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von Mary Hallay-Witte

Erfahrungen aus der institutionellen Prävention sexualisierter Gewalt

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Artikel anhören! 11:35 Min, gelesen von Christiane von Albert

Mit Bekanntwerden der Fälle am Berliner Canisius-Kolleg und der Odenwaldschule im Jahr 2010 erreichte das Thema sexueller Missbrauch die breite Öffentlichkeit. Auf Initiative der Bundesregierung beriet in den drei Folgejahren der „Runde Tisch Sexueller Kindesmissbrauch“ mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft, Praxis und Gesellschaft über die notwendigen Konsequenzen in Prävention, Intervention und Aufarbeitung, die nicht zuletzt vom Gesetzgeber aufgegriffen wurden. Die Anregungen, Empfehlungen und Leitlinien prägten die in vielen Institutionen einsetzende Präventionsarbeit maßgeblich. Gleichzeitig beschloss die Bundesregierung, das Amt eines/einer Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) zu schaffen, das zu einer zentralen Größe für die Prävention in der Gesellschaft und in den verschiedenen Institutionen geworden ist.

Auch die beiden „großen“ Kirchen in Deutschland waren am Runden Tisch beteiligt. Für die katholische Kirche reagierte die Deutsche Bischofskonferenz 2010 mit einer gemeinsamen Rahmenordnung zur Prävention. Als zentrale Maßnahmen sah diese die Durchführung von Präventionsschulungen für eine breite Zielgruppe sowie die Ernennung von Präventionsbeauftragten zur Unterstützung und Koordination der Präventionsarbeit vor. Die Umsetzung erfolgte in den einzelnen (Erz-)Bistümern in unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität. Mit den Überarbeitungen 2013 und 2019 kam für Kirchengemeinden, Träger und Verbände die Aufgabe hinzu, ihre Präventionsmaßnahmen im Rahmen der Erstellung Institutioneller Schutzkonzepte zu reflektieren, zu bündeln und weiterzuentwickeln. Mit dem Erscheinen der MHG-Studie – ein interdisziplinäres Forschungsprojekt von Wissenschaftlern in Mannheim, Heidelberg und Gießen zur Untersuchung des sexuellen Missbrauchs in der römischkatholischen Kirche in Deutschland – im Jahr 2018 fanden dabei zunehmend auch spezifisch katholische Bedingungen Berücksichtigung.

Andere Institutionen haben inzwischen ebenfalls vergleichbare Präventionsmaßnahmen ergriffen. Beispielsweise fand das Thema Prävention im Sport in den letzten Jahren zunehmende Beachtung. Der Deutsche Olympische Sportbund und die Deutsche Sportjugend entwickelten interne Richtlinien und Modelle zur Prävention inklusive eines Schulungsprogramms. Mit der Einrichtung der Anlaufbeziehungsweise Beratungsstellen „Anlauf gegen Gewalt“ und „Safesport“ stehen heute spezifische und unabhängige Angebote für Sportlerinnen und Sportler zur Verfügung. Aktuell entsteht zudem ein unabhängiges „Center for Safe Sport“, das die Prävention im Sport vorantreiben und weiterentwickeln soll.

In anderen Praxisfeldern, beispielsweise im Schulwesen, fehlen ähnliche Bemühungen bisher weitestgehend. Das von der Unabhängigen Beauftragten initiierte freiwillige Online-Fortbildungsangebot für Lehrkräfte „Was ist los mit Jaron?“ verdeutlicht das grundsätzliche Desiderat. In den letzten dreizehn Jahren wurde einiges unternommen, um sexualisierte Gewalt und sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen zu verhindern. Es wurden Ressourcen bereitgestellt, Strukturen geschaffen, Konzepte erarbeitet und viele konkrete Maßnahmen durchgeführt. Während ihre wissenschaftliche Evaluation gerade erst beginnt, lassen sich an den bisherigen Entwicklungen bereits einige Erkenntnisse ausmachen.

