59 Prozent der Schüler ab vierzehn Jahren, was Auschwitz-Birkenau war.

Um diesen Herausforderungen zu begegnen, gibt es verschiedene Wege. Der erste führt über persönliche Kontakte. Bei dem Thema Holocaust reicht es nicht mehr, Schwarz-Weiß-Bilder zu zeigen. In den vergangenen Jahren wurde zunehmend der Kontakt mit Zeitzeugen in die Geschichtsvermittlung eingebaut. Diese Methodik hat eine natürliche zeitliche Begrenzung. In Zukunft werden wir verstärkt auf die Zusammenarbeit mit jüdischen Gemeinden setzen müssen, mit Menschen, deren Vorfahren Opfer der Judenvernichtung geworden sind. Geschichte wird lebendig über Menschen, die Bezug dazu haben. Der zweite Weg besteht im Ausschalten der „Opferkonkurrenzen“. Jedem Lernenden muss klar werden: Auch ich kann andere ausgrenzen und Täter sein. Drittens muss ein stärkerer Bezug zu den Familiengeschichten von Menschen mit Migrationshintergrund geschaffen werden.

Die Ziele der beiden zuletzt aufgeführten Wege lassen sich im Hinblick auf „muslimische“ Jugendliche mit ergänzenden Bausteinen im Lehrplan erreichen. So könnte man kritisch thematisieren, dass Zehntausende „Muslime“ für die Wehrmacht oder die SS gekämpft haben. Man könnte beispielsweise die bosnische Handschar-Division oder die Ustascha-Milizen hervorheben, den Besuch des palästinensischen Muftis von Jerusalem, Amin al-Husseini, bei Adolf Hitler in Berlin und die Islampolitik des Auswärtigen Amts. Das Gefühl, dass der Nationalsozialismus auch „muslimische“ Jugendliche betrifft, ließe sich aber auch mit positiven Geschichten erzeugen, zum Beispiel mit der Geschichte des ägyptischen Arztes Mohamed Helmy, des tunesischen Aristokraten Khaled Abdul-Wahab oder des iranischen Diplomaten Abdol-Hossein Sardari in Paris sowie anderer, die in den 1940er-Jahren Juden vor der Vernichtung gerettet haben.

Schwerpunktsetzungen modifizieren

Diese Empfehlungen berühren ein seit Jahrzehnten drängendes Problem: die Überwindung des Eurozentrismus in Geschichtsschreibung und -vermittlung. In einer sich globalisierenden Welt ist der Eurozentrismus schon per se ein Problem, das an Relevanz zunimmt. Die Kritik daran gehört Sebastian Conrad zufolge heute zum guten Ton. An der Stelle aber, an der viele Lernende nicht mehr aus dem modernen Mitteleuropa kommen beziehungsweise ihre genealogischen Wurzeln nicht dort verorten können, wird die Problematik noch deutlich virulenter, insbesondere, wenn der Eurozentrismus mit einer geringschätzigen Darstellung außereuropäischer Kulturleistungen verbunden ist. In Bezug auf unser Thema ließen sich diese Schwierigkeiten ebenfalls über die Lehrpläne relativ kurzfristig ein Stück weit abbauen, indem man Schwerpunkte, beispielsweise auf den Afrikafeldzug der Achsenmächte, den deutsch-türkischen Freundschaftsvertrag von 1941, den Dreimächtepakt oder – vorbereitend – auf die deutsch-koloniale Vergangenheit in Afrika, Asien und der Südsee, setzt und dabei die Geschehnisse nicht nur aus deutscher, sondern auch aus Sicht der anderen darstellt.

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Lamya Kaddor, geboren 1978 in Ahlen, deutsche Lehrerin, muslimische Religionspädagogin, Islamwissenschaftlerin und Publizistin, Gründungsvorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes. Im März 2018 erschien ihr biographisches Sachbuch „Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben“ (Piper Verlag, München).

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