Länderberichte
Sichtbar stolz und zufrieden zog Valdis Dombrovskis in der Silvesternacht kurz nach dem Jahreswechsel erstmals Euro-Banknoten an einem lettischen Bankautomaten. Umgeben von anderen lettischen Spitzenpolitikern und im Beisein von Hunderten Schaulustigen hob er in der Innenstadt von Riga demonstrativ zehn Euro ab. Dass Lettland mit dem neuen Jahr auch als 18. EU-Land den Euro begrüßen durfte, gilt vor allem als sein Verdienst. Der 42-Jährige hatte dem baltischen Land, das bei seiner Amtsübernahme im Frühjahr 2009 am Rande des Staatsbankrotts stand, einen harten Spar- und Reformkurs verpasst. Damit überwand die Ostseerepublik ihre Krise und erfüllte nur vier Jahre nach dem Beinahe-Kollaps souverän die Beitrittsbedingungen.
Mit dem Ja der EU-Finanzminister im Juli 2013 zur Euro-Einführung konnte Dombrovskis die wirtschaftliche Sanierung seines Heimatlandes krönen, doch die Früchte seiner Arbeit nur noch wehmütig ernten. Nach dem Einsturz eines Daches in einem Supermarkt von Riga übernahm er die politische Verantwortung für die Tragödie mit 54 Toten und legte Ende November sein Amt nieder. Als amtierender Regierungschef konnte er zwar Lettland in die Eurozone führen, nach zuletzt aber immer absurdere Züge annehmenden Verhandlungen über die Bildung einer neuen Regierung, wird er wahrscheinlich in den nächsten Tagen als Ministerpräsident abtreten. Mit Laimdota Straujuma als seiner designierten Nachfolgerin soll erstmals eine Frau an der Spitze der Regierung des baltischen Landes stehen.
Die Gründe für Dombrovskis Rücktritt bleiben bis heute ein Rätsel. Sein Rückzug kam für viele unerwartet und überraschend – sowohl auf Seiten der Opposition als auch im eigenen politischen Lager. Die Reaktionen waren gemischt: Der Rückzug rief Erstaunen und Respekt aber auch Unverständnis und Kritik hervor. „Es war keine impulsive oder emotionale Entscheidung. Es war eine wohl durchdachte Entscheidung“, beteuerte Dombrovskis in einem Fernseh-Interview wenige Tage nach seinem Rücktritt. Dass ihm der Schritt dennoch sicherlich nicht leicht fiel, zeigte seine kurze Rede, bei der er sichtlich mit den Tränen kämpfte. Und trotz aller offizieller Dementis halten sich Gerüchte, dass Staatspräsident Andris Berzins ihm zu diesem Schritt drängte.
Auch wenn die Untersuchung des Unglücks und Ursachenforschung weiter andauert, deutet bislang nichts auf eine direkte Verantwortung seiner Regierung hin. Die Mitte-Rechts-Koalition hatte zwar in der Wirtschaftskrise die staatliche Baubehörde aufgelöst und die Bauaufsicht weitgehend auf die Kommunen übertragen. Doch die notwendigen Änderungen am Baugesetz wurden bei der damaligen Abstimmung im Parlament auch von vielen Abgeordneten der Opposition mitgetragen, einschließlich des Bürgermeisters von Riga.
Das oppositionelle Harmoniezentrum wirft ihm vor, die Tragödie nur als Vorwand zu missbrauchen, um sich angesichts des drohenden Auseinanderbrechens der Koalition aus der Regierungsverantwortung zu stehlen. Mit dem Rücktritt wolle er sich persönliche Vorteile verschaffen und Popularitätspunkte vor den im Oktober 2014 anstehenden Parlamentswahlen sammeln.
