Die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen im Überblick
Im Vordergrund der Koalitionsverhandlungen stand die Kürzung der finanziellen Ausgaben um der ausufernden Staatsverschuldung zu begegnen. Aus diesem Grund wurden zwei Ministerien geschaffen bzw. zusammengelegt, sodass es nunmehr 13 statt bisher 15 Ministerposten zu vergeben galt. Das Ministerium für ländliche und regionale Angelegenheiten wird aus den Ministerien für öffentliche Verwaltung und ländliche Angelegenheiten zusammengelegt, das Ministerium für IT und Wirtschaft wird an die Stelle der Ministerien für IT und Außenhandel sowie für Wirtschaft und Kommunikation treten.
Im Koalitionsvertrag sind vordergründig finanzielle Themen fixiert worden. Die Mehrwertsteuer soll ab 2024 und der Einkommensteuersatz ab 2025 um zwei Prozent steigen. Der niedrige Mehrwertsteuersatz für Hotels und Beherbergungsstätten wird ab 2025 abgeschafft und die Verbrauchssteuern auf Tabak und Alkohol sollen nach lettischem Vorbild um jährlich fünf Prozent steigen. Geplant ist auch ein maximales Haushaltsdefizit von drei Prozent für das Jahr 2024. Die Koalitionsregierung plant zudem im Rahmen einer ökologischen Reform ab 2024 eine KfZ-Steuer einzuführen, die in Abhängigkeit des Emissionsausstoßes des jeweiligen Fahrzeugs berechnet werden soll.
„Koalition der Lügner“ - Finanzfrage polarisiert
Im Rahmen der Koalitionsverhandlungen wurden Themen wie das Wahlrecht für russische Bürger bei Kommunalwahlen, der verpflichtende Bildungserwerb bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs oder bis zur Erlangung des Berufsabschlusses und die Einrichtung eines Campus für die Verteidigungsindustrie diskutiert.
Das schwierigste Thema war jedoch die Diskussion der Finanzfrage. Diese gipfelte darin, dass bis zum 5. April immer noch keine Einigung zwischen den Parteien erreicht wurde. Das Thema blieb jedoch nicht nur in den Koalitionsverhandlungen umstritten, auch in der Bevölkerung wurden Vorschläge heftig kritisiert und in den Medien war von einer „Koalition der Lügner“ die Rede. Auch wenn Steuererhöhungen bereit seit einiger Zeit absehbar waren, störten sich viele daran, dass das Thema im Wahlkampf ausgeklammert wurde. Nur die SDE forderte im Wahlkampf einzelne Steuererhöhungen (u.a. gestaffelte Einkommenssteuer und zusätzliche nationale Verteidigungssteuer für fünf Jahre). Konkret wurden in den Koalitionsverhandlungen schlussendlich die Aufnahme von Krediten, die Erhöhung der Schuldenlast des Staates, Kürzungen, Ausgabenstopps und Steuererhöhungen beschlossen.
Regierungsbildung
Auf den Rücktritt der Regierungskoalition Reformpartei-Isamaa-SDE wird wenige Tage nach der Parlamentseröffnung die neue Regierungskoalition Reformpartei-Estland 200-SDE folgen. Die Reformpartei wird 37 Abgeordnete stellen, die rechtskonservative EKRE 17, die Zentrumspartei 16, Estland 200 14, die Sozialdemokratische Partei (SDE) 9 und Isamaa 8. Die 13 Ministerien werden zwischen Reformpartei (7 Ministerien), Estland 200 (3 Ministerien) und SDE (3 Ministerien) aufgeteilt. Dabei werden 7 Minister aus der vorherigen Regierung ein Ministeramt begleiten. Fünf Ministerien werden von Frauen geführt, acht von Männern.
