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Länderberichte

Parlamentswahlen in Lettland

von Oliver Morwinsky, Daiga Krieva, Una Spēlmane-Baumane, Ieva Jēkabsone, Jana Kalniņa

Stabilität mit Überraschungseffekten

Die Parlamentswahlen in Lettland finden in turbulenten Zeiten statt. Die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine haben auch Einfluss auf die Wahlentscheidung in Lettland. Die Partei des amtierenden Ministerpräsidenten findet zurück zu alter Stärke. Die russischsprachige Wählerschaft ist zersplittert. Zwei Drittel des Parlamentes besteht aus neuen Abgeordneten. Die Rückkehr zweier Oligarchen ins Parlament lässt aufhorchen. Die neue Regierung sollte im November stehen.

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Am 1. Oktober wurden 1,5 Millionen Wahlberechtigte an die Wahlurnen gerufen um das lettische Parlament (Saeima; 100 Sitze) zu wählen. Die Wahl findet in unruhigen Zeiten statt. Dies ist in der Region besonders spürbar. Und doch ist der Wahlkampf debatten- und themenreich. Auch war eine erhöhte politische Partizipation im Vorhinein der Parlamentswahlen zu spüren. So wurden insgesamt 19 Parteilisten mit 1.832 Namen registriert. Zum Vergleich: Bei den Wahlen 2018 waren es nur 16 Parteilisten. Die meisten Parteilisten sind Wahlbündnisse. Es gibt aber auch einige Parteien, die allein antreten (z.B. “Die Progressiven” und “Die Konservativen”).
In Lettland findet die Abstimmung über die Parteiliste statt. Ein Erst- und Zweitstimmensystem (wie in Deutschland) existiert in der Form nicht. Vielmehr wählt man eine Liste (= Partei) aus und kann dort die Reihenfolge (und somit die Aussichten auf den Einzug ins Parlament) der einzelnen Kandidaten beeinflussen. Personen können gestrichen oder mit einem “Plus” versehen werden, um sie in der Reihenfolge steigen oder fallen zu lassen. Das führt zum Teil dazu, dass Spitzenkandidaten einiger Parteien, trotz eines guten Parteiergebnisses, selbst nicht ins Parlament einziehen können.
Neben der erhöhten politischen Partizipation ist auch die Wahlbeteiligung im Vergleich zur letzten Wahl gestiegen. So stimmten 59,4 Prozent aller Wahlberechtigten ab (2018: 54,5 Prozent). Sie stellt gar die höchste seit 11 Jahren dar. Die Beteiligung ist landesweit gestiegen (niedrigster Wert in Riga: 52,5 Prozent; höchster in Vidzeme: 66,2 Prozent). Auch in Latgale, der östlichen Region an der Grenze zu Russland und Belarus, hat sich die Wahlbeteiligung erhöht.
Die erhöhte Wahlbeteiligung basiert auf verschiedenen Faktoren: Zuallererst aufgrund der aktuellen geopolitischen Lage, verbunden mit einem wachsenden Vertrauen in den Staat. Zudem gab es meist gute Alternativen zwischen wenigstens zwei Parteien in jedem politischen Spektrum, verbunden mit aktiven Wahlaufrufen in allen Medien.

