Asset-Herausgeber

von Elisabeth Hoffmann

Offene Fragen zu Mehrelternfamilien

Asset-Herausgeber

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Das gleichgeschlechtliche Paar Kathleen und Stella, beide Ende dreißig, beide Gymnasiallehrerinnen und in Berlin lebend, wünscht sich ein gemeinsames, genetisch verwandtes Kind, das in einer liebevollen und stabilen Familie aufwachsen soll. Auf der Plattform familyship.org, der „größten deutschsprachigen Plattform zur alternativen Familiengründung für Menschen mit Kinderwunsch“, suchen sie den passenden Vater und finden Michael, Anfang vierzig, Architekt, homosexuell, Single, der sich gleichfalls ein eigenes Kind wünscht. Sie beschließen, einem gemeinsamen Kind das Leben zu schenken. Neun Monate später wird Stephan geboren, Kathleen ist die biologische Mutter. Die beiden Mütter haben das Kind adoptiert, Michael hat seine Vaterrechte formal „abgegeben“, übernimmt jedoch einen (kleineren) Teil der Betreuung. Das Mütterpaar und der Vater leben in getrennten Wohnungen, die sich allerdings in der gleichen Straße befinden. Drei Monate nach der Stephans Geburt zieht Michael zu seinem Partner Alex, der sich ebenfalls um das Kind kümmert.

Baby Stephan hat also vier Elternteile, wobei biologisch-genetische, rechtliche und soziale Elternschaft nur bei der Mutter Kathleen zusammenfallen. Möglich wird die Kinderwunschgemeinschaft durch die Möglichkeit assistierter Befruchtung – ein kleiner, privater Schritt –, aber Elterngemeinschaften wie Kathleen, Stella und Michael und Alex verändern tief verwurzelten Sichtweisen über die Voraussetzungen, die zur Entstehung eines Babys und einer Familie gehören.

In der Geschichte der westlichen Welt war die Familie lange Zeit klar definiert durch weitgehend biblische Kriterien: ein Mann, eine Frau und deren Kinder, die im Ehebett gezeugt und durch die Heirat legitimiert waren. Alle anderen waren schlicht „Bastarde“. Mit der Änderung der Sexualmoral, der Möglichkeit eindeutiger Vaterschaftstests und der Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln in den 1960er-Jahren begann eine Ausweitung der rechtlichen Definition von Elternschaft, die auch die genetische Verwandtschaft, unabhängig von einer Ehe, einschloss. Parallel wurden die Techniken künstlicher Fortpflanzung fortentwickelt und sind seit den 1990er-Jahren für immer mehr Menschen verfügbar. Dabei geht es vor allem um assistierte Befruchtung oder In-vitro-Fertilisation. Doch werden in klinischen Versuchen auch neue Methoden wie die In-vitro-Gametogenese (IVG) getestet, bei der aus Hautzellen Keimzellen gezüchtet werden, die im Reagenzglas zu einem Embryo heranwachsen. Bei Mäusen funktioniert dies bereits; in Japan und den USA arbeitet man an einer Übertragung der Technik auf Menschen.

 

„Postromantische Elternschaft“

 

Maßt der Mensch sich an, zum Schöpfer des Lebens zu werden? Schafft der Ehrgeiz von Forschenden „Menschen-Fabriken“? Oder wird der technische Fortschritt getrieben durch die Motivation, Menschen ihren Herzenswunsch nach einem Baby zu erfüllen und in der Gründung einer Familie Freude und Glück zu finden? Jeder technische Fortschritt bei der künstlichen Entstehung von Leben sei in vielfacher Hinsicht zutiefst konservativ, schreibt die Harvard-Professorin Debora L. Spar in ihrem Buch Work Mate Marry Love: How Machines Shape Our Human Destiny (2020). Auch legt sie dar, dass die Möglichkeiten assistierter Fortpflanzung eine wichtige Rolle im Kampf gleichgeschlechtlich lebender Paare für die Eheschließung und damit für ein stabiles und förderndes Aufwachsen eines gemeinsamen, leiblichen Kindes spielten.

