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Länderberichte

Ölschiefer in Estland: Fossile Politik im Vorreiterland

von Elisabeth Bauer, Jonathan Tappe

Um unabhängig von ausländischer Energie zu sein setzt Estland weiter auf Ölschiefer – trotz der Nebeneffekte

In den letzten Jahren hat sich Estland über die Grenzen der EU hinweg einen Ruf als digitale Vorreiternation erarbeitet und sein sozialistisches Wirtschaftssystem hinter sich gelassen. Doch bei einer Industrie bleiben Wirtschaft und Politik dem alten System treu. Und das hinterlässt einen bleibenden Abdruck in Estland.

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Wenn man durch den Nordosten Estlands fährt, wo der baltische Staat an Russland grenzt, ist die Landschaft durch Hügel und Berge geprägt. Allerdings sind die Höhen keineswegs natürlich sondern wurden erst in den letzten Jahrzehnten aufgeschüttet. Sie sind das Ergebnis von insgesamt über 100 Jahren Ölschieferbergbau in Estland, der mehr als eine Milliarde Tonnen Ölschiefer gefördert hat. Auf jede Tonne Ölschiefer, die produziert, wird kommen 450 kg Schlacke, die abgelagert werden müssen. So ist über die Jahre eine spärlich begrünte Hügellandschaft entstanden, die sich immer weiter ausbreitet.

 

 

Die Ölschiefervorkommen übersteigen den Erdölbestand um fünfzig Prozent

 

 

Estland ist neben den USA, Russland und China eines der Länder, die auf reiche Ölschiefervorkommen zurückgreifen können. Der Bodenschatz ist ein Sedimentgestein, welches je nach Art aus 20 bis 30 Prozent Kerogen besteht. Dies ist die Vorstufe zu Erdöl und kann mit Wasser, Druck und Chemikalien aus Ölschiefer gewonnen und dann zu gleichwertigem Erdöl verarbeitet werden. Allerdings sind der Abbau und die Extraktion kostspielig und der konventionellen Erdöl- oder Kohle-Förderung wirtschaftlich nicht gewachsen. Weltweit schätzen Wissenschaftler die Vorkommen auf über zehn Trillionen Tonnen Ölschiefer, was die derzeit bekannten Erdölreserven um 50 % übersteigen würde. Die außerordentlichen wirtschaftlichen Gewinne locken große Investitionen – nicht nur in Estland – an, um die Ölschieferförderung rentabel zu machen. Die USA, welche 70% der internationalen Ölschiefervorkommen besitzen, bauen zwar im Moment nur verhältnismäßig wenig Ölschiefer ab, fördern aber die Forschung nach alternativen Methoden zur Erdölextraktion aus dem Gestein intensiv.

 

 

Jedoch verweisen Kritiker nicht nur auf die wirtschaftlichen Kosten des Ölschieferabbaus. Auch die externen Effekte der Produktion, vornehmlich auf die Umwelt, sind signifikant. Die Extraktion des Erdöls aus dem Schiefer setzt im Vergleich zu anderen Energielieferanten eine verhältnismäßig große Menge an Treibhausgasen frei. Während bei der Verwendung von Windenergie noch 0,4 Cent aufgewendet werden müssen um die dadurch entstehenden Schäden an der Umwelt zu beheben, kostet es bei Kohle schon 10 Cent und Ölschiefer 18 Cent pro erwirtschafteten Dollar . Die Emissionen dabei liegen 75 % höher als bei der Förderung von Erdöl. Nicht nur die Treibhausgase sind bedenklich, sondern auch die riesige Menge an Wasser, die verbraucht wird und die Schlacke, die bei der Extraktion produziert wird. Nur ein kleiner Teil kann von der Baustoffindustrie verwendet werden, der Rest landet in Estland dann auf den bereits beschriebenen Hügeln in der Landschaft. Zusätzlich entsteht bei der Herstellung giftiger und mit Chemikalien versetzter Müll, der separat entsorgt werden muss.

