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von Katajun Amirpur

Dimensionen eines Protestsymbols iranischer Frauen

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Artikel anhören! 11:24 Min, gelesen von Stefanie Gladisch

Starke, willensstarke Frauen kennt das identitätsstiftende und sprachbildende Nationalepos zuhauf: Das Königsbuch ist der Text der Texte. Und Frauen werden im shahname, dem Buch der Könige, als Ausbund von Stärke und Willenskraft beschrieben. Aus dem Königsbuch hergeleitet sind heute die Rollenmodelle Farangiz, Katajun, Golafarid, Schirin und Manije, wie inzwischen durch viele Untersuchungen belegt ist. An sie lässt sich anknüpfen – und Frauen knüpfen daran an, wenn es um den Kampf für Selbstbestimmung von Frauen geht. Beispielsweise an Farangiz, die sich aus Wut und Trauer über den Verlust ihres Ehemannes die Haare abschneidet.

Das Königsbuch ist eines der längsten epischen Gedichte der Welt, geschrieben von Ferdousi zwischen circa 977 und 1010 nach Christus. Dieses Nationalepos Irans, Afghanistans und Tadschikistans berichtet von der Erschaffung der Welt und der Geschichte Persiens vor der islamischen Eroberung im siebten Jahrhundert.

Im Königsbuch ist das Haar ein wiederkehrendes Motiv. Ausgerissen oder abgeschnitten, symbolisiert es Trauer oder Verlust. Seither ist das Abschneiden der Haare im Iran ein Symbol für Protest und Trauer. Man könnte, da aus dem Königsbuch stammend, hier die poetische Dimension eines öffentlichen und zugleich passiven Widerstands geltend machen, der sich gegen den eigenen Körper richtet. Vor allem im Zuge des letzten Aufstands gegen den vermeintlichen Gottesstaat haben Frauen nicht nur ihre Kopftücher verbrannt und dabei „Frau, Leben, Freiheit!“ und „Nein zum Kopftuch, nein zum Turban, ja zu Freiheit und Gleichheit!“ gerufen, sondern sich auch in der Öffentlichkeit – oft am Grab ihrer Kinder – die Haare abgeschnitten.

Vor allem bei Kurdinnen ist es als Akt des Trauerns üblich, das eigene Haar auf das Grab der verstorbenen Person zu legen. Es ist eine Geste der Rebellion und des Protests. Weil es sich meist um einen Tod handelt, der als ungerecht empfunden wird – so wie der von Farangiz’ Mann.

Hier knüpften Oscar-Preisträgerinnen und Politikerinnen an und engagierten sich: So schnitt sich die schwedische, kurdisch-stämmige Europaabgeordnete Abir Al-Sahlani bei einer Rede im Europäischen Parlament die Haare ab, um ihre Solidarität mit den Protestierenden im Iran zu zeigen: „Bis der Iran frei ist, wird unsere Wut größer sein als die der Unterdrücker. Solange die Frauen im Iran nicht frei sind, werden wir an ihrer Seite stehen“, sagte Al-Sahlani. Sie beendete ihre Rede mit den Worten „Jin, Jiyan, Azadi“ – kurdisch für „Frau, Leben, Freiheit“.

 

„Herrinnen“ über ihren Körper

Mehr als fünfzig prominente Französinnen haben sich beim Abschneiden ihrer Haare gefilmt, darunter so berühmte wie Juliette Binoche oder Isabelle Adjani. Juliette Binoche sagt in dem Video: „Für die Freiheit: Die iranischen Frauen erwarten Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft.“ Die iranischen Frauen danken es ihnen. Denn solche Solidaritätsaktionen werden durchaus im Iran registriert. Social Media lassen sie dort ankommen. So auch diese: In Italien hinterließen Besucher des MAXXI, des Nationalen Museums der Künste des XXI. Jahrhunderts in Rom, an der Rezeption Haare in einer Box, die an die iranische Botschaft in Rom geschickt wurde. „Die Frauen in Iran müssen wissen, dass sie nicht allein sind. Sie müssen wissen, dass das, was sie fordern, nämlich die grundlegenden Menschenrechte, etwas ist, wofür wir an ihrer Seite kämpfen wollen“, sagt Giovanna Melandri, Stiftungspräsidentin des MAXXI-Museums.

In vielen Kulturen ist das weibliche Haupthaar der Inbegriff der Verführung. Im Iran muss es seit der Errichtung der Theokratie, also seit 1979, verhüllt werden, damit es nicht verführt. Über sein Haar selbst zu bestimmen, ist daher das Symbol, das mit dem Abschneiden der Haare und dem Verbrennen von Kopftüchern in die Welt gesendet wird. Frauen zeigen damit beziehungsweise fordern ein, dass sie „Herrinnen“ ihrer Körper sind. Sie wollen selbstbestimmt darüber verfügen, ihr Haar entweder zu zeigen, es zu verdecken oder zu kürzen. Was immer sie mit ihren Haaren tun, besitzt daher große Symbolkraft.