Die vorhandenen Erfahrungsberichte über die in Deutschland noch junge Familienform der Mehreltern-Regenbogenfamilien zeigen Menschen, meist in der Lebensmitte, die sich von ganzem Herzen ein eigenes Kind wünschen, diesen Wunsch jedoch nicht ohne technische Assistenz verwirklichen können. Regenbogenfamilien sind „Familien mit mehr als zwei Elternteilen, in denen mindestens ein Elternteil sich selbst als im Rahmen von LGBTQ+1 lebend bezeichnet“, so das Familienportal des Bundes. Mit ihrer Lebensweise verknüpft ist eine neue Form der „Co-Elternschaft“, definiert als „eine besondere Beziehungsform von zwei (oder mehr) Menschen, die sich nicht lieben, aber zusammen eine Familie gegründet haben“ und in der „die Eltern von vorneherein sagen, wir lieben uns nicht im romantischen Sinne“, schreibt die Berliner Soziologie-Professorin Christine Wimbauer (Co-Parenting und die Zukunft der Liebe. Über post-romantische Elternschaft, 2021).

 

Im Interesse des Kindeswohls?

 

Mehreltern-Regenbogenfamilien sind wahrscheinlich eine sehr kleine Minorität, Zahlen hierzu gibt es nicht. Eine einflussreiche Stimme haben sie über die Verbände, wie beispielsweise über den Lesben- und Schwulenverband Deutschlands (LSVD) oder das Queere Netzwerk NRW. Von dem im Ampel-Koalitionsvertrag festgeschriebenen neuen Rechtsinstitut der „Verantwortungsgemeinschaft“2 fordern die Mehreltern-Regenbogenfamilien die rechtliche Ausgestaltung ihrer neuen Lebensform.3 Ein Problem ist zum Beispiel, dass das gesamte Familienrecht auf dem Zwei-Elternteil-Prinzip beruht und das Sorgerecht für ein Kind nur zwei Personen zugeteilt wird. Daraus erwachsen viele Hürden im Leben von Mehreltern-Regenbogenfamilien, wie etwa fehlende Auskunfts- und Vertretungsrechte für soziale Eltern. Ungeklärte Fragen sind beispielsweise: Wer darf über den Kindesnamen entscheiden? Über die Kitawahl? Wer kommt für den Unterhalt des Kindes auf? Ebenso sind Fragen wie die der Mitversicherung in Krankenkassen und steuerlicher Regelungen noch offen. Und wie sind die Regelungen nach einer Trennung von mehreren Erwachsenen, die sich eventuell wieder neu verpartnern? Diesen Fragen geht das Bundesjustizministerium gemeinsam mit dem Bundesfamilienministerium derzeit nach; im Herbst 2023 soll ein Gesetzesentwurf dazu vorliegen. Bereits im FDP-Bundestagswahlprogramm 2021 wurde die rechtliche Anerkennung von Mehrelternschaft versprochen, „bis zu vier Elternteile sollen im Interesse des Kindeswohls rechtliche Eltern sein können“.4