Returnees
Neun Ministerien werden Personen leiten, die in der letzten oder einer früheren Regierung bereits ein Ministeramt innehatten. Kaja Kallas (Reformpartei) wird ihre dritte Amtszeit als Ministerpräsidentin bestreiten (2021-2022 Kallas I, 2022-2023 Kallas II). Hanno Pevkur (Reformpartei) wird weiterhin das Amt des Verteidigungsministers besetzen. Diese Position wurde im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Sicherheitslage, dem russischen Angriff auf die Ukraine, am meisten hinterfragt. Kalle Laanet (Reformpartei) wird Justizminister. Vor Hanno Pevkur war er bereits Verteidigungsminister und bringt entsprechende außen- und sicherheitspolitische Erfahrungen mit. Zudem war er als Mitglied der Zentrumspartei von 2005 bis 2007 Innenminister in der Regierung Andrus Ansip I. Sige Riisalo (Reformpartei) behält das Amt der Sozialministerin, das sie seit 2021 innehat. Kristen Michal (Reformpartei) wird das Klimaministerium (ehemals Umweltministerium) leiten. Er war von 2015 bis 2016 Wirtschaftsminister. Lauri Läänemets (SDE) bleibt weiterhin Innenminister. Riina Sikkut (SDE) war in der letzten Regierung Ministerin für Wirtschaft und Kommunikation. Sie wird das Gesundheitsministerium übernehmen, welches sie bereits 2018 bis 2019 geleitet hatte. Madis Kallas (SDE), der in der letzten Regierung Umweltminister war, wird Minister für regionale und ländliche Angelegenheiten. Margus Tsahkna (Estland 200) wird Außenminister. Er hat als Mitglied von Pro Patria/Isamaa von 2016 bis 2017 bereits das Verteidigungsministerium geleitet.
Newcomer
Vier der 13 Ministerämter werden in der Regierung Kallas III von Newcomern besetzt. Mart Võrklaev (Reformpartei) war bereits im letzten Riigikogu Abgeordneter und wird in dieser Regierung dem Finanzministerium vorstehen. Heidy Purga (Reformpartei), Fernseh- und Radiomoderation und ehemaliges Aufsichtsratsmitglied des estnischen öffentlichen Rundfunks ERR, wird als Kulturministerin ebenfalls zum ersten Mal in einer Regierung vertreten sein. Die Mitbegründer von Estland 200, Kristiina Kallas wird Ministerin für Bildung und Forschung. Tiit Riisalo (Estland 200), ehemaliger Generalsekretär von Pro Patria/Isamaa und von 2016 bis 2021 Büroleiter der früheren estnischen Präsidentin Kersi Kaljulid, wird Minister für IT und Wirtschaft.
Fazit
Die Besetzung der Ministerämter zeichnete sich bereits im vornherein ab. Für die Regierung Kallas III wurden die gewichtigen Ministerien zwischen Reformpartei (Verteidigungsministerium, Justizministerium, Finanzministerium), Estland 200 (Außenministerium) und SDE (Innenministerium) proportional aufgeteilt. Weitaus spannungsreicher waren Themen, die im Vorfeld der Regierungsbildung diskutiert wurden. So bestimmte das Thema Finanzen nicht nur die Koalitionsverhandlungen, es bleibt auch nach der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags präsent. In der Bevölkerung ist die Unzufriedenheit mit dem Vorgehen der Regierungskoalition zu spüren, die die Steuerfrage im Wahlkampf ausklammerte. Während in den Zeitungen bereits von einer „Koalition der Lügner“ gesprochen wird, bleibt abzuwarten welche langfristigen Folgen die Vereinbarungen zwischen Reformpartei, Estland 200 und den Sozialdemokraten für die Bevölkerung haben werden. Ebenso bleibt abzuwarten, wie sich die Opposition und deren Arbeit verhalten bzw. entwickeln wird. Die Zweit- und Drittplatzierten der letzten Parlamentswahl (EKRE und Zentrumspartei), sitzen zusammen mit der Isaama (schwächste Partei im Parlament) in der Opposition. Eine Zusammenarbeit der drei Parteien gilt als sehr schwierig, womit eine starke Oppositionsrolle nicht erwartet wird. Das schwächt langfristig das Parlament, kann die Regierung mit ihrer Regierungsmehrheit im Parlament Gesetze auch ohne die Opposition durchbringen.
Obere Reihe von links: Innenminister Lauri Läänemets (SDE), Justizminister Kalle Laanet (RE), Minister für Sozialschutz Sige Riisalo (RE), Klimaminister Kristen Michal (RE), Finanzminister Mart Võrklaev (RE), Verteidigungsminister Hanno Pevkur (RE), Außenminister Margus Tsahkna (EE200), Minister für regionale und ländliche Angelegenheiten Madis Kallas (SDE).