Länderberichte
Mit der Vereinigung reagieren die beiden Parteien auf ihre anhaltenden Umfragetiefs sowie auf den bereits eingeschlagenen Konsolidierungskurs der drei Regierungsparteien Neue Zeit (Jaunais Laiks, JL), Bürgerunion (Pilsoniskā Savienība, PS) und Gesellschaft für eine andere Politik (Sabiedrība Citai Politikai, SCP). Angesichts der Zersplitterung der lettischen Parteienlandschaft in den zurückliegenden zwei Jahren, scheiterten etliche Parteien bei den Kommunalwahlen im Juni 2009 an der Fünf-Prozent-Hürde. Von der Uneinigkeit der lettischen Parteien profitierte zuletzt das politische Lager der russischsprachigen Bevölkerung, das mit dem Harmoniezentrum (Saskaņas Centrs, SC) als geeinten Block antrat. In zahlreichen Stadtparlamenten, u.a. in der Hauptstadt Riga, wurde SC zur stärksten politischen Kraft und konnte eine Reihe von Bürgermeistern stellen. Ein ähnliches Szenario zeichnet sich derzeit für die Parlamentswahl am 2. Oktober ab, da SC nahezu geschlossen über die Unterstützung der wahlberechtigten russischsprachigen Bevölkerungsminderheit (ca. 30 Prozent Bevölkerungsanteil) verfügt.
Die Rückkehr der Oligarchen
Mit dem Bündnis Par labu Latviju bringen sich die beiden politischen „Urgesteine“ Ainārs Šlesers und Andris Šķēle zurück ins Rennen um den Vorsitz im nächsten Regierungskabinett, nachdem sowohl LPP/LC als auch TP in Umfragen über Monate zwischen 1,5 und 3 Prozent lagen.
Der 40jährige Šlesers gehörte in den Jahren 2002 bis 2006 der lettischen Regierung zunächst als stellvertretender Ministerpräsident später als Verkehrsminister an. Nach einem Stimmenkauf-Skandal musste er im März 2006 von seinem Ministeramt zurücktreten. Bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr führte Šlesers seine Partei LPP/LC als Spitzenkandidat in Riga an und erlangte respektable 15,11 Prozent Stimmenanteil (12 Sitze). Seitdem koaliert LPP/LC in der Landeshauptstadt als Juniorpartner mit dem Harmoniezentrum. Šlesers bildet in dieser Koalition als stellvertretender Bürgermeister ein bislang gut funktionierendes Tandem mit dem russischstämmigen Bürgermeister Nils Ušakovs.
Während Šlesers nie richtig von der politischen Bühne verschwunden war, ist die Rückkehr des 60jährigen Andris Šķēles umso überraschender. Šķēle war zweimal (von Dezember 1995 bis Juli 1997 und von Juli 1999 bis Mai 2000) Ministerpräsident seines Landes. Nach seinem Rücktritt vom Amt des Regierungschefs zog sich Šķēle in die Privatwirtschaft zurück. Er gilt neben Šlesers und dem Bürgermeister von Ventspils, Aivars Lembergs, als einer der drei Oligarchen Lettlands, die das Land seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991 politisch und wirtschaftlich kontrollieren. Zwischenzeitlich war er auf einer Liste der Baltic Times unter den zwanzig reichsten Menschen in den Baltischen Ländern geführt.
Nachdem die von ihm gegründete Volkspartei nach der Regierungskrise und dem Rücktritt von Ministerpräsident Aigars Kalvītis (TP) im Dezember 2007 in ein Umfragetief stürzte, übernahm Šķēle im November 2009 erneut den Vorsitz der von ihm gegründeten Partei. Seitdem versucht er – bislang erfolglos – seine Partei aus dem Umfragekeller zu führen. Der Abschluss eines Wahlbündnisses schien der letzte, konsequente Schritt vor der Parlamentswahl, wollte die Volkspartei auf nationaler Ebene nicht das gleiche Schicksal ereilen wie bei der Europawahl als sie deutlich an der Fünf-Prozent-Klausel scheiterte.
Gegen Šķēle ist wiederholt wegen des Verdachts der persönlichen Bereicherung und Einflussnahme in diversen Privatisierungsverfahren ermittelt worden. Zurzeit läuft eine juristische Untersuchung über seine Rolle bei der Einführung des Digitalfernsehens in Lettland seit Mitte der 2000er Jahre.