 

 

Ölschieferindustrie von staatlicher Seite künstlich am Leben erhalten

 

 

Trotz der wirtschaftlichen und umwelttechnischen Bedenken wird die Ölschieferförderung in Estland seit über 100 Jahren unvermindert weiter betrieben und ist durch niedrige Steuern gerade noch profitabel. In Estland sollen nach Schätzungen rund fünf Milliarden Tonnen Ölschiefer liegen. Das ist im internationalen Vergleich nicht viel, jedoch entfällt aktuell 70 % der weltweiten Ölschieferförderung auf Estland. Dieser Industriezweig hat in Estland Tradition und wurde noch unter russischer Besetzung ab 1910 entwickelt bevor er dann kurz nach der Unabhängigkeit ab 1921 systematisch aufgebaut wurde. Ab 1924 wurde erstmals Strom aus Ölschiefer gewonnen und ab 1938 wurde systematisch an der Universität Tallinn geforscht, um die Produktion effizienter zu gestalten. Während der sowjetischen Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Produktion ausgebaut und erreichte ihren Höhepunkt 1980, bevor dann Atomkraftwerke die Nachfrage an Strom aus Ölschieferproduktion dämpften. Nach der Umstrukturierung der Wirtschaft nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit in den 1990er Jahren stieg die Produktion im 21. Jahrhundert aber wieder an.

 

 

Heute beschäftigt die Industrie rund 6400 Mitarbeiter und damit ein Prozent der arbeitenden Bevölkerung Estlands. Darüber hinaus trägt sie vier Prozent zum estnischen Bruttoinlandsprodukt bei und liefert zwölf Terrawattstunden Strom, 1,2 Millionen Barrel Erdöl und 40 Millionen Kubikmeter Erdgas pro Jahr. Als der Ölpreis 2014 fiel, drohte die Industrie aufgrund der hohen extraktionskosten unrentabel zu werden. Jedoch reduzierte der estnische Staat damals die Steuer pro Tonne Ölschiefer von 1,58 Euro auf 0,275 Euro und hielt die Industrie damit am Leben. Auch im Jahr 2016 sind wieder 63 Millionen Euro in den Ölschieferabbau investiert worden, mit der Hoffnung ihn durch weitere Forschung wirtschaftlich rentabler zu machen. Noch rechnet sich der Abbau laut dem Direktor der staatlichen Ölschieferfirma Eesti Energia. Allerdings wird das nur so bleiben so lange die EU nicht die Preise für die Emissionszertifikate erhöht, der Ölpreis nicht wieder sinkt und der estnische Staat die Industrie weiter bevorzugt.

 

 

Estland ist das Europäische Schlusslichtbei CO²-Emissionen

 

 

Auch wenn der Ölschieferabbau ein essentieller Teil der estnischen Wirtschaft ist, ist er auch für einen großen Teil der Umweltverschmutzung in Estland verantwortlich. Innerhalb der EU ist der Baltische Staat aufgrund der hohen Emissionen durch die Industrie Letzter auf der Liste der umweltfreundlichsten Länder. Schon oft wurde das Land von der EU und der OECD ermahnt und aufgefordert, seine Umweltbilanz aufzubessern. Im internationalen Vergleich der Länder mit den höchsten Emissionen pro Kopf liegt Estland auf Platz 22 knapp hinter den USA und knapp vor Russland und 191 weiteren Ländern. 70 % der Emissionen, die in Estland produziert werden, können auf die Ölschieferindustrie zurückgeführt werden. Auch der Sondermüll der neben der Schlacke, der bei der Produktion noch entsteht, wie zum Beispiel Chemikalienreste entspricht 82 % des gesamten in Estland produzierten Sondermülls. Die wasserintensive Extraktion verbraucht darüber hinaus über 90 % des Wassers in Estland.

 

 

Der Ölschiefer sorgt für Unabhängigkeit

 

 

Die Gewinnung von Strom aus Ölschiefer deckt den Stromverbrauch in Estland und macht sogar den Energieexport ins Ausland möglich. Damit ist Estland im Gegensatz zu seinen Nachbarn nicht abhängig von russischen Öl- oder Gas-Importen. Neben dem großen geopolitischen Vorteil sorgen also auch volkswirtschaftliche Argumente dafür, die Industrie trotz Umweltbedenken weiterzuführen um Arbeitsplätze zu erhalten. Die Ölschieferförderung kann darüber hinaus auf Strukturen aus Sowjetzeiten zurückgreifen, welche eine Umstellung auf zum Beispiel erneuerbare Energien wirtschaftlich umso teurer machen. Stattdessen wird in die Forschung für effizientere Ölschieferförderung investiert. Zusammen mit den 6400 Arbeitsplätzen ist das Grund genug, die Produktion weiterzuführen. Vor kurzem kündigte der Direktor von Eesti Energia an, die Technologie zum Aufbau einer Anlage zur Ölschiefergewinnung in Jordanien zu exportieren und stellte somit große Gewinne in Aussicht. Mit effizienter werdenden Methoden und wirtschaftlichen Chancen rückt das Argument der Umweltbelastung immer weiter in den Hintergrund – auch in einem modernen Vorreiterland.

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