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Die Freiheit mutig erstritten
Esten, Letten und Litauen gingen in der „Singenden Revolution“ um das Jahr 1990 mutig für ihre Unabhängigkeit aus den Fesseln des Sowjetischen Imperiums auf die Straße. Unvergessen ist in diesen Ländern die baltische Menschenkette, die am 23. August 1989, dem Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes, über 2 Millionen Menschen zu einer großen Freiheitsbewegung verbunden hatte.
Damals erkämpften sich die Bürger die Unabhängigkeit ihrer Republiken neu und suchten den Anschluss an die Demokratien Westeuropas. Und sie erreichten ihr Ziel, teilweise gegen den Widerstand aus Moskau wie auch gegen einige Bedenkenträger aus dem Westen, die die baltischen Länder in der Sowjetzeit vergessen hatten oder glaubten, auf russische Befindlichkeiten Rücksicht nehmen zu müssen. Heute sind alle drei Länder als anerkannte demokratische Staaten mit funktionierenden marktwirtschaftlichen Ordnungen Teil der Europäischen Union und der NATO.
Die konsequente Abkehr vom Sowjetsystem
Der Umbau der Staats- und Gesellschaftsordnung und des Wirtschaftssystems von einem Teil der zentralistisch- planwirtschaftlichen Sowjetunion zur unabhängigen und rechtsstaatlichen Demokratie ist am konsequentesten in dem kleinsten der drei baltischen Länder, in Estland, vorangetrieben worden. Die Folge ist, dass Estland im Vergleich zu den anderen beiden baltischen Ländern die besten Wirtschaftsdaten aufzuweisen hat. Zwar ist das Baltikum seit mehreren Jahren insgesamt eine der am schnellsten wachsenden Wirtschaftsregionen Europas geworden- mit jährlichen Zuwächsen beim Bruttosozialprodukt zwischen 5- 7 %. Innerhalb der drei Länder steht Estland dabei aber an der Spitze mit den größten Direktinvestitionen aus dem Ausland, den vergleichsweise höchsten Monatsbruttolöhnen und einem Vorsprung in der Nutzung moderner Technologien. Auch für dieses Jahr wird von den wissenschaftlichen Instituten wieder ein Wachstum von mehr als 6 % vorausgesagt. Ein wichtiger Grund für die Spitzenstellung liegt in dem günstigen Investitionsklima und dem einfachen und klaren Steuersystem mit einem vergleichsweise niedrigen Steuersatz von zurzeit 26 % für alle Einkommensarten.
Estlands Kommunalordnung
Estland ist recht dünn besiedelt. Insgesamt leben in diesem Land ca. 1.4 Millionen Menschen auf einer Fläche von 45.000 qkm, was einer Bevölkerungsdichte von ca. 32 Personen pro qkm entspricht (im Vergleich dazu: in den Niederlanden leben mehr als 380 Personen pro qkm).
Das Land ist in 15 Bezirke (counties) eingeteilt. Diese repräsentieren die administrative Ebene des Staates auf lokaler Ebene und werden jeweils von einem „Gouverneur“ geleitet, der auf fünf Jahre bestellt, die Interessen des Staates auf Bezirkebene vertritt und für eine ausgewogene Entwicklung der Wirtschaft, Umwelt u.s.w in dem jeweiligen Bezirk Sorge zu tragen hat.
Unterhalb der Bezirksebene gibt es insgesamt 241 Städte und Gemeinden. Davon sind 32 Kommunen Städte mit mehr als 10.000 Einwohnern. Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt in der Hauptstadt Tallinn (ca. 400.000 Einwohner). Neben der Hauptstadt sind die nächst größten Städte die Universitätsstadt Tartu (ca. 100.000 Einwohner), die an der russischen Grenze gelegene Industriestadt Narwa (ca. 75.000 Einwohner) und die an der Ostsee gelegene „Sommerhauptstadt“ Estlands Pärnu (ca. 50.000 Einwohner).
Über 200 Gebietskörperschaften sind kleinere ländliche Gemeinden. Die kleinste ist eine der dem Festland vorgelagerten Inseln mit nur 64 Einwohnern.
