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Länderberichte

Guatemala vor schwierigen Zeiten

von Prof. Dr. Stefan Jost

Etwas Licht im Tunnel - aber mehr als ein Damoklesschwert

Guatemala befindet sich in einer komplexen Hängepartie, die die Regierbarkeit des Landes gefährden könnte. 18 Monate nach Amtsantritt der Regierung des Sozialdemokraten Bernardo Arévalo (Semilla) sehen Beobachter nach zuletzt zunehmend kritischen und zukunftsskeptischen Einschätzungen etwas Licht im Tunnel. Der Regierung bleibt nur wenig Zeit, um zu überzeugen. Ansonsten droht eine institutionelle Hängepartie oder gar ein Unregierbarkeits-Szenario, die den Weg für eine autokratische Lösung in den Wahlen 2027 bereiten könnten.

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Überraschender Wahlsieg - schwierige Regierungsübernahme

18 Monate ist die Regierung Arévalo nun im Amt. Für eine realistische und faire Beurteilung dieser knapp ersten Hälfte ihrer Amtszeit muss man sich die Ausgangsbedingungen in Erinnerung rufen.

Am „Pakt der Korrupten“ in der Regierungszeit des konservativen Präsidenten Alejandro Giammatteis (2019-2023) war ein Großteil der Parteien beteiligt. Staatliche Institutionen waren weitgehend gleichgeschaltet bzw., wie die Generalstaatsanwaltschaft, mit einem unkontrollierten Handlungsspielraum versehen, der die Grundfeste demokratischer Gewaltenteilung erodiert.

Die Wahlen 2023 wurden als sauber qualifiziert, was von dem Vorwahlprozess, d.h. wer auf welchen Ebenen von der Teilnahme ausgeschlossen wurde, nur eingeschränkt behauptet werden kann. Es gewann Bernardo Arévalo von der kleinen sozialdemokratischen Partei SEMILLA, den niemand als potenziellen Wahlsieger auf dem Schirm hatte, sonst wäre vermutlich seine Kandidatur verhindert worden. Folgerichtig wurde buchstäblich bis zur letzten Minute, vor allem angeführt von seiner erklärten Gegnerin, der Generalstaatsanwältin Consuelo Porras, Arévalos Regierungsübernahme zu verhindern versucht. Es dürfte allein der deutlichen und breiten internationalen, aber auch einer sich steigernden zivilgesellschaftlichen Unterstützung zu verdanken sein, dass Arévalo im Januar 2024 sein Amt antreten konnte. Hervorzuheben ist dabei, dass es vor allem indigene Gruppierungen waren, die sich massiv auf der Straße für Arévalo einsetzten, bevor auch die „weiße“ Bevölkerung und viele junge Menschen sich manifestierten. Zu beachten ist jedoch, dass es sich dabei in erster Linie um die Unterstützung des demokratischen Systems, und nicht vorrangig Arévalos selbst handelte.

Von Beginn an waren einige der potenziellen Defizite und Schwachpunkte der Regierung Arévalo erkennbar. Hierzu zählen zum einen, dass seine Partei bei weitem nicht die größte Fraktion stellen und es sich überwiegend um jüngere und politisch unerfahrene Abgeordnete handeln würde. Vor allem aber war klar, dass er über keinen ausreichenden parlamentarischen Rückhalt verfügen, d.h., die Regierbarkeit Guatemalas in hohem Maße von seiner Fähigkeit zu Verhandlungen und Kompromissbildung abhängen würde. Als Belastung wurde zudem eingeschätzt, dass seine Partei nicht über hin-reichende Führungskader verfügt, um die entscheidenden Positionen in der Regierung besetzen zu können. Dass darüber hinaus das bestehende Machtgefüge in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht Arévalo-freundlich gestimmt sein würde, war auch kein Geheimnis.

 

Aktuelle Situation

Nach knapp eineinhalb Jahren der Regierung Arévalo ist festzustellen, dass die zu Beginn seiner Amtszeit erfolgte Defizitanalyse nicht nur zutraf, sondern inzwischen in wichtigen Punkten sogar noch negativ übertroffen wird.

