Länderberichte
Nach der Februarrevolution 1917 und dem Ende des Russischen Kaiserreiches hatte das Gouvernement Estland, das seit 1721 zu Russland gehörte, erweiterte Selbstverwaltungsrechte zugestanden bekommen. Im Mai und Juni fanden die ersten Wahlen für den Provisorischen Landtag statt, und im November, nach der Oktoberrevolution in Russland, erklärte sich der Landtag zur höchsten gesetzgebenden Gewalt in Estland, wurde kurz darauf jedoch durch die Bolschewiki gewaltsam aufgelöst. Im Februar des Folgejahres nutzten estnische Politiker ein kurzzeitiges Machtvakuum im Land, währenddessen sich die russischen Streitkräfte bereits auf dem Rückzug vor der deutschen Armee befanden, welche das Land jedoch noch nicht (komplett) eingenommen hatte. Nach mehreren gescheiterten Versuchen wurde am Abend des 23. Februar 1918 in Pärnu die estnische Unabhängigkeit proklamiert, am 24. Februar trat die Provisorische Regierung des Landes erstmals zusammen.
Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges blieb das Land unter deutscher Okkupation, danach startete Sowjetrussland eine militärische Offensive zur Eroberung drei baltischen Staaten. Der Estnische Freiheitskrieg endete erst im Februar 1920 mit dem Frieden von Tartu, in dem Russland die estnische Unabhängigkeit offiziell anerkannte. Seit der ursprünglichen Unabhängigkeitserklärung waren beinahe zwei Jahre vergangen.
Vielfältiges Programm noch bis 2020
Die offiziellen Jubiläumsfeierlichkeiten spiegeln den langen Prozess der estnischen Unabhängigkeit wider: Sie begannen bereits im letzten Jahr und dauern noch bis Februar 2020, dem 100. Jahrestag des Friedens von Tartu. Zur Organisation dieses Großprojektes richtete die estnische Regierung das Komitee Estonia 100 ein. Wie viele umfangreiche Veranstaltungen in Estland, das als Vorreiter in der digitalisierten Verwaltung und Wirtschaft gilt, ist auch das Programm des großen Jubiläums online über eine umfangreiche Website organisiert, über die Nutzer sich ihre individuellen Veranstaltungskalender zusammenstellen und, sozusagen als Geburtstagsgeschenke an das Land, eigene Ideen und Aktionen zum Programm beisteuern können.
Viele bekannte estnische Künstler und Kunstgruppen haben speziell zum Jubiläum neue Werke entwickelt. So präsentieren beispielsweise die verschiedenen Theater im Land zwischen August 2017 und Juli 2018 zwölf neue Theaterstücke zur estnischen Geschichte. Eine Reihe neuer Filme feiern ebenfalls im Rahmen der Jubiläumsfeiern ihre Premiere, zudem ist die Veröffentlichung einer 43-teiligen Bücherreihe über Estland geplant. Das offizielle Estonia 100-Logo ist aber auch auf den Jubiläumsprodukten und Sonderangeboten vieler nationaler Unternehmen zu sehen, außerdem wurden von staatlicher Seite finanzielle Mittel für größere Initiativen bereitgestellt, beispielsweise zur besseren Ausstattung von Musikschulen und für Architekturwettbewerbe zur Neugestaltung öffentlicher Räume in mehreren Städten.
Estland im Herzen Europas
In die frühe Phase der Feierlichkeiten fiel im zweiten Halbjahr 2017 auch Estlands erste EU-Ratspräsidentschaft. Die estnische Präsidentin Kersti Kaljulaid bezeichnete diese Position „im Herzen Europas“ zu Beginn der Ratspräsidentschaft als einmalige Möglichkeit, Estland nicht nur als geografischen, sondern auch als politischen Teil Europas zu präsentieren. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker lobte den estnischen Vorsitz im Januar als eine der am besten organisierten Ratspräsidentschaften, an die er sich erinnern könne, und stellte insbesondere die Fortschritte, die im Bereich der Digitalisierung erreicht wurden, heraus. Auch in Estland selbst wurde der Vorsitz größtenteils positiv aufgefasst: Einer Studie der estnischen Regierung zufolge erachten 60 Prozent aller Esten die Ratspräsidentschaft als Erfolg, beinahe 80 Prozent befürworten die EU-Mitgliedschaft ihres Landes.
„Geburtstagswoche“ zu den Stationen der Unabhängigkeitserklärung
Im Vorfeld des Unabhängigkeitstages am 24. Februar gab es bereits die ganze Woche über landesweite Veranstaltungen, um an die Geschehnisse unmittelbar vor der Staatsgründung und die Entstehung der Unabhängigkeitserklärung zu erinnern. Diese sogenannte „Geburtstagswoche“ umfasste die Einweihung neuer Gedenkstätten und die Enthüllung von Sonderbriefmarken und –münzen anlässlich des Jubiläums, außerdem besuchten aktuelle Regierungsmitglieder die Geburtsorte von 14 wichtigen Mitbegründern der Republik. Ministerpräsident Jüri Ratas hielt seine traditionelle Ansprache zur Unabhängigkeit am Donnerstag, den 22. Februar, im Vanemuine Theater in Tartu, dem ältesten estnischsprachigen Theater des Landes. Er verwies in seiner Rede darauf, dass die Unabhängigkeitserklärung 1918 explizit an alle Bewohner Estlands gerichtet war. Mit Blick auf die große russischsprachige Minderheit des Landes, die etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmacht, rief Ratas die Esten dazu auf, sich trotz ihrer sprachlichen und kulturellen Unterschiede ihres „gemeinsamen Patriotismus“ bewusst zu sein und lobte die Beiträge der Minderheit zu den Feierlichkeiten.
