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Interview: Ist Frauenpolitik noch zeitgemäß?

von Yvonne Magwas
von Christine Henry-Huthmacher

Yvonne Magwas, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, über „Barbie“ und die Lage des Feminismus

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Ausgerechnet „Barbie“ wird voraussichtlich der erfolgreichste Film des Jahres 2023. Innerhalb von Wochen spielte er eine Milliarde Dollar ein – und dies in Zeiten, in denen Geschlechtsneutralität zum gesellschaftlichen Mainstream gehört. Pink als dominante und signifikant „weibliche“ Farbe: Wie beurteilen Sie den Hype?

Yvonne Magwas: Erst einmal sehe ich es positiv, dass der Film des Jahres kein testosterongeschwängerter Männerfilm, sondern ein maßgeblich von Frauen gemachter Film ist: Von der Regie über das Drehbuch bis zur Produktion saßen – abweichend von den üblichen Hollywood-Realitäten – hauptsächlich Frauen an den wichtigen Schaltstellen des Films. Deren Absicht war es gewiss nicht, Männerphantasien zu bedienen. Laut dem internationalen Branchenmagazin „Variety“ bekamen die Hauptdarsteller von Barbie und Ken gleiche Gagen, was im Filmbereich leider immer noch nicht üblich ist. Die Pink-Dominanz sehe ich nicht negativ: Feministinnen müssen nicht in „Sack und Asche“ gehen, Feminismus darf auch Spaß machen. Es ist schon interessant, dass ausgerechnet dieser Film neue Diskussionen über Feminismus angestoßen und in einigen Ländern zu Kontroversen über die Rolle der Frau geführt hat.

Foto: (c) Tobias Koch

„Ich bin keine Barbie-Puppe!“, lautete der Schlachtruf der Feministinnen in den 1970er-Jahren. In westlichen Gesellschaften scheinen zwar alte Gräben passé zu sein, aber von einem pinkfarbenen Plastikmatriarchat ist die deutsche Wirklichkeit weit entfernt: 73 Prozent der Frauen und 48 Prozent der Männer sehen weder gleiche Rechte noch gleichen Status für Frauen und Männer gewährleistet. Lediglich 36 Prozent der Frauen und 51 Prozent der Männer sind der Meinung, dass die Gleichstellung von Männern und Frauen zu ihren Lebzeiten erreicht wird (Statista 2023). Erstaunt Sie dieses Ergebnis?

Yvonne Magwas: Man kann ja nicht sagen, dass in den letzten zehn Jahren frauenpolitisch nichts auf den Weg gebracht worden wäre. Der Feminismus hat sogar beachtliche Erfolge erzielt, nicht zuletzt in der Zeit der Großen Koalition: das Führungspositionen-Gesetz, um den Frauenanteil in Aufsichtsräten und Vorständen deutlich zu erhöhen; die Einführung der Brückenteilzeit, die dazu führt, dass sich die Situation von Frauen bei Lohn und Rente verbessert, und vieles mehr.

Trotzdem erstaunen mich die Umfrageergebnisse nicht: Zunächst spiegeln sie die positive Entwicklung wider, dass das Thema Gleichstellung in der breiteren Gesellschaft angekommen ist. Darüber hinaus zeigen sie, welche Erwartungshaltung vorhanden ist. Insofern verweisen die Zahlen vor allem darauf, dass beachtlicher Handlungsbedarf besteht und der Feminismus weiterhin engagierte Fürsprecherinnen und Fürsprecher braucht.

Gerade in der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, wie wichtig es ist, die Gleichstellungspolitik weiter voranzutreiben, damit Frauen nicht wieder in alte Rollenmuster gedrängt werden. Frauen müssen sichtbar sein und Gestaltungsmacht haben. Es muss nach wie vor unser politischer Auftrag sein, Frauenpolitik zu machen.

