Das „Klimajahr 2015“ strebt seinem Höhepunkt entgegen. Anfang Dezember soll auf der Weltklimakonferenz in Paris1 – anknüpfend an das Kyoto-Protokoll von 2005 – eine neue internationale Übereinkunft zur Bekämpfung des Klimawandels unterzeichnet werden. Das allein ist schon ein Wert an sich; schließlich ist abzusehen, dass man sich auf verbindliche Emissionsziele einigen wird. Doch ist dieses Abkommen zweifellos auch ein Meilenstein für eine nachhaltige globale Entwicklung, die ohne einen verbesserten Klimaschutz nicht funktionieren kann. Immerhin besteht nunmehr weltweit ein Konsens darüber, dass Entwicklung Wachstum benötigt, dies aber klimafreundlich gestaltet werden muss.
2015 ist jedoch nicht allein deshalb ein Schlüsseljahr. Tragende Säulen der globalen Entwicklungspolitik werden erneuert und für die kommenden fünfzehn Jahre neu ausgerichtet: Im März verabschiedete die internationale Gemeinschaft im japanischen Sendai ein Rahmenabkommen zur Verbesserung der Resilienz gegenüber den Auswirkungen von Naturkatastrophen,2 das die Entwicklung in den vom Klimawandel besonders gefährdeten Staaten absichern soll. Das betrifft vor allem Länder im Sahel, am pazifischen Feuergürtel oder auch kleine Inselstaaten. Im Juli kam es in Addis Abeba zu einem wichtigen Übereinkommen zwischen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern über die Entwicklungsfinanzierung. Auf dieser Grundlage sollen die ambitionierten Entwicklungsziele bezahlt werden.3 Schließlich wurde auf dem Weltgipfel der Vereinten Nationen in New York Ende September mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung, den Sustainable Development Goals (SDGs), das Herzstück der „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ verabschiedet.4
Diese siebzehn „Global Goals“ beinhalten eine umfassende Entwicklungsagenda: die Bekämpfung von Armut und Hunger (Ziele 1–2); Verbesserung von Bildung und Gesundheit (Ziele 3–4); eine saubere Wasser , Abwasser- und Energieversorgung (Ziele 6–7); nachhaltiges Siedeln, Wirtschaften und Konsumieren (Ziele 8–9, 11–12); Bekämpfung des Klimawandels und Biosphärenschutz (Ziele 13–15); Bekämpfung sozialer Ungleichheit (Ziele 5, 10, 16).5 Dazu kommt – als letzter Punkt im Zielekatalog – die Vereinbarung einer Partnerschaft zur Umsetzung, Begleitung und Überprüfung der SDGs. Erstmals verpflichten sich die Staaten damit zu einer kontinuierlichen gegenseitigen Kontrolle, Bewertung und Unterstützung. Die Entwicklungsziele sind inhaltlich detailliert ausgefüllt: 169 „targets“ – gemeint sind Indikatoren – machen die Zielsetzungen konkret. Man könnte sagen, dass diese Indikatoren den derzeitigen globalen Entwicklungskonsens in Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft abbilden – das heißt, das Abschlussdokument von New York geht weit über frühere Vereinbarungen hinaus, die eher einen technokratischen und weniger einen politischen Charakter hatten.
Leitstern und Taktgeber für die globale Entwicklung
Die relativ erfolgreiche Umsetzung der vorausgegangenen Millennium Development Goals aus dem Jahr 2000 scheint die Weltgemeinschaft ermutigt zu haben, mit noch ambitionierteren Entwicklungszielen in eine neue Runde zu gehen. Man kommt nicht umhin, den Umfang und die Konkretion der „Global Goals“ als einen der wichtigsten Leitsterne und Taktgeber der internationalen Entwicklungspolitik zu würdigen. Sie sind mit höchster politischer Legitimation ausgestattet und werden in den kommenden fünfzehn Jahren weltweit sowohl das staatliche als auch das nicht-staatliche Handeln entscheidend bestimmen.6 Andererseits trägt dieser umfassende Anspruch auch utopische Züge: In Gänze lässt sich dieser Katalog in den nächsten anderthalb Dekaden gewiss nicht umsetzen.7
Mit der „Agenda 2030“ wird schon im Ansatz der Entwicklungspolitik ein Paradigmenwechsel vollzogen. So soll die heute anachronistisch erscheinende Unterscheidung der Welt in „Entwicklungsländer“ und „entwickelte Länder“ überwunden werden. Der Idee nach geht es um eine „Partnerschaft auf Augenhöhe“, die die Logik von Produzenten und Empfängern von Entwicklungslösungen, von „Gebern“ und von „Nehmern“ aufbrechen soll. Eine wachsende Anzahl von Staaten ist nämlich inzwischen beides: Geber und Nehmer von Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit. Das gilt zum einen für ambitionierte Schwellenländer mit eigenem außen- und entwicklungspolitischen Profil, die aber intern in vielen Bereichen Entwicklungsdefizite aufweisen. Zum anderen lassen sich auch Partner der Entwicklungszusammenarbeit, die beispielsweise über Dreieckskooperationen intensiv mit den Industrieländern in Drittstaaten zusammenarbeiten, immer schwerer mit diesen Kategorien fassen. Man könnte allerdings fragen, ob diese „Partnerschaft auf Augenhöhe“ zwischen dem globalen Norden und Süden tatsächlich möglich ist. Zu eindeutig sind die Rollen und Machtverhältnisse noch verteilt.
Westliche Werte – globale Werte?