Auch im Westen „funktionieren“ Frauen oft über ihr Haar. Bei einschneidenden Veränderungen in ihrem Leben lassen sie sich eine andere Frisur machen oder wechseln die Haarfarbe. Die Bestsellerautorin Ildikó von Kürthy sagte prägnant: „Der wichtigste Mann in meinem Leben ist mein Friseur.“ Zudem ist auch bei uns im Westen das Haar bereits als Symbol für Freiheit eingeführt: In den 1920er-Jahren ließen sich Frauen im Zuge der Emanzipation einen „Bubikopf“ schneiden.

Wenn junge Mädchen im Iran sich heute – wie zahlreich geschehen und viral verbreitet – vor Schultafeln, mit dem Rücken zur Kamera stehend, mit ihren offenen, langen Haaren präsentieren und wahlweise den Stinkefinger zeigen oder das Victory-Zeichen machen, schicken sie die Botschaft: „Ihr könnt mich mal, ich mache, was ich will!“ Neben den Mädchen mit Walle-walle-Haaren sieht man auf diesen Bildern nicht selten solche mit Kopftuch stehen. Ein schönes Zeichen von Gemeinschaft: Wir zusammen für unser Recht auf Selbstbestimmung.

Das Abschneiden der Haare geht noch einen Schritt weiter. Die Frauen, die dies tun, entziehen der Staatsgewalt ihren Körper; diesen Körper, mit dem der iranische Staat nicht erst dann begonnen hat, Politik zu machen, als die Islamische Republik 1979 entstand, sondern schon seit den 1920er-Jahren: 1936 verbot Reza Schah Pahlavi (1878–1944) den Tschador, also die traditionelle Kleidung der Frau, zwang damit Frauen, unverschleiert auf die Straße zu gehen, wodurch sie sich nackt und ungeschützt den Blicken Fremder ausgesetzt fühlten. Es war, als würde man hierzulande Frauen nötigen, sich in Unterwäsche in der Öffentlichkeit zu bewegen. Im Iran unterwarf Reza Schahs unbedingter Wille zur westlichen Modernisierung die Frauen seiner Körperpolitik. Seitdem ist Macht-Politik im Iran: Körper-Politik.

 

Gebt uns unsere Freiheit zurück!

Körper-Politik ist wirksam in der öffentlichen Sphäre. So spricht die Berliner Philosophin und Kulturtheoretikerin Iris Därmann von Körperpolitik, wenn sie an das Niederknien der Sportstars im Rahmen der Black-Lives-Matter-Bewegung erinnert. Im Iran sei es so – da würde wohl niemand widersprechen können –, „dass sich die Repression des Regimes explizit gegen den weiblichen Körper richtet“. So werde der Körper auch zum Mittel des Widerstands, teilweise des letzten und einzigen, den die Menschen haben, sagt Därmann. Auch erinnert sie an die internationale Geschichte der Körperpolitik, vor allem zur Zeit des transatlantischen Sklavenhandels. Der Hungerstreik sei als politisches Mittel etwa auf Sklavenschiffen von afrikanischen Frauen erfunden worden, „um sich dem Zugriff der rassistischen Gewalt zu entziehen“.

Nach Jahrzehnten der männlichen Dominanz über den weiblichen Körper zeigen iranische Frauen nun, dass nur sie die Hoheit über ihren Körper haben: Wenn die Haare geschoren sind, ist das unterstellte Verführerische verschwunden. So wird das Haare-Abschneiden eine Protestform gegen die Art und Weise, wie Männer Weiblichkeit festlegen. Es ist ein feministischer Aufschrei, der sagt: Nehmt unsere Haare! Wenn sie euch dermaßen wichtig sind: Aber gebt uns unsere Freiheit zurück!

Auch Männer haben sich seit September 2022 aus Solidarität die Haare abgeschnitten, und sei es nur symbolisch. Viral ging im November 2022 das Video des Beach-Soccer-Spielers Said Piramun, der nach einem fulminanten Tor die Geste des Haareabschneidens vollführte. Männer stellen sich damit hinter ihre Mütter, Töchter, Schwestern, Ehefrauen und Freundinnen. Und manch einer, beispielsweise der weltweit größte iranische public intellectual, Hamid Dabashi, erklärt inzwischen öffentlich, dass man sich schon viel früher mit diesem Kampf der Frauen hätte solidarisieren müssen. Denn in diesem Kampf für das Recht, sich zu zeigen, wie man möchte, steckt das große Ganze.

