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Veranstaltungsberichte

Sozialsysteme vor dem Zusammenbruch

Wie der Generationenvertrag wiederbelebt werden kann

Zur inzwischen achten Veranstaltung in der Reihe „Handlungsauftrag Demografie“ hatte das Politische Bildungsforum der Konrad-Adenauer-Stiftung, Landesbüro Mainz, in den Erbacher Hof eingeladen. Die Gäste hatten hier die Möglichkeit, mithilfe der herausragenden Expertise der Referenten ins Gespräch zu kommen über die Schieflage der Sozialsysteme angesichts der immer deutlicher hervortretenden Folgen des demografischen Wandels, die Rentengerechtigkeit und die Zukunft der umlagefinanzierten staatlichen Leistungen.

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Die Notwendigkeit von Anpassungsleistungen – bedingt durch den demografischen Wandel – seien noch vor einigen Jahren nicht in der Weise sichtbar gewesen, wie dies bereits heute beispielsweise durch Zentrumszuzug oder die Pflegeproblematik der Fall ist, stellte Karl-Heinz B. van Lier, Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung für Rheinland-Pfalz und Leiter des Landesbüros Mainz, im Rahmen seiner Einführung fest. In der Rentenreform des Jahres 1957 läge die Ursache für die heutige Schieflage, „da das von Schreiber seinerzeit erdachte Modell eines Umlagesystems, in welchem lediglich ein Anteil aus der Gesamtheit der Arbeitseinkommen für Alte aufgewandt werden sollte, nur teilweise umgesetzt und somit zu einer Fehlkonstruktion wurde“, so van Lier. Eine Generationengerechtigkeit sei mit diesem Rentensystem nicht zu erzielen, denn es basiere auf der Annahme, dass die eingezahlten Beiträge eine Rente erdienten. Und weiter: „Außer Acht wird gelassen, dass die Rentenbeiträge eigentlich bloß die Leistungen der vorhergehenden Generation erstatten“.

Jürgen Liminski, Journalist beim Deutschlandfunk und Moderator des Abends, gab eingangs zu bedenken, dass auch die Medien eine gewichtige Rolle im Umgang mit Fragen der Generationengerechtigkeit und des demografischen Wandels spielten. „Medien formen den Mainstream mit Falschaussagen. Sie verzerren, beschönigen und vorverurteilen und machen daher die Brauchbarkeit und den Nutzen des Wissens fraglich“, so Liminskis Überzeugung. Daher mahnte er die unbedingte Notwendigkeit an, an unverrückbare Tatsachen zu erinnern, „da sie unsere und die Zukunft unserer Kinder beeinflussen“. Die Vorträge und Gespräche des Abends sollten dazu einen Beitrag leisten.

Zum Thema „Bahnbrechende Urteile des Bundesverfassungsgerichts und die fehlende Umsetzung durch die Politik“ referierte Prof. Dr. Anne Lenze von der Hochschule Darmstadt, wo sie sich mit Gesellschaftswissenschaften und sozialer Arbeit befasst.

In ihrer Bestandsaufnahme hielt sie zunächst fest, dass vor allem rentennahe Jahrgänge den genauen Blick auf den Zustand der Sozialsysteme scheuten: „Das Eis ist dünn, das wissen alle, aber niemand möchte so genau hinschauen“. Gleichzeitig bescheinigte sie der jungen Generation einen „undifferenzierten Zweckpessimismus nach dem Motto: Wir kriegen eh keine Rente mehr!“. Lenze interpretiert die gegenwärtige Situation der sozialen Sicherungssysteme insgesamt als eine Art letztes Aufblühen vor dem Tod. Dieses aber werde, so Prof. Lenze weiter, bald zu Ende sein, wenn die geburtenstarken Jahrgänge - jene also, die gleichzeitig immer weniger Kinder bekamen - krank und das System somit viel Geld kosten werden. Ab 2030, gab die Referentin zu bedenken, erreichten zwei Mal so viele Menschen das Rentenalter wie junge Menschen in den Arbeitsmarkt hineinkämen. Hierzu weiter: „Noch geht es uns auch deshalb gut, weil wir von den nicht geborenen Kindern dadurch profitieren, dass wir am ansonsten Notwendigen wie Lehrern, Erziehern, usw. sparen können. Den damit einhergehenden Konsumrückgang fängt derzeit noch die Exportorientierung der Wirtschaft auf“.

Für die Zukunft der umlagefinanzierten Rentensysteme müsse sich Lenze zufolge daraus eine Abkehr vom Renditegedanken, vor allem aber eine Verschiebung der Lebensarbeitszeit nach hinten ergeben. Der Anteil dieser Maßnahme an der Finanzierung des Rentensystems betrage rund ein Drittel. Die fehlenden Geburten, so Lenze weiter, seien das eigentliche Problem, da die Kosten des fehlenden Nachwuchses völlig unfair verteilt würden. Ihr Lösungsansatz lautet daher: „Wer Beiträge zahlt und Kinder erzieht müsste immer besser gestellt sein, aber dies ist in der Systematik nicht eingepreist“.