Waren große Teile der Justiz unter der Regierung Giammattei ein Instrument dieser Regierung, so haben sich zentrale Teile davon nach dem Regierungswechsel verselbständigt und arbeiten offen gegen die Regierung. Da Arévalo nicht den Machtkampf gesucht hat, ist die Justiz weiterhin ein Instrument der politischen Verfolgung auch gegenüber der Regierung und der Arévalo-Partei SEMILLA selbst.

SEMILLA ist nach wie vor suspendiert, sodass sie im Kongress keine eigenständige Fraktion bilden kann. Ihre Abgeordneten fungieren als „Unabhängige“, ohne das Recht, im Präsidium oder in führenden Funktionen der Ausschüsse mitzuarbeiten. Darüber hinaus ist SEMILLA inzwischen in zwei Flügel zerstritten, deren radikalerer Teil sich im Mai 2025 abgespalten hat und eine eigene Parteigründung anstrebt („Raíces“ – dt. „Wurzeln“).

Arévalo wird nicht als Führungspersönlichkeit wahrgenommen. Die Regierung hat ein massives Kommunikationsdefizit. Sie verfügt über eine nur begrenzte Konfliktfähigkeit zur Durchsetzung ihrer eigenen Ziele, bevorzugt es vielmehr, beim ersten Anzeichen von Widerstand gegen ihre Politikvorschläge diese zurückzuziehen. Dies führt auch zur Frage, ob innerhalb der Regierung ein entsprechend ausgestaltetes Frühwarn-system besteht, oder ob der Präsident aufgrund seiner ihn umgebenden Beratungsstrukturen Alarmzeichen schlichtweg nicht zur Kenntnis nimmt.

Arévalo und SEMILLA, eine im Kern urbane Partei, verfügen über keine natürlichen, über Jahre gewachsenen Allianzen. Ihr Outsider-Etikett dominiert. Auch nach der Regierungsübernahme gab es keine Bemühungen, wie auch immer geartete Allianzen zu schmieden. Insbesondere bei den indigenen Bevölkerungsgruppen herrscht eine große Enttäuschung über die Regierung vor, da nach deren Wahrnehmung keinerlei ernsthafte Versuche unternommen wurden, in einen auf die Erarbeitung eines gemeinsamen „Projektes Guatemala“ abzielenden Dialog einzutreten.

Die tief verwurzelte Korruption ist eine der zentralen Herausforderungen Guatemalas. Patentrezepte gibt es keine. Erschwerend kommt hinzu, dass die CICIG, die 2007 mittels eines Abkommens zwischen der UN und Guatemala eingerichtete „Internationale Kommission zur Bekämpfung der Straflosigkeit“, zu einer bis heute anhaltenden und spürbaren Polarisierung innerhalb der guatemaltekischen Gesellschaft geführt hat. Dies macht zum einen auch sechs Jahre nach deren Auflösung Dialog, Verständigung und im Ergebnis Korruptionsbekämpfung schwer. Zum anderen rührt auch aus diesen Erfahrungen die Abwehr „internationaler Einmischung“, deren Definition sehr umfassend verstanden wird.

 

Nationaler Dialog – wer mit wem?

Weitgehend Konsens besteht auf den ersten Blick über die Notwendigkeit eines Nationalen Dialogs aller relevanten und antagonistischen Akteure. Das war es dann aber auch schon. Wer sind die Akteure, wer sollte an den Tisch und vor allem: Wer sollte in welcher Form die Initiative ergreifen? Der Präsident im privaten, vertraulichen Rahmen, der Kongress in einem öffentlichen Format?

Sehr viele gehen davon aus, dass Arévalo, obwohl beruflich aus dem diplomatisch-mediativen Bereich kommend, dieses Zepter nicht in die Hand nehmen wird. Der guatemaltekische Kongress wiederum ist in hohem Maße fragmentiert. Es bestehen aktuell 30 Untergruppen, die größte ist die Gruppe der unabhängigen Abgeordneten. Der Kongress, der sich seit Monaten überwiegend als handlungsunfähig darstellt, ist aktuell eher ein Regierbarkeitsrisiko, denn ein problemüber-windender Akteur.

