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Veranstaltungsberichte

Wie erreichen wir leistungsschwache Schüler ?

Politischer Salon am 21. August 2010 im Erbacher Hof in Mainz

Eine Zusammenfassung des "Mainzer Politischen Salon" finden Sie hier.

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Zu bildungspolitisch relevanten Fragen hatte die Konrad-Adenauer-Stiftung Experten und Referenten mit wissenschaftlichem Hintergrund, aber auch mit Praxisbezug eingeladen, um sich der Frage zu stellen, wie es gelingen kann, Jugendliche mit augenscheinlich geringem Leistungspotential entsprechend ihren Fähigkeiten zu fördern und zu fordern. Die Veranstaltung, moderiert von Bettina Dickes, MdL, brachte viel Erhellendes zutage und zeigte eine Reihe von positiven Beispielen, wie Schule leistungsschwache Schüler integrieren kann.

Als Vertreter der akademischen Herangehensweise an die Frage, wie leistungsschwache Schüler zu erreichen sind, sprach Prof. Dr. Stefan Sell von der FH Koblenz über die Bedeutung des Elternhauses, des sozialen Umfelds und des Lernerfolgs für eben diese Jugendlichen. „Wer auf die Hauptschule geht, ist ein bildungsferner Verlierer“, so lässt sich Prof. Sell zufolge das Bild eingrenzen, das heutzutage vielerorts gezeichnet wird. Tatsache aber ist, dass mindestens 50 Prozent dieser Hauptschüler durchaus schulisch und beruflich sehr erfolgreich sind. Statistisch gesehen sind sie demnach also nicht notwendigerweise „Problemkinder“, vielmehr mache die öffentliche Diskussion sie dazu. Besonders kritisch betrachtet Prof. Sell die industrialisierte Vorstellung von Bildung: „Die Modularisierung von Bildung und der funktionalistische Blick auf unsere Kinder ist falsch“. Auch deshalb gelten heute rund 40 Prozent der Jungen zwischen 9 und 15 Jahren als beratungswürdig im Sinne der Erziehungsberatung, deren Zahlen sich seit Jahren in einem ungebrochen starken Wachstum befinden. Offenbar, so Sell, haben Jungen im herrschenden Schulsystem mehr Probleme als Mädchen, die sich in der Regel besser anpassen können. Wenngleich die Gender-Diskussion in diesem Zusammenhang als überspitzt gelten muss, so ist hierbei doch auch die Feminisierung von Bildung im Allgemeinen ein entscheidender Faktor. Die Zuständigkeit für die dann problematischen Schüler wird hin und her geschoben zwischen Elternhaus und Schule – ein „Delegationsprinzip von Verantwortung“. Dabei zeigen bildungsökonomische Studien, dass die Bedeutung des Elternhauses und des Familienhintergrunds in der Relation zur Bildungsstätte, bezogen auf die Bildung von Humankapital im Sinne einer umfassenden Persönlichkeitsbildung, etwa bei einem Verhältnis von 2:1 liegt. Daher sei, so Prof. Sell, die ganze öffentliche Diskussion um Bildung insgesamt zu schulzentriert. Auch höhere finanzielle Aufwendungen für die Bildungseinrichtungen würden am Status quo nichts ändern. Vielmehr sollten staatliche Mittel stärker dort eingesetzt werden, wo Förderung bereits in der frühen Kindheit notwendig ist. Ungleichheit zeige sich vor allem im Bereich der privaten Investitionen in Bildung: „Daher hat die Herkunft bei uns noch immer den entscheidenden Einfluss auf den Schul- und den Lebenserfolg“, hier muss das Engagement vorrangig ansetzen. Der große Einfluss des familiären Hintergrunds wird sich kaum reduzieren lassen, so die Auffassung Sells, was allerdings auch nicht gewollt sein kann. Auch die Schule selbst sollte sich in höherem Maße den gesellschaftlichen Räumen um sie herum öffnen. Der Referent weiter: „Oftmals wird das Ausscheren aus dem, was die gesellschaftliche Norm ist, verteufelt. Besser wäre es, wenn jene, die im Schulsystem an ihre Grenzen stoßen, auch die Möglichkeit bekämen aus diesem herausgenommen zu werden, um abweichendes Verhalten einer Akzeptanz zuzuführen und die Schüler in entsprechende Erfahrungsgruppen einzubeziehen.“ Hier könnten leistungsschwache Schüler Erfolgserlebnisse haben, die ihr Selbstbewusstsein stärken und ihre Motivation erhöhen.