Einen ersten Ansatz diesen Umstand zu berücksichtigen, machte das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil aus dem Jahre 1990. Demzufolge wurde es als nicht verfassungskonform erachtet, dass der Anteil des Einkommens von Eltern, welcher für den Unterhalt von Kindern verwandt wird, gleichermaßen besteuert wird wie sonstiges verfügbares Einkommen. Das Urteil besagte zudem, dass „die Vermeidbarkeit von Kindern nicht der Vermeidbarkeit von sonstigen Bedürfnissen entgegengesetzt werden darf“. Das Bundesverfassungsgericht erkannte mit diesem Urteil also an, dass Kinder keine Privatsache der Eltern seien, fasste Prof. Lenze zusammen. Dieses Urteil sei 1992 durch das sogenannte „Trümmerfrauenurteil“ ergänzt worden, welches erstmals die strukturelle Benachteiligung von Kindererziehung durch zeitgleiche Erwerbslosigkeit hervorhob. Vor allem aber habe das Bundesverfassungsgericht in diesem Urteil festgestellt, dass die Benachteiligung durch das Großziehen von Kindern nicht durch anderweitige staatliche Leistungen ausgeglichen werde, so Lenze.

Basierend auf dem „Trümmerfrauenurteil“ reicherte das höchste deutsche Gericht 2001 in einem Urteil zur Pflegeversicherung den Begriff der ‚strukturellen Benachteiligung‘ mit Inhalt an. Demnach sei der Verzicht auf Konsum und Vermögensbildung eben jene Benachteiligung, die versicherungstechnisch gegengerechnet werden könne. „Somit bewertete das Bundesverfassungsgericht erstmals den Beitrag, welchen die Kindererziehung zur Pflegeversicherung leistet, als konstitutiv“, hielt Prof. Lenze fest. Aus dem Urteil ergab sich die Pflicht des Gesetzgebers zur Prüfung aller Grundsätze bei der Beitragsbemessung in allen Bereichen der sozialen Sicherungssysteme. „Bis heute aber haben die nachfolgenden Gerichte dem Bundesverfassungsgericht die Nachfolge mit stets neuen juristischen Wendungen verweigert und hat die Politik darauf nicht reagiert“, stellte die Referentin resignierend fest. Stattdessen werden Eltern durch die strukturellen Benachteiligungen der Sozialsysteme in die Mithaftung für die Negativfolgen des demografischen Wandels genommen. Eine Reform der sozialen Sicherungssysteme müsse dringend eine Beitragsgerechtigkeit für Eltern in der Sozialversicherung herstellen sowie die Steuerfreistellung des Kindesunterhalts umsetzen, fasste Prof. Lenze zusammen. Und abschließend: „Das Steuerrecht muss alle Eltern berücksichtigen. Ungeachtet ob alleinerziehend oder verheiratet“.

Der vorsitzende Richter am Hessischen Sozialgericht und Autor des Buches „Sozialstaatsdämmerung“, Dr. Jürgen Borchert, schloss mit seinen Ausführungen zum Thema „Die Politik von allen Geistern verlassen! Rente, Gesundheit, Pflege: Altersversicherung im freien Fall“ an.

Dabei prangerte er die Zerstörung der Bindung zwischen Eltern und Kindern durch die Sozialversicherung an, da diese in erheblichem Maße die private Altersvorsorge der Kinder für ihre Eltern finanziell einschränke und gleichzeitig „die Leistungen der Kinder auf Kinderlose“ umverteile. Die Weitsicht der Politik reiche nicht aus, um diese Zusammenhänge zu begreifen, so Borchert. Immer wieder sei von den „Chancen der demografischen Entwicklung“ die Rede. Der Sozialrichter zitierte hier den einzig namhaften deutschen Demografen Herwig Birg: „Wer von diesen Chancen spricht, müsste auch von den Chancen der Architektur durch die Bombardements im 2. Weltkrieg reden“. Bereits 1977 habe man gewusst, dass die Folgen des demografischen Wandels ab 2010 sichtbar würden und nicht gehandelt.

Dr. Borchert verdeutlichte die Problemlage weiter: „Ab dem Jahr 2035 gehen die Babyboomer in den Ruhestand und somit 1,25 Millionen neue Rentner allein in 2032. Das Problem hierbei ist, dass circa 20 Prozent der nach 2000 geborenen Kinder für den Arbeitsmarkt als funktionelle Analphabeten ausfallen werden“. Gleichzeitig verließen so viele Highpotentials wie nie das Land. „Beide sorgen somit nicht für die Nachhaltigkeit des deutschen Wirtschaftssystems“, stellte Borchert fest. Unweigerlich, so seine Einschätzung, werden künftig steigende Sozialbeiträge immer weiter sinkenden Leistungen gegenüberstehen: „Das Äquivalenzdenken, dass wer viel einzahlt auch viel wieder herausbekommt, wird durch die Entwicklung ad absurdum geführt“.