Damit wird ein Szenario einer institutionellen Hängepartie immer wahrscheinlicher, in dem die limitierte Exekutivkapazität der Regierung zu einer wachsenden Unzufriedenheit und Politikverdrossenheit führt, ein in Ansätzen dysfunktionales Regierungssystem weiter ausfranst und sich die parteipolitische Landschaft noch stärker fragmentiert. Aktuell rechnet man für die Wahlen 2027 mit etwa 40 Parteien. Bei den Wahlen 2023 waren es 24, davon 22 mit eigenen Präsidentschaftskandidaten.

 

Die Regierung Arévalo in der öffentlichen Wahrnehmung

Das strategische Beratungs-Institut „diestra“ führt vierteljährliche Untersuchungen durch. Dabei handelt es sich nicht um repräsentative Umfragen, sondern um Einschätzungen von Meinungsführern aus verschiedenen Bereichen. So begrenzt daher der Aussagewert auch sein mag, so interessant ist die Entwicklung.

Die nachfolgenden Ausführungen beruhen vor allem auf den Studien vom 21. April und 21. Juli 2025. Die Ausgangsfrage lautete, ob das Land in die richtige Richtung gehe. Gab es im April 2024 noch kein „Nein“, so liegt dieses inzwischen bei 18 Prozent bzw. 20 Prozent (Zahlen jeweils vom Juli und April 2025). 30 Prozent bzw. 18 Prozent sagen „Ja, aber man könne es besser machen“, während 48 Prozent bzw. 58 Prozent meinen „Nein, aber es könnte schlimmer sein“.

Es ist diese Mischung aus Unzufriedenheit und der historisch-erfahrungsgesättigten Einschätzung, es könnte auch schlimmer sein, von der die Regierung Arévalo nach wie vor profitiert. Die Halbwertszeit dieser „Noch-Geduld“ befindet sich aber in einem sich beschleunigenden Verfallsprozess.

Die Stärken der Regierung Arévalo werden vor allem in der Außenpolitik gesehen. Das eindeutige Bekenntnis zur Demokratie, der Ansatz, erkennbar ohne Korruption zu regieren und der Versuch, die Umsetzungsfähigkeit in den Ministerien zu stärken und die Kommunikation zu verbessern werden positiv bewertet.

Der Vergleich zwischen April und Juli 2025 zeigt eine leichte Verbesserung, „diestra“ spricht von einer „Verschnaufpause“ für die Regierung. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass einige Erfolge der Regierung langsam sichtbar werden. Vor allem im sozialen Bereich hat sie einiges aufzuweisen. Seien es die renovierten Schulen, 3.700 neue Lehrerstellen, neu errichtete Gesundheitsstationen oder die Ausweitung bestehender Sozialprogramme.

Die Regierung hat jedoch eingestandenermaßen ein Kommunikationsdefizit, sodass auch diese messbaren Erfolge noch keine Breitenwirkung entfalten.

Das Aufgreifen großer Infrastrukturprojekte wie bspw. des Ausbaus des Pazifikhafens Puerto Quetzal, wesentlich für eine langfristige Verbesserung guatemaltekischer Wachstums- und Wettbewerbschancen, und die hierfür vereinbarte Kooperation mit den USA im Kontext der Verhandlungen zur Migrationsproblematik oder das nach jahrzehntelanger Debatte beschlossene Wettbewerbsgesetz werden positiv aufgenommen. Zudem kristallisieren sich langsam einige Führungspersönlichkeiten im Kabinett heraus und die Regierung zeigt Ansätze, nicht jedem Druck nachzugeben.

Trotz dieses „kleinen Lichtblicks am Ende des Tunnels“ überwiegen Kritik und Skepsis. Die diagnostizierten Schwächen sind von erheblichem Kaliber. Vier zentrale Aspekte werden genannt:

  • Das Fehlen politisch und verwaltungserfahrener Kräfte, was die Umsetzungsfähigkeit der Regierungspolitik limitiert;
  • Mehr Diskurs als Handeln, Regierung zu ineffektiv bei der Politikimplementierung;
  • Schlechtes Krisenmanagement, strategische Irrtümer, konfuses oder widersprüchliches Verhalten;
  • Keine „politische Führung“: Der Staatspräsident wird als abwesend oder schwach wahrgenommen, ohne klare Führungsqualität oder Kontrolle über die Regierung, die Folge sind Desorientierung und permanenter Krisenmodus der Regierung.