Weil der 24. Februar in diesem Jahr auf einen Samstag fiel, riefen die Organisatoren von Estonia 100 die estnischen Unternehmen dazu auf, ihren Mitarbeitenden bereits den Freitag davor freizugeben. Am Vorabend des Nationalfeiertages wurde die Unabhängigkeitserklärung in Pärnu verlesen, dem Ort, an dem sie 100 Jahre zuvor zum ersten Mal öffentlich verkündet worden war. Zu Sonnenaufgang des 24. Februars gab es in mehreren großen Städten feierliche Flaggenzeremonien. In Tallinn beteiligten sich etwa 1.100 Soldaten und 100 Armeefahrzeuge an der darauf folgenden traditionellen Militärparade, darunter auch Angehörige der im Land stationierten NATO-Truppen. Trotz zweistelliger Minusgrade waren mehrere tausend Menschen für die Parade in der Innenstadt zusammengekommen. Der Befehlshaber der estnischen Streitkräfte, General Riho Teras, blickte in seiner Ansprache auf dem Tallinner Freiheitsplatz auf die militärische Geschichte des Landes zurück. Auch 27 Jahre nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit von der Sowjetunion, mahnte er, dürfe diese niemals als garantierte Selbstverständlichkeit wahr-genommen werden.
Präsidentin Kaljulaid, deren offizieller Empfang am Abend des 24. Februar im Estnischen Nationalmuseum in Tartu stattfand, legte dem Schwerpunkt ihrer mit Spannung erwarteten Rede auf die Errungenschaften des Landes seit 1991 und seinem Streben, ein „würdevoller Staat“ zu sein. Die estnische Republik sei heute so leistungsstark und international anerkannt wie noch nie zuvor, erklärte sie.
Estland und Esten weltweit
Feierlichkeiten anlässlich des Jubiläums finden nicht nur in Estland, sondern europa- und weltweit statt. Insgesamt zählt das internationale Programm bis Ende dieses Jahres noch beinahe 140 Konzerte, Ausstellungen und andere Veranstaltungen. Viele ausländische Staats- und Regierungschefs gratulierten Estland zum großen Jubiläum. Weltweit wurden bekannte Bauwerke verschiedener Länder, darunter beispielsweise die die Cristo Redentor Statue in Rio de Janeiro und der Canadian National Tower in Toronto, in den estnischen Nationalfarben angestrahlt.
Auch die estnischen Gemeinden außerhalb des Landes sind aufgerufen, sich am Staatsjubiläum zu beteiligen. Infolge mehrerer großer Auswanderungswellen seit Ende des 19. Jahrhunderts leben heute etwa 200.000 ethnischen Esten (estnische Auswanderer und ihre Nachkommen, die sich weiterhin als Esten identifizieren) im Ausland, vor allem in Finnland, Russland, Schweden, Kanada und den USA. Ungeachtet der heutigen Staatszugehörigkeit der Auswanderer bleibt Estland, auch mit Blick auf die aktuelle demografische Entwicklung des Landes, sehr um diese Gruppe bemüht. Im Rahmen des Estonia 100-Programmes wurden deswegen auch speziell Veranstaltungen der estnischen Sprach- und Kulturorganisationen rund um die Welt gefördert.
Mit Optimismus in das nächste Jahrhundert?
Noch bis zum Jahrsende ist im Rahmen der A Party in Every Village-Initiative jede estnische Ortschaft dazu aufgerufen, ihre jeweils eigene „Geburtstagsparty“ für das Land zu organisieren, und auch 2019 und 2020 wird Estland die 100-jährigen Jubiläen weiterer wichtiger Ereignisse aus dem Zeitraum der Staatsgründung feiern. Obwohl die Feierlichkeiten also noch zwei weitere Jahre andauern, stellte der diesjährige Nationalfeiertag ihren bislang unumstrittenen Höhepunkt dar. So urteilte beispielsweise Schriftsteller Peeter Helme in der Tageszeitung Eesti Päevaleht, kein bisheriger 24. Februar in der Geschichte des Landes hätte dieselbe Bedeutung wie der diesjährige gehabt, und die meisten Esten würden zu ihren Lebzeiten auch keinen vergleichbaren Nationalfeiertag mehr erleben. Die optimistische Rede der Präsidentin wurde dagegen mit gemischten Reaktionen aufgenommen. Helme bezeichnete sie als „langweilig“, und Rain Kooli vom Estnischen Rundfunk wertete die Ansprache als Versuch, die „goldene Mitte“ zu treffen, der zwangsläufig bei all denjenigen, die sich weiter entfernt von diesem Mittelpunkt befänden, zu Unmut führen müsse. Kolumnistin Kaire Uusen der Tageszeitung Postimees befand dagegen, dass das Wegfallen alter historisch eindeutiger Feinde, Probleme und Träume es zwar komplizierter mache, heute den eindeutigen Charakter und die zukünftige Ausrichtung des Landes genau zu definieren, aber dass Kaljulaids optimistischer Ton im Angesicht dieser neuen Herausforderungen dennoch angemessen gewesen sei.
Die nächsten Parlamentswahlen, die planmäßig im März 2019 anstehen, fallen ebenfalls noch in den Zeitraum der weiteren Estonia 100-Feierlichkeiten. Hier erst wird sich zeigen, ob die aktuelle Koalitionsregierung den Schwung und Optimismus des Staatsjubiläums für sich nutzen kann. Umfragen der Postimees zufolge lag die Zustimmung für die drei Koalitionsparteien (die Mitte-links orientierte Zentrumspartei, die den Ministerpräsidenten stellt, die Sozialdemokraten und das konservative Wahlbündnis IRL) zuletzt bei unter 40 Prozent.