Par labu Latviju
Die Gründung des Wahlbündnisses Par labu Latviju (PLL) kündigte sich bereits seit einiger Zeit an. Die Einigung der beiden Oligarchen Šlesers und Šķēle scheint dennoch überraschend. Zuletzt waren sie in erster Linie Gegenspieler, die ihre wirtschaftlichen Claims gegenüber dem anderen abzustecken versuchten. Nun bringt sie die Besorgnis zusammen, aufgrund der gegenwärtigen allgemein Gemengelage nach der Parlamentswahl im Oktober politisch an Einfluss zu verlieren.
Da über die Politik in Lettland - vielleicht stärker als in anderen EU-Ländern - die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gesteckt werden, haben Šlesers und Šķēle gleichermaßen ein Interesse daran, weitgehend selbst die politischen Fäden in der Hand zu halten. Um sich herum haben sie eine Reihe von erfolgreichen Unternehmern versammelt, die für ein prosperierendes und aufstrebendes Lettland wie in den sogenannten „Boomjahren“ zwischen 2004 und 2007 stehen. Zusammen formen die überwiegend von wirtschaftlichen Interessen geleiteten Neu-Politiker das Bündnis „Für ein gutes Lettland“, das sich am 12. Juni in Riga als Partei formiert hat.
Ein Überraschungscoup ist PLL bei der Wahl Guntis Ulmanis als ihren Vorsitzenden gelungen. Guntis Ulmanis ist als Neffe des letzten frei gewählten Staatsoberhauptes Lettlands vor der sowjetischen Besatzung, Kārlis Ulmanis, mit großen Erwartungen nach Wiederherstellung der Unabhängigkeit im Jahr 1993 zum Präsidenten der Republik Lettland gewählt worden. Er bekleidete dieses gemäß der lettischen Verfassung in erster Linie auf repräsentative Aufgaben beschränkte Amt bis 2001 relativ geräuschlos. Anschließend zog er sich ins Privatleben zurück, kommentierte hin und wieder die Politik seines Landes, hielt sich aber weitgehend von der politischen Bühne und der Öffentlichkeit fern.
Nun holen Šlesers und Šķēle den heute 71jährigen zurück ins Rampenlicht. Angesichts der ausgeprägten Persönlichkeiten Šlesers und Šķēles darf angenommen werden, dass sich keiner der beiden vorstellen konnte, als Juniorpartner bzw. Stellvertreter des anderen in einem gemeinsamen Bündnis zu kooperieren. Mit Ulmanis holen sie sich einen Moderator ins Team, der selbst keinerlei Ambitionen auf die Kapitänsbinde hegt. Zudem hat ein Großteil der Menschen die Aufbruchsstimmung des Landes unter der Präsidentschaft Ulmanis zu Beginn der 1990er Jahre in positiver Erinnerung.
Symbolisch könnte die Reaktivierung Ulmanis’ in Kontinuität der Präsidentschaft seines Onkels Kārlis und seiner eigenen Amtszeit gesehen werden, als es jeweils galt, in kritischen Phasen die nationalen Interessen Lettlands gegenüber äußeren und inneren Gefahren zu verteidigen. Mit der Übertragung des Parteivorsitzes an Guntis Ulmanis erhebt sich PLL in dieser Tradition zum Wahrer nationaler Interessen in einer erneut für Lettland kritischen Zeit.
Fraglich ist, inwieweit sich der gealterte Staatsmann bewusst ist, dass er sich just von jenen vor den Karren spannen lässt, die diesen durch ihre von Selbstinteressen geleiteten Politik der vergangenen Jahren knietief in den Schlamm gefahren haben.
Ausblick
Lettland steht wahrlich vor einer Richtungswahl. Die nächsten Wochen werden zeigen, welches Bündnis den Wählern das überzeugendere Programm vorlegt. Es geht bei dieser Wahl um nichts Geringeres als um die Zukunftsfähigkeit Lettlands abseits des wenig nachhaltigen Immobiliengeschäftes. Nicht nur der starke Geburtenrückgang zeugt von den strukturellen Problemen des Landes, sondern vielmehr noch die massive Abwanderung junger, qualifizierter Menschen, die gegenwärtig ihre Zukunft nicht in Lettland sehen. Den jungen Menschen wieder eine Perspektive geben, Anreize zu schaffen, sich in und für Lettland zu engagieren, darin liegt die Hauptaufgabe aller gesellschaftlichen Kräfte und politischen Parteien für die kommenden Jahre.