Überzeugende Regierungsarbeit

Trotz der vielen Herausforderungen, insbesondere der Covid- und der Ukrainekrise, ist es den Politikern und der aktuellen Regierung gelungen, die Situation größtenteils erfolgreich zu meistern. Dies hat einen großen Ausschlag für das gute Wahlergebnis für die Partei des Ministerpräsidenten, Krišjānis Kariņš, Jaunā Vienotība (zu Deutsch: „Neue Einigkeit“, EVP) gegeben. Nach dem kolossal schlechten Wahlergebnis im Jahr 2018, als man auf lediglich 6,7 Prozent der Stimmen kam und insgesamt 16 Prozentpunkte verlor, ist das diesjährige Wahlergebnis von 18,9 Prozent ein großer Erfolg und bringt die Partei zurück auf den Pfad alter Stärke. Die Regierung war die erste seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991, die eine volle Legislaturperiode durchregiert hat. Auch die Zusammenstellung der Koalition aus fünf, am Ende lediglich aus vier sehr unterschiedlichen politischen Kräften, haben das Regieren nicht vereinfacht. Doch der Ministerpräsident hat sich als echter Krisenmanager erwiesen und viel Vertrauen zurückgewonnen. Zu den bedeutendsten Erfolgen der Regierungsarbeit zählen die Gebietsreform, die Hafenreform sowie das Krisenmanagement bei der Covid-, der Ukraine- und der Energiekrise. Pro Kopf gerechnet hat Lettland die zweitgrößte militärische Hilfe an die Ukraine geleistet - nach Estland, was von einem Großteil der Wählerschaft goutiert wurde. Während der Covidkrise haben sowohl Unternehmen als auch Arbeitnehmer stabile finanzielle Unterstützung erhalten.
An zweiter Stelle ist die konservative Zaļo un zemnieku savienība („Union der Grünen und Bauern“), mit einem Zuwachs von 2,6 Punkten auf insgesamt 12,5 Prozent gelandet. Die Partei unter dem Einfluss des Oligarchen und wegen Korruption zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilten, jedoch auf Kaution wieder entlassenen, Aivars Lembergs, die in der letzten Legislaturperiode in der Opposition war, hatte zwei ihrer Mitgliedsparteien vor der Wahl verloren: die Latvijas Zaļā partija („Lettische grüne Partei“) und die regionale Partei Liepājas Partija (“Liepaja Partei”). Diese zwei Parteien sind dem neu gegründeten Parteienbündnis “Vereinte Liste” beigetreten. Die Umfragewerte beider Parteien lagen vor den Wahlen fast gleichauf. Ein Teil der traditionellen Wähler von der “Union der Grünen und Bauern” hatte wohl die großen Veränderungen wegen der Beibehaltung des Namens nicht mitbekommen. Lembergs, der selbst nicht für das Parlament kandidiert, ist jedoch von der Partei als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten ernannt worden.
Die Nacionālā apvienība (“Nationale Allianz”) ist mit 9,3 Prozent lediglich auf dem vierten Platz gelandet. Sie hat nach wie vor und einen festen Wählerkern und damit einen stabilen Platz in der lettischen Politik. Allerdings werden ihre Wähler immer älter. Hinzu kommt, dass ehemalige thematische Schwerpunkte von der aktuellen Regierung übernommen wurden. So wurde zum Beispiel während der letzten Legislaturperiode das Gesetz über den endgültigen Übergang des Unterrichts in die lettische Landessprache in den allgemeinbildenden Schulen und Kindergärten ab 2023 beschlossen. Ihre kritische Einstellung zu Russland ist seit dem Krieg in der Ukraine parteiübergreifend ausgeprägt – mit Ausnahme der Latvijas Krievu savienība (“Russische Union Lettlands”, LKS) und der neu entstandenen Partei „Für Stabilität!“.

Selbstbewusste Neuzugänge

Der größte Neuzugang mit insgesamt 10,9 Prozent und damit drittgrößte Fraktion in der Saeima, ist die Apvienotais saraksts („Vereinte Liste“). Sie ist eine bunte politische Kraft. Die Liste besteht aus der Latvijas Zaļā partija und der Liepājas Partija, die beide jahrelang mit der Union der Grünen und Bauern war, sowie der Regionen Union („Reģionu apvienība”). Gründer ist der erfolgreiche Bauunternehmer Uldis Pīlēns. Pīlēns, der selbst nicht kandidierte, aber als Kandidat für den Posten des Ministerpräsidenten zur Verfügung stand, hat eine Reihe bereits bekannter Politiker aus anderen Parteien abgeworben und sich teilweise auch mit ganzen Parteien zusammengeschlossen. Uldis Pīlēns, gilt als Garant für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung nach “westlicher Tradition”. Dies war ein wesentlicher Teil des Erfolgs des Wahlbündnisses.
Ebenfalls im Parlament vertreten ist die Partei Progresīvie (“Die Progressiven”). Das Ergebnis blieb mit 6,1 Prozent leicht unter den Erwartungen. Dennoch hat die Partei mit sozialdemokratischer und grüner Ausrichtung und einem Durchschnittsalter von 36 Jahren sehr gute Aussichten künftig aktiv in der Landespolitik mitzuwirken. Die Partei hatte erstmals 2018 an den Wahlen teilgenommen, konnte damals die 5-Prozent-Hürde allerdings nicht überschreiten. Bei den Kommunalwahlen in Riga 2020 waren die “Progressiven” recht erfolgreich und ihre Vertreter sitzen im Stadtrat. Den Progressiven ist es gelungen, mehrere populäre Persönlichkeiten und Experten für die Wahlen zu gewinnen. So zum Beispiel der langjährige Direktor des Instituts für Außenpolitik Andris Sprūds, die ehemalige Leiterin des nationalen Kartellamtes Skaidrīte Ābrama sowie u.a. den ehemaligen Verteidigungsminster und Botschafter, Imants Viesturs Lieģis.