 

Gelten die Umfrageergebnisse Ihrer Meinung nach auch für Frauen im Osten Deutschlands? Dort ist etwa die Vollzeit-Erwerbstätigkeit von Frauen höher.

Yvonne Magwas: Bei allen schrecklichen Nachteilen, die die DDR-Diktatur hatte, und trotz schlimmer Auswüchse wie den Wochenkrippen war die Kinderbetreuung zuverlässig gewährleistet. Das hat ein Stück weit die Sozialisation der Frauen bis hin zu den nachfolgenden Generationen geprägt – etwa mit Blick auf die Berufsausübung. Viele ostdeutsche Frauen erachten die gegenwärtige Entwicklung einer nachlassenden Verlässlichkeit der Kinderbetreuung als Rückschritt, wobei das neu ausgebaute Kita-Netz im Osten relativ gut ist. Wenn ich in westdeutschen Bundesländern unterwegs bin, höre ich, dass es dort Regionen gibt, in denen die Kitas über Mittag schließen und erst um 14.00 Uhr wieder aufmachen. Wie soll dann eine Mutter oder ein Vater Beruf und Kinderbetreuung miteinander verbinden? Anderswo kommt es vor, dass Kitas freitags komplett schließen. Diese Entwicklungen finde ich furchtbar.

Wichtig ist, dass dies nicht allein am Personalmangel liegt, sondern auch an nicht vorhandenen Kapazitäten. Diese sind heute trotz Rechtsanspruch auf einen U3-Platz nicht vorhanden, weil ihre Bereitstellung zuvor vor allem auf Länder- und kommunaler Ebene nicht engagiert genug verfolgt wurde. Bundesgeld und Förderprogramme zum Kita-Ausbau gibt es seit Jahren. Es gilt auch weiterhin, das Thema auf Bundesebene voranzubringen. Die Ampelregierung darf den Ausbau der Kitabetreuung nicht aus den Augen verlieren!

 

Die Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Kind wird leider wieder zu einem Riesenproblem, steht aber nicht oben auf der politischen Tagesordnung. Über ein sogenanntes Selbstbestimmungsgesetz, dass alle ihr Geschlecht selbst festlegen können, wird aktuell vielfach diskutiert. Nicht Frauenproteste, sondern Pride-Paraden gibt es heute in westlichen Straßen. Da stellt sich die Frage: Wo bleiben die Frauen in der gesellschaftlichen Debatte?

Yvonne Magwas: Pride-Paraden sind oft sehr bunt und schrill, was vollkommen in Ordnung ist. Dagegen erlebe ich die Debatten um Gleichstellung und Gleichberechtigung von Frauen heute anders, als sie einmal gewesen sind: viel sach- und problemorientierter. Es geht konkret um Fragen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, um Kita-Ausbau, um die häusliche Pflege von Angehörigen, um das Thema, wie Frauen besser vor Gewalt geschützt werden können.

Aktuell gilt es, zu verhindern, dass es beim Elterngeld zu Veränderungen kommt. Denn mit einer Senkung der Einkommensgrenzen für den Bezug von Elterngeld würde die Entscheidung zwischen Kind und Karriere wieder zu einer existenziellen Frage. Das ist es, was die Ampel vorhat, und ich halte es für ein fatales Signal, was die Vereinbarkeit von Familie und Beruf anbelangt. Gerade für eine älter werdende Gesellschaft ist es genau der falsche Impuls.

 

Sind diese frauenspezifischen Fragen gegenüber allgemeinen Geschlechterfragen in den Hintergrund getreten?

Yvonne Magwas: Das denke ich schon. Und meine Konsequenz daraus ist, dass wir weiter eine entschlossene Frauenpolitik brauchen, weil diese Themen sonst nicht mehr genügend stattfinden. Beispielsweise Frauengesundheit benötigt mehr Aufmerksamkeit, dass etwa Medikamente unterschiedlich auf die Geschlechter wirken. Oder dass Frauenkrankheiten wie Endometriose in der medizinischen Ausbildung viel stärker Berücksichtigung finden müssen.