In lettischen Medien hingegen wurde Dombrovskis Entscheidung von führenden Politikwissenschaftlern und Kommentatoren als „ehrenwert“ und „vorbildhaft“ gelobt. Die Tageszeitung „Diena“ schrieb sogar von einem „Präzedenzfall für politische Verantwortung“ in Lettland. Im Internet bedankten sich auf einer speziellen Webseite Tausende Letten persönlich für seine Arbeit. Bereits zuvor galt der Brillenträger mit der sanften Stimme als Ausnahme in der politischen Elite Lettlands, die in der Vergangenheit wirtschaftlichen und persönlichen Interessen häufig den Vorrang vor dem Gemeinwohl gab.
Nach seiner Amtsübernahme im März 2009 gewann Dombrovskis zügig das Vertrauen der Bevölkerung, weil er nicht zur alten Politiker-Klasse in dem seit gut 20 Jahren wieder unabhängigen Baltenstaat gehörte. Für viele Letten stand der einstige Finanzminister nach Jahren politischer und wirtschaftlicher Dauerkrise, die geprägt waren von häufigen Wechseln an der Regierungsspitze, immer neuen Korruptionsskandalen unter führenden Politikern und politisch höchst zweifelhaften Aktivitäten sehr schnell reich gewordener Männer, für Ruhe, Integrität und Stabilität. Das Magazin „Ir“, das publizistische Flaggschiff des baltischen Landes, bezeichnet dies einst als "Dombrovska fenomens" (Phänomen Dombrovskis).
Als erster Ministerpräsident Lettlands stand der wegen seines guten Zahlengedächtnisses als „Professor Zifferchen“ bezeichnete Politiker an der Spitze von drei aufeinanderfolgenden Regierungen. Im August wurde Dombrovskis zum am längsten regierenden Regierungschef Lettlands seit der Unabhängigkeit 1991. Und auch international war der Wirtschaftsfachmann, dem ein gutes Verhältnis zur deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel nachgesagt wird, anerkannt.
Dennoch trat er ab – und mit ihm musste verfassungsgemäß sein gesamtes Kabinett gehen. „Lettland benötigt eine Regierung, die die mehrheitliche Unterstützung des Parlaments hat und in der Lage ist, mit der gegenwärtigen Situation im Land umzugehen“, sagte Dombrovskis in seiner Rücktrittsrede.
Seine Mitte-Rechts-Koalition bestehend aus seiner eigenen Partei Vienotība, der Reformpartei von Ex-Präsident Valdis Zatlers und dem nationalkonservativen Wahlbündnis Nationale Allianz zeigte zuvor deutliche Risse. Zwar verfügten die drei Parteien zusammen mit sechs unabhängigen Abgeordneten, über 56 von 100 Mandaten im Parlament in Riga. Doch besonders die Zusammenarbeit zwischen Vienotība und der Nationalen Allianz war wegen Konflikten um den personellen Austausch von Ministern und den Streit um die Vergabe von Schengen-Visa für ausländische Investoren gestört. Zuletzt hatte die Nationale Allianz sogar die Koalitionsvereinbarung für unwirksam erklärt und bei Abstimmungen mehrfach mit der Opposition votiert.
Auch in diesen Zeiten hat Dombrovskis stets einen kühlen Kopf bewahrt und sich nicht zu emotionalen Aussagen verleiten lassen. Der zurückhaltende Physiker und Ökonom gilt als nüchtern-analytisch und pragmatisch. Ihm haftet eher ein Experten-Image als das eines ausgebufften Parteipolitikers an. Dennoch ist er zielstrebig und verfügt trotz seines unscheinbaren Auftretens über Willens- und Durchsetzungsstärke.
Als Lettlands Wirtschaft zwischen 2008 und 2010 um mehr als 20 Prozent einbrach, setzte Dombrovskis auf einen radikalen Spar- und Sanierungskurs. Die öffentlichen Ausgaben im Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen wurden drastisch gekürzt, Gehälter beschnitten und mehrere Steuern erhöht. Durch Entlassungen und tiefe Einschnitte im öffentlichen Dienst wie auch dem Privatsektor schnellte die Arbeitslosigkeit zeitweise bis auf 20 Prozent hoch. Dadurch kam es zu einem Exodus der Verzweifelten und Qualifizierten – viele junge Leute wanderten wegen Per-spektivlosigkeit und geringer Löhne ins Ausland ab. Bis heute leidet Lettland unter starker Abwanderung und deren Folgen.