Verlierer der Wahl

Während der letzten vier Jahre – sowie insbesondere in den letzten sechs Monaten – hat es bedeutende Verschiebungen im politischen Spektrum gegeben. So hat die sozialdemokratische Partei Saskaņa, die meist russischsprachige Wähler anspricht, seit 2010 regelmäßig auf über 25 Prozent der Stimmen kam und somit meist auf dem ersten Platz landete, einen Großteil ihrer Stimmen eingebüßt. Zur allgemeinen Überraschung verpasste sie knapp den Einzug ins Palament (4,8 Prozent). Hierfür gibt es zwei zentrale Gründe: Zum einen hat ein Teil ihrer traditionellen Wähler die Unterstützung der Fraktion bei der Verurteilung des russischen Angriffskrieges im Parlament nicht akzeptiert. Das Elektorat der Saskaņa ist seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges etwas orientierungslos. Noch folgenreicher war jedoch der Wechsel des langjährigen Parteivorsitzenden und Bürgermeisters von Riga, Nils Ušakovs, ins Europäische Parlament. Der über Parteigrenzen hinweg populäre Bürgermeister war das(!) Gesicht der Partei. Aufgrund von Korruptionsvorwürfen hat er sich jedoch aus der nationalen Politik zurückgezogen. Die radikalsten Anhänger der Saskaņa haben sich zwei anderen “russischsprachigen” Parteien angeschlossen: der Latvijas Krievu savienība (“Russischen Union Lettlands”, LKS) und der Stabilitātei! (“Für Stabilität”).
Einen starken Popularitätsverlust (minus 10,5 Prozent auf 3,1 Prozent) erlebte die Partei Konservatīvie („Die Konservativen“), die mit dem Schwerpunkt Korruptionsbekämpfung bei den letzten Wahlen den dritten Platz belegte. Ihr Absturz lag weniger an den Inhalten, als an einer nicht konsequenten Umsetzung der Versprechen sowie an der Unbeliebtheit leitender Vertreter dieser Partei bei der Bevölkerung. Auch die nicht konstruktive Regierungsarbeit und die teils starke Überheblichkeit gegenüber den anderen Koalitionspartnern haben die Popularität der Partei negativ beeinflusst. Bei den Wahlen 2018 war die Partei noch auf Platz drei und stellte drei Minister.
Die liberale Attīstībai/Par! („Entwicklung/Pro!“) mit ihrem Ministerpräsidentenkandidaten, dem Verteidigungsminister Artis Pabriks, ereilte dasselbe Schicksal wie die Konservativen. Nach vier Jahren mäßiger und teils anrüchiger Regierungsarbeit, hat sie viel Vertrauen und den anfänglichen Idealismus verloren. Mit 4,97 Prozent verpasst sie haarscharf den Einzug ins Parlament – ihr fehlten letztlich lediglich 250 Stimmen. Ihr Spitzenkandidat und ehemaliger Verteidigungsminister hat nach der Wahl seinen Rückzug aus der Politik erklärt. Ein Grund für den Absturz des Parteienbündnisses war heftige Kritik an der Gesundheitsministerin der Par!-Partei während der Covidkrise. Der verschleppte Einkauf von Impfstoffen führte schlussendlich zu ihrem Rücktritt. Auch die zweite Bündnispartei, Attīstībai, hat ihren Minister (Umwelt und regionale Entwicklung) während der Legislatur verloren. Er trat aufgrund einer überführten Lüge über die Nutzung einer fremden Dauerparkerlaubnis in Riga zurück. Ebenso steht die Partei im Verdacht dem Glücksspielgeschäft zu nahe zu stehen. Angeblich wurde der neue Entwicklungsplan der Stadt Riga, in dem eine starke Reduzierung von Casinos vorgesehen war, deswegen zurückgewiesen.

Keine große Zustimmung für populistische Parteien, aber…

Im Unterschied zu den vorigen Wahlen gelang es nur wenigen der populistischen oder Kleinparteien bedeutende Zustimmung zu erlangen. Die 5-Prozent-Hürde konnten „nur“ zwei der populistischen Parteien übertreten: die Partei des ehemaligen Oligarchen, mit dem Ruf eines „Machers“, Ainārs Šlesers, Latvija pirmajā vietā („Lettland an erster Stelle“) – gar leicht überraschend mit 6,2 Prozent. Deren Prioritäten wechselten von der Ablehnung der Covid-Impfungen zum Thema der konservativen Familie und deren gesellschaftlichen Definition. Eine Überraschung gelang auch der
Stabilitātei! (“ Für Stabilität”). Sie zog mit 6,8 Prozent stabil ins Parlament und stellt dort die fünftgrößte Fraktion. Sie hat vor allem die Stimmen der russischsprachen Bevölkerung, vor allem jenen Teil der bisherigen Saskana-Wählerschaft, die eher dem extremen Flügel der Partei zugeordnet werden konnten, übernommen. Sie hat im Osten Lettlands große Wahlerfolgte gefeiert.

Den vollständigen Länderbericht finden Sie hier als PDF.

 

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Oliver Morwinsky

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Leiter des Auslandsbüros Baltische Staaten

oliver.morwinsky@kas.de +371 673 312 64

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