Die Frage inwieweit sich die spezifische Situation von Migrantenkindern von der anderer unterscheidet, beantwortete Dr. Marwan Abou-Taam vom LKA Mainz in seinem Vortrag. Der steigende Anteil von Migranten an der Gesamtbevölkerung (derzeit 24 %) zeigt die dringende Notwendigkeit sich im Zusammenhang mit bildungspolitischen Diskussionen auch mit Fragen der Integration zu befassen. In manchen Städten gibt es bereits jetzt 40 % und mehr Kindergartenkinder mit Migrationshintergrund, von den unter 6-jährigen ausländischen Kindern, wurden 90 % in Deutschland geboren. Die Zahl der Kinder mit diesen „hybriden Identitätsformen“, wie Dr. Abou-Taam sie nennt, wird in den nächsten Jahren zahlenmäßig weiter ansteigen. Dabei lässt sich die Problemlage auf einen einfachen Nenner bringen: „Bildungsdefizite sind die maßgebliche Ursache der Desintegration“. So leben 40 % der 2,5 Millionen Türken in Deutschland länger als 20 Jahre hier, 84 % länger als 10 Jahre. Allerdings haben etwa 60 % von ihnen keine Berufsausbildung oder keinen Schulabschluss und nur 4 % eine Hochschulreife. Dennoch warnt Dr. Abou-Taam davor die Debatte zu ethnisieren: „Die sogenannten Bildungsverlierer sind nicht immer nur Türken“. Für viele Jugendliche mit Migrationshintergrund seien aber, so Abou-Taam weiter, andere soziale Räume außerhalb der Schule und des Elternhauses immens wichtiger, da sie dort erwiesenermaßen die meiste Zeit verbringen. Als konkurrierende oder sich ergänzende (Lern-)Räume sind hier Schulen und Kindergärten, Vereine, kulturelle Angebote, die Peer-Group und die Medien zu nennen. Die Schulen haben vor allem in abgeschotteten Zuwanderungsquartieren Schwierigkeiten und müssen sich großen Herausforderungen stellen, da in (Groß-) Städten beispielsweise bis zu 40 % der Schulpflichtigen eine andere Erstsprache als Deutsch haben. Hier appellierte der Referent eindringlich nicht Schule und Familie gegeneinander auszuspielen: „Die Verschiebung der Schuldfrage in Richtung der Eltern führt letztlich dazu, dass die Gesellschaft insgesamt die Folgen dieser Desintegration zu tragen hat“. Seiner Ansicht nach ist Bildung daher eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Bernd Kuha, Schulleiter einer Förderschule in Rheinbrohl, stellte das an seiner Schule erfolgreich praktizierte Konzept eines kooperativen freiwilligen 10. Schuljahres vor und vermittelte damit die Losung, dass eine erfolgreiche Förderung leistungsschwachen Schüler sehr wohl möglich ist. Das Konzept diene, so Kuha, dem Vorantreiben der Rückschulungen in die Regelschule und fußt auf der Erkenntnis, dass Schule auf die Veränderung der sie umgebenden Zustände und Bedingungen mit der Weiterentwicklung von Schule und Förderpädagogik zu reagieren hat. Das Modell sieht vor, dass die Schüler im Rahmen einer verpflichtenden Ganztagsbeschulung (42 Wochenstunden) einen Praxistag in der Klasse 8 der Regelschule (6 Wochenstunden) verbringen. In den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch findet ein täglicher Unterricht statt, in Zusammenarbeit mit den Eltern empfiehlt die Klassenkonferenz einen Schüler für dieses Modell nach erkennbarer, positiver Motivation und dem Erkennen eines hohen Maßes an Leistungsbereitschaft seitens des Schülers. Die kleinen Gruppen und das hohe Engagement der Lehrkräfte ermöglicht, so Kuha, „die leistungsorientierte Förderung auf der Grundlage konsequent fordernden Verhaltens“. Das seit 2006 erfolgreich durchgeführte Projekt erwartet von den Jugendlichen ein besonderes Maß an Interesse, Motivation, Leistungswillen, und Selbstdisziplin und somit an nachhaltiger Lernanstrengung. So wird nicht nur Fachkompetenz vermittelt, sondern auch Schlüsselkompetenzen wie Persönlichkeit und Verlässlichkeit gefördert und gefordert. Der Forderung „Alle Kinder in die Regelschulen!“ steht der Schulleiter kritisch gegenüber. Förderschulen sollten nicht abgeschafft werden, da der hier geübte Idealismus den Blick auf die Wirklichkeit verstellen könnte, so Kuha. Und abschließend: „Alle beeinträchtigten Kinder haben ein Recht auf eine integrative Schule - aber nicht die Pflicht eine solche zu besuchen“.