Sind vier rechtliche Elternteile tatsächlich im Interesse des Kindeswohls? Während die Aufhebung des Zwei-Elternteil-Prinzips in einzelnen Bundesstaaten der USA bereits Realität ist, stellt sie in Europa einen Sonderweg dar. In den Niederlanden wurde 2016 die Empfehlung einer Staatskommission zur rechtlichen Elternschaft für bis zu vier Elternteile vom Parlament abgelehnt. Auffällig ist, dass die Interessen und Perspektiven von Kindern in der gesamten Diskussion kaum eine Rolle spielen. Die Mehreltern-Regenbogenfamilien betonen in den Medien einerseits die Vorteile für ihr Kind: Mehrere Elternteile bedeuteten mehr Qualitätszeit, mehr Liebe, mehr Lebenserfahrung, mehr finanzielle Ressourcen und mehr Schlaf. Andererseits dürften Abstimmungsprozesse, etwa in puncto Schulwahl oder Ernährung, im Alltag noch mühsamer als bei zwei Elternteilen sein, gerade weil Entscheidungen, die ein Kind betreffen, oft hochemotional sind. Auch Stigmatisierungen ungewöhnlicher Lebensformen, zum Beispiel in weniger urbanen Lebensräumen, dürften das Familienleben belasten. Eine Trennung und neue Verpartnerung, die schon bei zwei Elternteilen für ein Kind oftmals nicht leicht zu verkraften ist, wird vermutlich bei drei oder vier Elternpersonen noch schwieriger sein.

Informationen über diese neue Familienform, etwa empirische Studien, fehlen bislang. Laut Statistischem Bundesamt lebten 2019 etwa 10.000 Regenbogenfamilien (4.000 gleichgeschlechtliche Ehepaare und 6.000 gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften) in Deutschland. Da das Statistische Bundesamt keine Zahlen über haushaltsübergreifende Familienformen erhebt, ist nicht bekannt, wie viele Menschen in der neuen Familienform leben. Ein Anhaltspunkt für die mögliche Anzahl von Mehreltern-Regenbogenfamilien findet sich auf der bereits erwähnten Plattform familyship@org. In den Erfahrungsberichten von Mehrelternfamilien wird sie oftmals als Kontaktanbahnungsplattform für die Gründung einer Mehrelternfamilie genannt. Im August 2022 meldete die Plattform 7.416 weibliche und 2.882 männliche registrierte Nutzerinnen und Nutzer. Waren es bei Gründung der Plattform (2011) vor allem schwule und lesbische Menschen, die sich dort ein Profil einrichteten, kam schnell die Gruppe der heterosexuellen Frauen Ende dreißig, Single, hinzu, die ihren Kinderwunsch in einer Co-Elternschaft verwirklichen möchten. Häufig suchen sie einen oder zwei schwule Männer zur Familiengründung, so Christine Wagner (Mitgründerin der Plattform, Mail vom 30. August 2022 an die Autorin dieses Artikels).

 

„Vermutlich größte familienrechtliche Reform“

 

Übereinstimmend zeigen alle Erfahrungsberichte akademisch gebildete Erwachsene Ende dreißig, die die neue Familienform in den urbanen Zentren Deutschlands, in Berlin, Köln, München und Hamburg, verwirklichen. Sollte Mehrelternschaft als eine Form des neuen Rechtsinstituts der Verantwortungsgemeinschaft einen Rechtsrahmen erhalten, sind zunächst mehr Erfahrungen und empirische Erkenntnisse notwendig.

Eine zentrale Rolle dabei müssen die Interessen der Kinder in Mehreltern-Regenbogenfamilien spielen, denn Kinder sind eine Minorität, die ihre Interessen im Gegensatz zu erwachsenen Minderheiten nicht selbst vertreten können. Auch wäre eine gesamtgesellschaftliche Diskussion über die neue Familienform angebracht, die jedoch, so könnte man meinen, eher nicht erwünscht ist. In den offiziellen Statements des Bundesjustizministers werden Verantwortungsgemeinschaften immer mit dem Beispiel der Wohngemeinschaft von Senioren oder Alleinerziehenden erklärt. Die umfangreichen Planungen und Vorarbeiten der FDP zu einer rechtlichen Rahmung von Mehreltern-Regenbogenfamilien werden mit keinem Wort erwähnt. Die laut Minister Marco Buschmann „vermutlich größte familienrechtliche Reform der letzten Jahrzehnte“ soll das Familienrecht den gelebten Realitäten anpassen. Doch wie sehen die Realitäten aus?