 

Die Gefahr, die manche sehen, ist doch, dass die Frauenfrage in der Genderdebatte aufgeht. Die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff ist beispielsweise der Ansicht, dass in einer Demokratie eher Minderheiten als Mehrheiten geschützt werden. „Gleichstellungsförderung in Anknüpfung an das Geschlecht“ sei deshalb „ein ungerechtes und ziemlich rückwärtsgewandtes Konzept“. Gehen da die richtigen Verhältnisse nicht verloren?

Yvonne Magwas: Ich stimme Ihnen insoweit zu, als Sie sagen, dass es ohne ein biologisches Geschlecht logischerweise auch keine Frauenpolitik mehr geben kann. Vor allem widerspreche ich Frau Lübbe-Wolff: Für mich wird es immer schwierig, wenn Frauen mit Minderheiten gleichgesetzt werden. Denn das sind Frauen nicht, sondern sie machen mindestens die Hälfte der Geschlechter aus. Darum diskutieren wir auch weiter Themen wie Parität. Weil Frauen eine Mehrheit darstellen, werden wir ein Akzeptanzproblem für unsere demokratischen Institutionen bekommen, wenn es keine Parität in den Parlamenten gibt. Ungerecht und rückwärtsgewandt ist es vielmehr, wenn der gegenwärtige Zustand – nur ein Drittel der Bundestagsmitglieder ist weiblich – dauerhaft hingenommen würde.

 

Im Referentenentwurf des „Selbstbestimmungsgesetzes“ wird in Bezug auf den Geschlechtereintrag das Geschlecht aber nicht definiert. Wie soll der Staat künftig Frauen schützen, wenn er das Geschlecht nicht definieren kann?

Yvonne Magwas: Ich sage ganz klar: Das Selbstbestimmungsgesetz der Ampel lehnen wir in der aktuellen Fassung ab. Es gibt ein biologisches Geschlecht. Geschlecht nicht mehr als grundlegende biologische Kategorie zu verstehen, sondern in erster Linie nur noch als soziales Konstrukt, führt in die Irre. Wir müssen stattdessen gegen Diskriminierung kämpfen, sowohl Diskriminierung aufgrund des biologischen Geschlechts als auch aufgrund diskriminierender, einschränkender Rollenzuschreibungen. Ich halte es natürlich auch für sehr wichtig, dass man die Menschen unterstützt, die vor schwierigen emotionalen Entscheidungen stehen, weil sie sich in ihrem biologischen Geschlecht gänzlich fremd fühlen.

 

Jugendpsychiater und viele Lehrerinnen und Lehrer warnen: Es sind zu 85 Prozent überwiegend Mädchen, die in der Pubertät ihr Geschlecht ändern wollen. Was sagt das aus über die Geschlechter? Wie weit kann Liberalisierung gehen?

Yvonne Magwas: Die hohe Prozentzahl macht sehr nachdenklich. Es ist für Mädchen in der gesellschaftlichen Akzeptanz sicher leichter, die „männlichen Seiten an sich selbst“ zu outen, als für Jungen, die sich als Mädchen/Frau fühlen. Insofern wirken sich die von uns diskutierten Fragen der Frauenpolitik und -förderung auf die Problematik einer wirklich „selbstbestimmten“ Geschlechtsidentität aus. Die Ampel macht es sich zu leicht, wenn sie die schwerwiegende Frage der „Wahl“ des Geschlechts – noch dazu für zu junge Menschen und ohne Zustimmung von Sorgeberechtigten – einfach freistellt, aber konkrete Probleme der Teilhabe nicht löst. Kinder und Jugendliche in der Pubertät brauchen in dieser Phase einen speziellen Schutz. Anders als die Ampel setzen wir uns für eine Altersgrenze von frühestens sechzehn Jahren ein, ab der Minderjährige – ausschließlich mit Zustimmung ihrer Eltern – ihren rechtlichen Personenstand ändern können. Wird eine Personenstandsänderung angestrebt, sollte es für Minderjährige und deren Sorgeberechtigte eine verpflichtende Beratung und Begleitung geben.