In einer Studie des estnischen Innenministeriums wird die Vielzahl der kleinen Gemeinden, die häufig nicht über genügend ausgebildetes Fachpersonal und entsprechende administrative Kapazitäten verfügen, als eine Problem angesehen, für das eine Lösung gefunden werden soll. Ein Gesetz, dass den freiwilligen Zusammenschluss kleiner Gemeinden befördern und damit zu besser funktionierenden Verwaltungseinheiten führen soll, wurde mittlerweile auf den Weg gebracht.
Im Abstand von drei Jahren finden Wahlen zu den Stadt- und Gemeinderäten statt. Die Räte wählen die Gemeindevorsteher oder die städtischen Bürgermeister. Darüber hinaus verabschieden die Räte die Haushalte, legen die lokalen Steuern fest, kontrollieren und bestätigen die kommunalen Entwicklungspläne u.s.w.
Die Gemeindevorsteher oder Bürgermeister bilden die kommunalen „Regierungen“. Ihre wichtigsten Aufgaben lassen sich am besten an den Haushaltszahlen ablesen. So gaben die Städte und Gemeinden 2003 ihre Budgets für folgende Leistungen aus:
Bildungsbereich:40%
Investitionen: 16%
Wirtschaftstätigkeit:16%
Kultur und Sport:10%
Soziale Leistungen: 9%
Allgemeine Verwaltung: 8%
Demnach gehört der Unterhalt von Bildungseinrichtungen- vom Kindergarten bis zur höhern Schule- zu den finanziell wichtigsten gemeindlichen Aufgaben, gefolgt von Investitionen und Wirtschaftstätigkeit (zusammen 32 %).
Die Einnahmen werden zum größten Teil durch Anteile der Einkommensteuer (ca. 40 %) sowie einer weiteren Zahl lokaler Steuern und Ausgleichszahlungen erzielt. In der erwähnten Studie des Innenministeriums wird ein Problem der Kommunen Estlands angesprochen, dass auch in Deutschland sehr wohl bekannt ist: den Städten und Gemeinden werden durch nationale Gesetze Aufgaben übertragen, für die sie keine ausreichende finanzielle Deckung haben und die sie deswegen nur mangelhaft erfüllen können. Die Sicherung einer langfristigen finanziellen Ausstattung der Städte und Gemeinden gilt folglich als eine wichtige Herausforderung für die zukünftige Politik. Da im kommenden Jahr in Estland Kommunalwahlen anstehen, werden die Politiker sicherlich dieser Frage starke Aufmerksamkeit schenken.
Ein langer Weg steht noch bevor
Wer heute – wenige Wochen nach dem Beitritt des Landes zur Europäischen Union- durch Estland fährt, wird Widersprüchliches entdecken: auf der einen Seite zeugen moderne Bürohochhäuser, Einkaufszentren, Altstadtsanierungen und privater Wohnungsbau von wirtschaftlicher Dynamik und Aufbruchstimmung. Der Autoverkehr unterscheidet sich nur noch unwesentlich von dem in den westlichen Ländern Europas. Mercedes, BMW und Audi sind neben japanischen Geländewagen besonders beliebt. Das Warenangebot in den großen Einkaufszentren lässt keine Wünsche offen. Wer sich aber aus den Innenstädten heraus bewegt, trifft auf herunter gekommene Plattenbausiedlungen sowjetischen Typs, holprige Landstraßen, zerfallende Wohnhäuser, große Industriebrachen und von grauen Betonmauern umgebene verlassene Militärkomplexe. Das sind die äußeren Hinterlassenschaften der fast 50. jährigen Sowjetzeit. Vielfach nicht sichtbar sind die Folgen einer rücksichtslosen Ausbeutung der Naturressourcen mit verheerenden Umweltzerstörungen. Sie reichen von verseuchten Seen und Flüssen bis zu gefährlichen Nuklearabfällen an der Nordküste Estlands, die nur notdürftig gesichert werden konnten.
So wird es noch viele Jahre dauern, bis die Städte und Gemeinden in ihrer Infrastruktur und in der Lebensqualität das mittlere Niveau der EU- 15 Staaten erreicht haben werden. Aber die Innovationsfreude und die wirtschaftlichen Erfolge geben den Esten schon heute das Recht auf Bürgerstolz und Selbstbewusstsein. Das kleine nordöstliche Land Europas ist auf dem Weg zu einer modernen Demokratie mit blühenden Städten und Gemeinden.