Eine Quintessenz des Schlüsseljahres 2015 besteht jedenfalls darin, dass eine nachhaltige Entwicklung nun in ihren ökonomischen, ökologischen und sozialen Dimensionen wahrgenommen und zunehmend als Querschnittsthema der Innen- wie der Außenpolitik verstanden wird. Das gesamte staatliche Handeln muss nunmehr auf die Vereinbarkeit mit den nachhaltigen Entwicklungszielen überprüft werden. Das wird die bisherigen Grenzen zwischen den traditionellen Politikfeldern weiter auflösen und Staatshandeln vor neue Koordinierungsaufgaben stellen. Dies gilt für alle Staaten – nicht zuletzt im Westen. Sie werden, selbst wenn sie nicht mit allen Entwicklungszielen gleichermaßen einverstanden waren, in eine globale Verantwortungsgemeinschaft genommen.
Zu wenig medial wahrgenommen wird bislang, dass mit der „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ die Wertegemeinschaft der Vereinten Nationen eine neue Qualität erreicht. Das mag an der Komplexität der Zielsystematik liegen. Wer aber genauer hinsieht, wird feststellen, dass mit der Agenda fast alle großen Themen unserer Zeit berührt sind. Aus der Perspektive des Westens ist dabei von Interesse, dass nachhaltige Entwicklung ohne Bürgerbeteiligung und soziale Gerechtigkeit, ohne rechtsstaatliches, transparentes, inklusives und responsives Staatsverhalten nicht mehr denkbar erscheint. In vielen Elementen nähert sich die UN-Entwicklungsagenda damit dem westlichen Leitbild von Demokratie und Sozialer Marktwirtschaft an. Inwiefern diese Prinzipien tatsächlich durchsetzbar sind, bleibt weitgehend offen. Doch immerhin: Sie gehören über Ziel 16 („Frieden und Gerechtigkeit“) nun zum Quellcode des Programms der nachhaltigen Entwicklung. Das heißt, dass globale Entwicklungszusammenarbeit stärker als bisher auf diesen Prinzipien aufbauen wird und muss.
Aus der Sicht des Westens bleibt die Frage nach den Prioritäten: Angesichts der Flüchtlingskrise, der drängenden Krisen in der Ukraine, in Syrien und im Irak oder in Libyen wäre es verständlich, wenn die „Global Goals“ weniger politische Aufmerksamkeit erhielten. Doch sollten die westlichen Demokratien jenseits der kurzfristigen Krisenreaktion auch ihre langfristigen Strategien im Auge behalten. Schließlich wirbt der Westen mit der „Agenda 2030“ in der Welt um seine Werteordnung.
Mit seinem demokratischen Entwicklungsversprechen lädt er die Entwicklungs- ebenso wie die Schwellenländer zur konstruktiven Mitarbeit in den internationalen Foren ein. Diese Entwicklungsvision ist dabei jedoch kein Instrument zur Durchsetzung westlicher Ordnungsvorstellungen allein, sondern ein Gesprächsangebot an die Welt.
Rückblickend wird immer deutlicher, wie sehr auch der G7-Gipfel in Elmau eine Vorleistung des Westens im Bereich der nachhaltigen Entwicklung beinhaltet hat. Schon das Aktionsprogramm der G7 war ambitioniert: Der Anhang zum Abschlussdokument von Elmau beinhaltet Selbstverpflichtungen in den Themenfeldern Gleichstellung, Gesundheit, Klimaschutz, Ressourceneffizienz, Meeresumweltschutz und Ernährungssicherheit. Entwicklungspolitik tritt damit verstärkt neben die Außen- und Sicherheitspolitik. Die G7 reklamierten 2015 auch in diesem Politikfeld eine globale Führungsrolle für sich. Damit ist Elmau tatsächlich ein Markstein im entwicklungspolitischen Schlüsseljahr 2015 – eine bemerkenswerte Entwicklung für ein Gremium, das noch vor wenigen Jahren als neoliberale Kabale verunglimpft und bekämpft wurde.
In die Pflicht genommen
Die besondere Verantwortung der Industrieländer für die Zukunft unseres Planeten ist 2015 erneut bekräftigt worden. Sie sollen stärker belastet werden als andere Staatengruppen. Von den großen Schwellenländern, von denen sich einige immer stärker als Konkurrenten in der Weltordnungspolitik positionieren, wird erwartet, dass sie sich dieser Verantwortung durch eigene Selbstverpflichtungen anschließen – etwa beim Klimaschutz durch ebenso konkrete Reduktionsziele oder in der Entwicklungsfinanzierung durch deutlich höhere bilaterale und multilaterale Beiträge. Wenn die großen Schwellenländer als „Gestaltungsmächte“ ernst genommen werden wollen, müssen sie tatsächlich auch gestalten. Der Westen ist 2015 vorangegangen, die anderen müssen nun nachziehen.
Christian E. Rieck, geboren 1978 in Santiago del Estero (Argentinien), Referent für Entwicklungspolitik und Menschenrechte, Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung.
1 Genauer: die 21. Konferenz der Vertragsparteien der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (COP21), der United Nations Framework Convention on Climate Change, www.cop21.gouv.fr/en.
2 Third United Nations World Conference on Disaster Risk Reduction, www.wcdrr.org/.
3 Third International Conference on Financing for Development, www.un.org/esa/ffd/ffd3/index.html.
4 United Nations Sustainable Development Summit, https://sustainabledevelopment.un.org/post2015/summit.
5 The Global Goals for Sustainable Development, www.globalgoals.org/.
6 Die Staats- und Regierungschefs aller 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben den Text gemeinsam verabschiedet. Volltext der Deklaration: https://sdgs.un.org/2030agenda.
7 Der „Economist“ nahm beispielsweise die fundamentale Kritik des Copenhagen Consensus Center auf, das sich für eine stärkere Fokussierung der Entwicklungsagenda ausspricht, www.economist.com/news/2014/11/13/goals-goals-goals?zid=304&ah=e5690753dc78ce919090.