 

Institutionelle Prävention

Der Ansatz, Institutionen in die Verantwortung für Prävention zu nehmen, war ein zentraler Impuls des Runden Tisches. Die bisherigen Erfahrungen bestätigen, dass Institutionen einen wesentlichen Anteil an den strukturellen und kulturellen Schutz- und Risikofaktoren für sexualisierte Gewalt haben. Sie geben die Bedingungen vor, unter denen Menschen innerhalb der Institution in Beziehungen treten. Um zu einem schützenden und sicheren Ort zu werden, müssen Institutionen ihre Struktur und Kultur hinterfragen. Im Zuge dieser selbstkritischen Risiko- und Potenzialanalyse kommen dabei Themen zur Sprache, die über das Anliegen der Prävention sexualisierter Gewalt hinausweisen. Wenn jedoch eingespielte Strukturen und die Erfahrung für die konzeptionelle Arbeit fehlen, kann die Aufgabe schnell überfordern. Gleichzeitig ist es inhaltlich notwendig, die verschiedenen Bezüge zu anderen Themen anzusprechen. Die Fülle der aufkommenden Themen kann eine Herausforderung für die institutionelle Prävention sein, die sich nur mit einer multiprofessionellen Expertise bewältigen lässt. Die Komplexität dieser Reflexion zeigt sich beispielsweise an dem „Synodalen Weg“ der katholischen Kirche, der als Reaktion auf die Missbrauchsskandale initiiert wurde und Themen wie Sexualität und Machtstrukturen bearbeitet hat.

 

Sexualisierte Gewalt

Zu Beginn des öffentlichen Diskurses stand der sexuelle Missbrauch an Kindern und Jugendlichen durch Erwachsene im Fokus. Diese Perspektive dominiert auch heute. Allerdings wurde schnell deutlich, dass man aus präventiver Perspektive verwandte Phänomene und Gruppen ebenfalls in den Blick nehmen muss, etwa Gewalt unter Gleichaltrigen, vulnerable Erwachsene wie Menschen mit Beeinträchtigungen und Personen in Abhängigkeitsverhältnissen. Letztere stellten sich als so vielfältig heraus wie die Beziehungen, in denen Menschen zueinander stehen. An der zunehmenden Verwendung des Begriffs „sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ anstelle des strafrechtlich geprägten Ausdrucks des sexuellen Kindesmissbrauchs lässt sich die Weitung der Perspektive ablesen. Mit dieser Erweiterung ergeben sich neue inhaltliche und praktische Anknüpfungspunkte, beispielsweise an die Arbeit der Gleichstellungsbeauftragten in den verschiedenen Institutionen, deren Potenzial bislang noch nicht ausgeschöpft ist.

Der Erfolg von Initiativen wie der #MeToo-Bewegung machte seit 2017 auf sexuelle Belästigung und Übergriffe aufmerksam. Durch ihren Bezug zu hochrangigen Hollywood-Persönlichkeiten erlangte sie weltweite Aufmerksamkeit. Das lässt darauf hoffen, dass es in der Gesellschaft eine grundsätzliche Sensibilisierung für Formen sexualisierter Gewalt und somit auch für einen Abbau des Tabus gibt, vom dem auch die Prävention profitiert. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass sich Narrative, Mythen und Bagatellisierungen als hartnäckig erweisen. Auch wenn heute den Betroffenen Glauben geschenkt wird und ihre Vorwürfe ernst genommen werden, erinnern dennoch die Reaktionen vieler Menschen aus dem nahen und ferneren Umfeld an altbekannte täterschützende Verhaltensmuster.