Um all diese Probleme nicht ins öffentliche Bewusstsein gelangen zu lassen, vertusche die Politik bewusst die Folgen, gab der Referent zu bedenken. Hier werde beispielsweise gerne der Produktivitätsanstieg hervorgehoben, um zu suggerieren, dass eine reelle Chance auf eine positive Entwicklung der Einkommen insgesamt bestünde. Produktivität aber, so Borchert weiter, „hat mit Innovationskraft zu tun und speist sich aus fluider Intelligenz, die nur junge Menschen haben“. Auch die Versicherungsterminologie vernebele der Öffentlichkeit die Tatsachen: „Die Rente ist heute ein Normalfall und kein Ausnahmefall mehr wie noch zu Bismarcks Zeiten, als das Renteneintrittsalter bei 70 Jahren lag, die Lebenserwartung aber nur bei durchschnittlich 40 Jahren“.

Auf die Frage warum sich die Politik all diesen Tatsachen verweigert und die politisch Verantwortlichen nicht handeln, hat Dr. Borchert eine klare Interpretation. Sie lautet: Kognitive Dissonanz. Ein Zustand also, bei dem Begriffe und Wirklichkeit, Denken, Fühlen und Handeln nicht mehr zueinander passen. Und weiter: „Deutschland unterliegt einem tiefen kulturellen Wandel!“. Durch diese Dissonanz würden Freiheit und Verantwortung entkoppelt. Die Freiheit aber funktioniere nicht ohne Verantwortung, deshalb sei die Bundesrepublik ein sozialer Rechtsstaat. „Die Sozialsysteme verhüllen systematisch und semantisch die Definitionen von Hilfsbedürftigen und solchen, die Hilfe leisten können“, ergänzte der Referent. Die Freiheit für einen Lebensentwurf werde in unseren Sozialsystemen von der Verantwortung für die Folgen eines Lebensentwurfs entkoppelt.

Borcherts Fazit lautete daher: Künftig muss vor allem semantische Klarheit geschaffen werden, um die vorherrschenden kognitiven Dissonanzen zu bereinigen und die Politik muss endlich dazu kommen, das umzusetzen, „was Karlsruhe von ihr verlangt!“.

Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU im rheinland-pfälzischen Landtag, Christian Baldauf, MdL, formulierte abschließend zum Vorangegangenen Fragen aus der Politik. Immer wieder, so der Abgeordnete, höre er im Rahmen von politischen Auseinandersetzungen den Ausspruch „Das können wir uns nicht leisten!“. Daher stellte Baldauf die Frage in den Raum „Was können wir uns denn leisten, wenn wir feststellen, dass zu wenige Kinder geboren werden?“

Er schloss die Frage an, welche gesetzlichen Vorgaben müssten erfolgen müssten, um wieder Mut zur Familie zu machen? Denn die Flut von Maßnahmen führe offenbar nicht zum gewünschten Ergebnis, stellte Baldauf fest.

Die abschließend von Jürgen Liminski moderierte Gesprächsrunde gab den Gästen die Möglichkeit mit den Experten ins Gespräch zu kommen, bot aber auch die Gelegenheit für die Referenten noch einmal vertiefend ihre Lösungsansätze und Vorschläge zu erläutern.

So formulierte Dr. Jürgen Borchert die Notwendigkeit der Wiederherstellung biografischer Stabilität vor allem hinsichtlich der Arbeitsverhältnisse junger Arbeitnehmer in dem Alter, in dem man üblicherweise eine Familie gründet. Und er ergänzte: „ Eine individuelle Verengung der Löhne zu Ungunsten der Familien muss abgeschafft werden, aber dies ist nur politisch zu lösen!“. Prof. Lenze plädierte für eine unbedingt notwendige Abschaffung der Benachteiligung der Familien in der Rente. Dabei ging sie noch einen Schritt weiter: „Es geht nur über das Materielle!

Kinderlosigkeit muss ökonomisch erfahrbar sein und wehtun!“. Christian Baldauf, MdL, beschloss die Runde mit dem Appell: „Verlässlichkeit muss wieder in den Vordergrund gerückt werden! Wir leben in einem Umfeld, in dem viele etwas wollen, aber nur wenige etwas geben. Im Sprachgebrauch muss man aus der Ausnahme wieder die Regel machen“.

Karl-Heinz B. van Lier gab den Gästen mit auf den Weg: „Familien müssen ihre Zurückhaltung aufgeben, nur durch Familien gibt es überhaupt Zukunft!“

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