Ein weiteres, überaus erfolgreiches Modell zur Integration und Förderung leistungsschwacher Schüler stellte Herwig Dowerk, Direktor der Kooperativen Gesamtschule Neustadt/Niedersachsen, vor. Das sogenannte ´Neustadter Modell´ sieht für den Hauptschulzweig die Kooperation mit einer Berufsbildenden Schule vor, in der zugunsten des Praxisbezugs allgemeinbildende Inhalte mit einer beruflichen Qualifikation verbunden werden. Die Erfahrung zeige, so Dowerk, dass die Fachpraxis das Selbstbewusstsein und die Motivation der Schüler erhöht: „Die Schüler sind hochmotiviert und lernen schneller“. Die Intention dieses kooperativen Modells lag Dowerk zufolge unter anderem darin, Schule noch einmal neu zu denken. So wird den Schülern nicht mehr nur eine formalisierte Form des Lernens angeboten, sondern ergänzend dazu auch anschauliche Inhalte. Die Vorteile liegen für den Direktor der KGS auf der Hand: „Die Vermittlung allgemeiner und beruflicher Bildung in dieser Form führt in der Regel zu einem Ausbildungsverhältnis seitens der Schüler und auch die Lehrkräfte sind mit ihrer Arbeit zufriedener.“ Die KGS Neustadt ist mit dem ´Neustadter Modell´ inzwischen so erfolgreich - auch eine Erweiterung auf den Realschulzweig ist sehr erfolgreich verlaufen -, dass sie mehrfach ausgezeichnet wurde und das Konzept in der Zwischenzeit bereits Einzug ins niedersächsische Schulgesetz gefunden hat. Seit 2005 haben nur zwei Schüler die Schule ohne Abschluss verlassen, die Leistungsbereitschaft und die Motivation seien enorm gestiegen, so Dowerk. Und eben diese veränderte Haltung der Schüler sei es, die dazu führe, dass niemand mehr durch das Netz fiele. Bis 2004 verließen 19 % der KGS-Schüler die Schule ohne Abschluss, fast alle rutschten in die sogenannten „Übergangssysteme“, in die in Deutschland jährlich 6,6 Mrd. Euro investiert werden, und die die Lücken im Bildungssystem schließen sollen. Hier landeten die Schüler in immer neuen Qualifizierungsetappen, die lange dauern und viel kosten. Herwig Dowerks Fazit lautete daher: „Man kann Systeme auch von innen verändern“.

Karin Mades, Rektorin einer Mainzer Grundschule, beschloss den Politischen Salon mit ihrem Erfahrungsbericht über das an ihrer Schule erfolgreich gestartete Hausaufgabenbetreuungsprojekt. Die mittlerweile fünfzehn Betreuer im Alter zwischen 45 und 75 Jahren bieten den Grundschülern der dritten und vierten Klasse ehrenamtlich am Vormittag, im direkten Anschluss an den regulären Unterricht, Hilfestellung bei den Hausaufgaben. Notwendig wurde dies, so Mades, da die Nachhilfe durch das Land Rheinland-Pfalz lediglich für die ersten beiden Grundschuljahre gefördert werde, der Anteil von etwa 30 % von Schülern mit Migrationshintergrund aber eine kontinuierliche Unterstützung der leistungsschwächeren Grundschüler dringend notwendig machte. „Die Kinder nehmen die dauerhafte Bindung an eine Bezugsperson sehr gut auf, die Lern- und Leistungsbereitschaft ist seit dem Start des Projekts merklich angestiegen“, berichtet Mades. Das Beispiel der Heinrich-Mumbächer-Schule zeigt: Teile der Förder- und Integrationsleistung im Bereich der Bildung können und müssen auch ehrenamtlich organisiert werden. Der Lohn können „strahlende Kinderaugen sein“, weiß die Rektorin zu berichten.

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