 

Engagierte Betroffene

Für die Prävention und Aufarbeitung waren und sind mutige, engagierte Betroffene, die sich den öffentlichen und institutionellen Diskursen aussetzen, unverzichtbar. Es braucht ihre Geschichten, ihre Einschätzung und ihre kritische Begleitung. Sie wissen um die Dynamiken sexualisierter Gewalt, die Verletzungen, die entstehen können, und die lebenslangen Herausforderungen, die sich aus dem Erlebten ergeben können. Auf der Grundlage ihres eigenen Erlebens können sie auf relevante Schutz- und Risikofaktoren hinweisen, die aus anderen Perspektiven nur schwer oder überhaupt nicht in den Blick geraten. Die Sicht von Betroffenen ist eine zentrale Ressource für die (institutionelle) Prävention, die nicht ungenutzt bleiben sollte, wann immer Betroffene dazu gewonnen werden können. Ihre zunehmende Vernetzung und Organisation ist ein großer Gewinn für die Aufarbeitung und Prävention.

 

Druck von außen, Engagement von innen

Immer wieder ist festzustellen, dass die Widerstände und Beharrungskräfte in Institutionen enorm sein können. Viele Menschen identifizieren sich mit der Institution und können nur schwer den Gedanken zulassen, dass auch in ihrer Institution sexualisierte Gewalt möglich war oder ist. Die für eine effektive Präventionsarbeit notwendige kritische Auseinandersetzung mit den Strukturen und der Kultur der Institution benötigt externe Unterstützung durch eine fachliche Beratung und die kritische Begleitung einer wachsamen Öffentlichkeit. Das gilt besonders, wenn zurückliegende oder aktuelle Fälle noch nicht aufgearbeitet sind.

Die Verantwortung für institutionelle Prävention liegt zuerst auf der Leitungsebene. Der Erfolg der Maßnahmen hängt daher entscheidend auch von dem Wissen und der Überzeugungsfähigkeit der Führungskräfte ab, um Weiterentwicklungen in der Organisation erzielen zu können. Die Erfahrung zeigt, dass es oftmals bereits engagierte Mitarbeitende gibt, die aus einem konstruktiv-kritischen Loyalitätsverständnis heraus Aufmerksamkeit für das Thema schaffen. In jedem Fall bedarf es schlussendlich der breiten Akzeptanz der Maßnahmen, damit diese im Alltag gelebt werden. Die Akzeptanz ist auch davon abhängig, ob die spezifischen Schutz- und Risikofaktoren berücksichtigt wurden und die Maßnahmen alltagstauglich ausgestaltet sind. Für beides sind Möglichkeiten zur Partizipation entscheidend.

Zu den erwähnten Aspekten wären unzählige hinzuzufügen. Sie verdeutlichen, dass die Auseinandersetzung mit Prävention sexualisierter Gewalt immer noch am Anfang steht.

 

Neue Impulse

Die Aufgaben bleiben groß: Während beispielsweise die vom Runden Tisch bereits geforderte Integration des Themenkomplexes sexualisierte Gewalt in Ausbildung und Studium aussteht, stellt die zunehmende Verschränkung analoger und digitaler Lebenswirklichkeiten die Präventionsarbeit vor neue Herausforderungen.

Das Handlungsfeld der Prävention ist heute ein anderes als 2010. Wichtige Gesetze wurden weiterentwickelt. Zu den etablierten Fachstellen sind neue Beratungsangebote hinzugekommen. Viele Institutionen haben sich des Themas sexualisierte Gewalt angenommen. Die Perspektive der Betroffenen ist zu einem integralen Bestandteil geworden. Aus der laufenden Aufarbeitung ergeben sich zusammen mit verstärkter Forschung neue Impulse für die Prävention. Nicht zuletzt ist die Sensibilität für sexualisierte Gewalt in der Gesellschaft heute bedeutend größer.

All das lässt darauf hoffen, dass sich die positiven Entwicklungen künftig verstetigen und ein nachhaltiger gesellschaftlicher Wandel erreicht werden kann. Denn auch nach dreizehn Jahren bleibt die Erkenntnis leitend, dass der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt eine Herausforderung ist, der sich die Gesellschaft mit vereinten Kräften stellen muss.
 

Mary Hallay-Witte, Leitung und Geschäftsführender Vorstand, Institut für Prävention und Aufarbeitung Sexualisierter Gewalt (IPA) e.V., Bonn.

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