Das alles ist schon starker Tobak. Als Krönung wird aber in der April-Studie nun erstmals der Regierung „Naivität“ (ingenuida“) mit einem Touch von „Infantilität“ und „Irrealismus“ als zentrales Problem bei der Realitätsanalyse des Landes attestiert. Die Juli-Studie fügt hinzu, es fehle an einer „kohärenten Vision für das Land“. Der Regierung fehle es an einem Narrativ, mittels dessen sie „eine emotionale Beziehung zu dem normalen Bürger aufbauen“ könne. Dies mache mit Blick auf die traditionellen Akteure des Landes verwundbar.

Vor diesem Hintergrund ist auch die persönliche, sich im Kern nicht verbessernde Bewertung Arévalos nicht verwunderlich: 35 Prozent bzw. 29 Prozent (Zahlen jeweils vom Juli und April 2025) bewerten seine Amtsführung als „schlecht“, 20 Prozent bzw. 23 Prozent als „äußerst schlecht“. Im Oktober 2024 betrugen die Vergleichszahlen 22 Prozent und 5 Prozent. Als „durchschnittlich“ bewerteten seine Amtsführung im April 47 Prozent, (37 Prozent im Juli), und das „Gut“ hat eine steigende Tendenz, 8 Prozent im Vergleich zu 2 Prozent im April.

Einer der Erklärungsansätze dürfte im Charakter Arévalos liegen. So wenig er zu Beginn seiner Amtszeit den Machtkampf mit der Generalstaats-anwältin gesucht hat, so wenig konfliktbereit hat er sich in anderen Feldern gezeigt. Beobachter führen dies zum einen auf seine strikt legalistisch-demokratische Überzeugung zurück, aber auch auf das zentrale Motiv, seine Amtszeit zu Ende bringen zu wollen, ohne vorher wie auch immer aus dem Amt entfernt zu werden. Dass er deshalb eine übergroße Vorsicht an den Tag legt, wird als Begrenzung seiner Exekutivkraft wahrgenommen.

Die Bewertung seiner Vize-Präsidentin Karin Herrera fällt sogar noch deutlich negativer aus. Dass beide kein harmonisches Verhältnis an den Tag legen, tut sein Übriges.

 

Nicht nur ein Damoklesschwert – Die Herausforderungen der Zukunft

Über den kommenden knapp zweieinhalb Jahren schwebt nicht nur ein Damoklesschwert. Drei der zentralen Bereiche sollen genannt werden.

Der Machtkampf zwischen Teilen der Justiz und der Regierung Arévalo geht weiter. Mit Überraschungen ist täglich zu rechnen. Dabei geht es diesen Teilen der Justiz nicht nur um die Verfolgung hoher Amts- oder Mandatsträger. Es geht auch um Einschüchterung der Zivilgesellschaft, indem z.B. Mitglieder von Stimmzählkommissionen oder der Auswahl-kommissionen für die Wahlen zur Anwalts-kammer mit Strafprozessen überzogen werden.

Mit Blick auf die 2026 anstehenden Neubesetzungen wichtiger Institutionen sind weitgehend nicht-öffentliche Debatten und Planspiele im Gange, wie diese Besetzungsprozesse gestaltet werden könnten. Dabei geht es auch darum, ob “Verschiebebahnhöfe“ eingebaut werden sollten, sprich, ob man die Generalstaatsanwältin ins Verfassungsgericht oder einer ihrer verbündeten Richter in den Obersten Wahlgerichtshof TSE wählen sollte. Die Einschätzungen der Auswirkungen solcher Rochaden sind unterschiedlich. Während einige meinen, dass damit der institutionelle Kriegszustand beendet werden könnte, dürfte die Mehrheit der Beobachter der Auffassung sein, dass sich angesichts der handelnden Personen damit nur die Kriegsschauplätze verschöben.