Ist die Zwei-Elternteil-Familie von gestern? Statistisch belegen lässt sich das nicht. Die große Mehrheit, 70,24 Prozent der 8,25 Millionen Familien mit minderjährigen Kindern in Deutschland, lebt in einer Ehe. Davon sind 0,51 Prozent (41.000 Paare) gleichgeschlechtliche Ehepaare und 69,73 Prozent (5.754.000) gemischtgeschlechtliche verheiratete Paare, 15,25 Prozent (1.258.000) sind alleinerziehende Mütter und 2,78 Prozent (229.000) alleinerziehende Väter. Steigend ist die Zahl der nicht ehelichen Lebensgemeinschaften von 9,2 Prozent (2019) auf 11,73 Prozent (968.000) im Jahr 2021.5

Die große Mehrheit wird auch weiterhin traditionelle Lebens- und Familienformen wählen. Eine (wahrscheinlich) kleinere Zahl von Mehreltern-Regenbogenfamilien kommt hinzu. Erfahrungsberichte sprechen etwa von drei oder vier Erwachsenen, die mit all ihrer Kraft eine stabile und liebende Familie für ihr Kind schaffen. Sowohl Glücksmomente (das erste Lächeln eines Babys) als auch Alltagssorgen („Wo ist der zweite Strumpf des Sockenpaars?“) teilen sie mit Zwei-Elternteil-Familien. Bei der rechtlichen Ausgestaltung von Mehreltern-Regenbogenfamilien muss die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Bewährte gesetzliche Regelungen, die die große Mehrheit der Familien in Deutschland unterstützen, dürfen nicht zugunsten einer kleinen Minderheit über Bord geworfen werden. Wichtig ist zum Beispiel, Polygamie als Lebensform, die für unsere Kultur kaum wünschenswert ist, nicht ungewollt durch neue rechtliche Regelungen für Mehrelternfamilien zu fördern. Für Kathleen, Stella, Michael und Alex stellt sich diese Frage nicht; in anderen möglichen Konstellationen allerdings vielleicht schon.

 

Elisabeth Hoffmann, geboren 1961 in Koblenz, Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Bonn, Erstes und Zweites Staatsexamen für das Gymnasiallehramt, Unterricht am Christophorus-Gymnasium für Hochbegabte in Königswinter, Leitung familienpolitischer Projekte für die Kommission der Europäischen Union, Mitglied der PG Wodehouse Society, London, Referentin für Familie und Jugend, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

1 Anmerkung der Redaktion: Der Begriff „LGBTQ+“ steht für Menschen unterschiedlicher Identitäten und sexueller Orientierungen: lesbisch, schwul (aus dem Englischen „gay“), bisexuell, transgeschlechtlich (auch „trans*“), queer und intergeschlechtlich (auch „inter*“). Das Plus oder Sternchen bezieht alle weiteren Richtungen und Identitäten ein, die nicht aufgezählt werden.
2 Koalitionsvertrag 2021–2025, Mehr Fortschritt wagen, S. 80.
3 Queeres Netzwerk NRW: Familienvielfalt anerkennen und stärken! Queere Positionen zur Verantwortungsgemeinschaft, https://queeres-netzwerk.nrw/wp-content/uploads/2022/06/062022-Positionspapier-Verantwortungsgemeinschaften.pdf [letzter Zugriff: 01.12.2022].
4 Wahlprogramm der Freien Demokraten: Nie gab es mehr zu tun, Beschluss zum 72. Ord. Bundesparteitag der Freien Demokraten vom 14.–16. Mai 2021, S. 33.
5 Statistisches Bundesamt (2021): Zeitreihe 5.1 Familien nach Familienform, Zahl der Kinder, Alter des jüngsten Kindes, Geburtsstand und Jahren; Zeitreihe 3.3.5 Gleichgeschlechtliche Paare – darunter gleichgeschlechtliche Ehepaare und eingetragene Lebenspartnerschaften.

comment-portlet