 

Im Entwurf des Selbstbestimmungsgesetzes wird Geschlecht – wie gesagt – nicht definiert. Dadurch wird die Verantwortung an andere weitergereicht: an die Geschäftsführerin eines Frauenhauses beispielsweise, die nun entscheiden muss, wer als „Frau“ Einlass bekommt. Wie sehen Sie das?

Yvonne Magwas: Sehr kritisch, die Ampelregierung entzieht sich ihrer Verantwortung. Die Probleme, die das Gesetz in der Praxis mit sich bringt, werden auf Privatpersonen und die Wirtschaft abgewälzt. Auch die Bereiche, in denen wir darauf angewiesen sind, zwischen Frauen und Männern zu differenzieren, lassen sich dann kaum mehr fassen. Insofern ist es sehr wohl Aufgabe des Staates, eine grundsätzliche, strukturierende Klarheit für die Geschlechtswahrnehmung zu gewährleisten. Vieles würde sonst an Bedeutung verlieren: sexuelle und allgemeine Gewalt gegen Frauen, geschlechtsspezifische Unterschiede im Sport, insbesondere strukturell bedingte Benachteiligung von Frauen. Alles das wird, wie gesagt, ad absurdum geführt, wenn das biologische Geschlecht als „Kategorie“ entfällt.

Um nicht missverstanden zu werden: Dass Transmenschen das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben sowie gesellschaftliche und rechtliche Anerkennung formulieren, ist berechtigt. Immer noch leben sie oftmals mit einem großen Leidensdruck, für den sie nichts können.

Sie sollen angstfrei und selbstbestimmt über ihr Geschlecht und ihr zukünftiges Leben entscheiden können. Darum sollte man natürlich über eine Novellierung des Transsexuellengesetzes aus dem Jahre 1980 sprechen.

 

Körper und Geschlecht sind politisch geworden. Die gesellschaftlichen und politischen Folgen sind nicht zu übersehen. Rechte und rechtsextreme Parteien machen den „Genderwahn“ zu ihrem Thema und entwickeln unter dem Vorwand eines traditionellen Frauenbildes ein rückwärtsgewandtes Frauenbild. Brauchen wir nicht längst eine politische Debatte über die Liberalisierung des Geschlechts?

Yvonne Magwas: Vor allem muss es uns gelingen, in der Gesellschaft noch stärker die Tatsache zu vermitteln, dass extremistische Parteien wie die AfD überhaupt gegen Frauenpolitik antreten. Rechtsradikale Parteien, fundamentalistisch-religiöse und andere gewaltbereite Gruppierungen wie die Reichsbürger stemmen sich gegen die in Jahrhunderten erreichten Fortschritte der Aufklärung und Emanzipation und wollen uns um Jahrzehnte zurückkatapultieren.

Gegen Desinformation, Fake News und neue Frauenfeindlichkeit helfen nur Fakten, wissenschaftsbasierte Erkenntnisse und Kompetenz durch Bildung. Es braucht Pluralität, Transparenz, Partizipation und Gleichberechtigung, um unsere Demokratie widerstandsfähig zu machen, und auch eine stärkere öffentliche Diskussion.

Yvonne Magwas, geboren 1979 in Rodewisch (Vogtland), seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages, seit 2019 stellv. Vorsitzende der Frauen Union, 2018 bis 2021 Vorsitzende der Gruppe der Frauen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, seit Oktober 2021 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages.

Das Interview führte Christine Henry-Huthmacher, bis Juli 2021 zuständig für Frauen- und Familienpolitik in der Konrad-Adenauer-Stiftung, am 21. August 2023.

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