 

„Jeder Kopf ist kahl geschoren“

In einem lesenswerten Beitrag hat der Germanist Björn Hayer kürzlich auf Parallelen in biblischen Texten hingewiesen. Dort, so Hayer, begegneten uns die Haare vor allem als Symbol für Lebenskraft. Simson, ein Auserwählter Gottes, blieb für die Philister, die Unterdrücker der Israeliten, unbesiegbar, solange er sein Haupthaar ungeschoren ließ. Sein Geheimnis sind seine Haare. Erst als seine Geliebte Delila den Philistern dieses Geheimnis verriet, wird er gefangen genommen, geblendet und geschoren. Aber Simsons Macht lässt sich nicht sofort brechen: Denn Haare wachsen nach! Er brachte noch einen Tempel der Philister zum Einsturz und riss 3.000 von ihnen mit sich in den Tod.

Björn Hayer hat recht, wenn er schreibt: „Wie eine geheime Vorlage für die gegenwärtigen Aktionen der Aufbegehrenden liest sich diese Legende“ – und auf eine weitere Stelle im Buch Jesaja verweist: Auf die Zerstörung der antiken Städte Medeba, Ar und Kir hin stimmen die Menschen an einer Stelle Klagegesänge an. „Jeder Kopf ist kahl geschoren, / alle Bärte hat man abgeschnitten“, heißt es dort.

Doch wo in der Bibel das Scheren zudem auch zur Strafe wird, ist es im Iran stattdessen Selbstermächtigung. Hayer bezieht sich in den vermeintlichen Parallelen, die er herstellt, auf eine Prophezeiung, in der sich Gott gegen jene wendet, die seine Gebote nicht befolgen. Gott markiert diese durch das Scheren.

Der türkische Künstler Oğuz Demir kehrt in seiner Karikatur die Frauenverachtung der Mullahs im Iran um: Eine starke Frau kämmt sich die schwachen, sich an ihre Haarpracht klammernden Männer aus ihren Haaren. © Oğuz Demir

Diesem Vorbild Gottes eiferten im Laufe zweier Jahrtausende viele Männer nach, erklärt Hayer. Da Haare ein Verführungssymbol waren, schor man im Mittelalter die zum Tode verurteilten Frauen. Die Idee dahinter: Ihre letzte Reise ins Himmelreich oder in die Hölle sollten sie ohne augenscheinliches Zeichen der Sünde antreten. Auch in der Moderne, so weist Hayer anhand von Beispielen in seinem Essay nach, ist Scheren männliche Machtdemonstration. „Mit der Schere entpuppen sich Männer als Täter, Frauen, denen damit der optische Ausweis ihrer Weiblichkeit schlechthin genommen wird, kommt hingegen die Rolle des Opfers zu“, schreibt er.

Weder aus der altiranischen noch der islamischen Tradition ist allerdings eine solche männliche Machtdemonstration bekannt. Insofern ist hier Hayer nicht zuzustimmen, wenn er den iranischen Frauen einen „kongenialen Einfall“ unterstellt, weil sie ein verfestigtes Zeichen chauvinistischer Gewalt umdeuteten. Da die iranischen Frauen die westliche Deutung nicht kennen und diese in ihrer Tradition nicht existiert, gibt es auch nichts umzudeuten oder umzucodieren.

Vor dem Hintergrund des im Iran herrschenden Kopftuchzwangs ist es die Manifestation von Selbstermächtigung, eigenständig zu entscheiden, dass und gegebenenfalls wann Frau sich ihrer Kopfpracht entledigt. Dass Frauen dabei an eine vorislamische Protestform anknüpfen, birgt dabei eine zusätzlich spannende Qualität im Protest gegen ein islamisches System. Sie zeigen damit, dass das Vorislamische trotz aller Mühen des islamistischen Regimes nicht ausradiert werden konnte, im Gegenteil: Mit Rollenmodellen wie Farangiz identifizieren sich iranische Frauen heute. Und in der Tat unterwandern sie damit das klassische Ideal der Schönheit – das wohl tatsächlich eine globale Idee ist. Ein sicherlich zu hinterfragendes Ideal allerdings.

Katajun Amirpur, geboren 1971 in Köln, deutschiranische Islamwissenschaftlerin, seit 2018 Professorin für Islamwissenschaft am Institut für Sprachen und Kulturen der islamisch geprägten Welt, Universität zu Köln.

 

Lesetipp

Ein Interview mit dem türkischen Karikaturisten Oğuz Demir zum Thema „Freiheit ist weiblich. Die Frauen im Iran: Frauenrechte in türkischen Karikaturen“ ist in unserem Blog unter www.kas.de/freiheitistweiblich abrufbar.

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