„Ich möchte der lettischen Gesellschaft für die Unterstützung während der herausfordernden Zeit danken, als das Land die Wirtschafts- und Finanzkrise bekämpfte, um auf den Wachstumspfad zurückzukehren“, sagte Dombrovskis, der nie Zweifel daran hatte aufkommen lassen, dass er die eingeleiteten Konsolidierungsschritte für alternativlos hält. Heute sind Wirtschaft und Haushalt wieder auf Kurs - Lettland ist das wachstumsstärkste Land in der EU.
Vom Euro verspricht sich seine Regierung nun weitere Vorteile bei der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes: „Euro. Lettland wächst“ lautete das Motto in den Fernsehspots und Anzeigen zum Währungswechsel. Zehn Jahre nach dem EU- und Nato-Beitritt gilt der Eurozonen-Beitritt auch als weiterer Integrationsschritt in den Westen. Damit will sich die Baltenrepublik, die nach dem Zweiten Weltkrieg mehr als vier Jahrzehnte lang dem Willen Moskaus unterstand, noch stärker politisch und wirtschaftlich von seinem mächtigen Nachbarn Russland abgrenzen.
Unumstritten war die Euro-Einführung in Lettland aber dennoch nicht. In Umfragen sprachen sich noch kurz vor der Jahreswende mehr Letten gegen den Euro-Beitritt aus als dafür – sie befürchteten vor allem steigende Preise und einen Identitätsverlust durch die Aufgabe des Lats. Der Anteil an Euro-Gegnern nahm zuletzt aber ab. Technisch verlief die Währungsumstellung zum Jahreswechsel und während der zweiwöchigen Parallelumlaufs von beiden Währungen, nach Angaben der EU-Kommission und lettischer Behörden zügig und ohne größere Probleme. Seit dem 15. Januar ist der Euro nun alleiniges Zahlungsmittel in Lettland.
„Die Euro-Einführung verlief sehr erfolgreich und reibungslos “, freute sich Dombrovskis. Gelobt wurde er dafür auch von EU-Kommissionspräsident José Manuel Durấo Barroso, als dessen Nachfolger er mitunter gehandelt wird. Auch lettische Medien sagten ihm immer wieder Ambitionen auf einen Job in Europa nach, was der frühere EU-Parlamentarier bislang aber stets dementiert hat. Er will als einfacher Abgeordneter wieder ins lettische Parlament einziehen. Sein Ansehen in Brüssel hat sein Rücktritt indes nicht geschmälert.
Bis zu den nächsten Parlamentswahlen im Oktober soll nun Laimdota Straujuma die Regierung führen – als erste Frau überhaupt. Sie wurde Anfang Januar von Präsident Andris Berzins mit der Regierungsbildung beauftragt. Zuvor hatte der Staatschef in zwei Gesprächsrunden mit den fünf im Parlament vertretenen Parteien alle vorgeschlagenen Kandidaten ohne nähere Angabe von Gründen abgelehnt – darunter zweimal auch den bisherigen Verteidigungsminister Artis Pabriks. Seine eigenen beiden Favoriten, EU-Entwicklungskommissar Andris Piebalgs und Parlamentspräsidentin Solvita Aboltina, hatten ihm abgesagt.
Straujuma steht für die Fortsetzung der Koalition aus rechtsliberalen und nationalkonservativen Parteien. Zudem will die bisherige Landwirtschaftsministerin den oppositionellen Bund der Grünen und Bauern ins Kabinett aufnehmen. Politisch kündigte die 62-Jährige an, den Kurs von Dombrovskis und die bisherige Sparpolitik der Regierung beibehalten zu wollen. Doch zunächst muss sie sich einer Abstimmung im Parlament stellen.
Den Länderbericht inklusive Fußnoten lesen Sie im pdf.