Offen ist die Frage, ob und in welchem Umfang die Regierbarkeit Guatemalas gewährleistet werden kann. Damit ist nicht nur gemeint, eine wie auch immer geartete Entfernung Arévalos aus dem Amt zu verhindern, sondern vor allem, ob die Regierung eine politische Gestaltungsmacht entwickeln kann, um den trotz manch sichtbarere Erfolge wachsenden Unmut der Bevölkerung über die beklagte Inaktivität der Regierung zumindest eindämmen zu können und nicht zu einer Gefahr für die politische Stabilität werden zu lassen.

Von der Regierung kaum zu beeinflussen ist die Migrationsproblematik. Der Migrationsdruck in Guatemala ist nach wie vor enorm hoch, das Land bietet kaum Entwicklungsperspektiven für seine Bevölkerung. Selbst Bildung als Aufstiegsversprechen stößt in einer sozial wenig durchlässigen Gesellschaft zunehmend an frustrierende Grenzen. Der Rückzug des USAID aus vielen Programmen mit kurz- und langfristigen Folgen tut ein Übriges und ist durch andere Geber, die sich teilweise ja ebenfalls zurückziehen oder reduzieren, nicht aufzufangen. Hier kommen mehrere Faktoren zusammen. Völlig offen ist das weitere Vorgehen der Trump-Regierung. Guatemala hat in Verhandlungen zugestimmt, die Rückkehrflüge um 40 Prozent zu steigern. Interessanterweise ist das bislang seitens der US-Regierung noch nicht umgesetzt worden, bezogen auf März 2025 ist sogar ein Rückgang der Deportationen im Vergleich zum Vorjahresmonat festzustellen. Sollte das Verhandlungsergebnis jedoch in die Tat umgesetzt werden, kommt auf Guatemala eine besondere Belastung zu. Der einheimische Arbeitsmarkt wäre mit den zusätzlichen Menschen noch stärker überfordert, negative Auswirkungen auf die Sicherheitslage die Folge.

Gleichzeitig ist Guatemala in einem hohen Maße wirtschaftlich abhängig von den remesas, d.h. den Auslandsüberweisungen der Guatemalteken in die Heimat. Diese betragen über 20 Mrd. US-Dollar pro Jahr und machen gute 20 Prozent des BIP Guatemalas aus. Das ist höher als das Steueraufkommen des Landes. Dieser Betrag wird sich zukünftig allein schon deshalb verringern, da die USA eine 1-prozentige Steuer auf diese Überweisungen beschlossen haben.

Zusammengefasst: Sollte sich ein komplexes Negativ-Szenario herausbilden (massive Steigerung von Deportationen aus den USA, damit Wegfall von „remesas“, Reduzierung der „remesas“ aufgrund der neuen Steuer, Belastung des heimischen Arbeitsmarktes), dann bedarf es wenig Fantasie, um sich die Konsequenzen in den Bereichen sozialer und wirtschaftlicher Stabilität sowie der Sicherheitslage auszumalen. Ein idealer Nährboden für die Organisierte Kriminalität, die auch jetzt schon nicht geringen Einfluss in Guatemala hat.

Mit Blick auf die komplexe Problemlage Guatemalas stellt sich die Frage, warum angesichts einer erheblichen Dysfunktionalität des politischen Systems kein stärkerer politischer Druck besteht oder entwickelt werden kann, um strukturelle Veränderungen anzustoßen. Ein durchaus überzeugender Erklärungsansatz lautet: Wegen der anhaltenden makroökonomischen Stabilität. Die Eliten, die Guatemala vielfach als rentablen Produktionsstandort wahrnehmen, aber aufgrund der sozio-ökonomischen und der Sicherheitslage ihren Lebensmittelpunkt außerhalb des Landes haben, haben keinen Anlass, über Veränderungen nachzudenken. Diese Stabilität, internationale Hilfen und die remesas federn gleichzeitig so viele der sozio-ökonomischen Probleme ab, dass trotz hoher Armutsindikatoren in einigen Regionen kein politischer Veränderungsdruck von unten aufgebaut werden kann.

Als wenn das alles nicht hinreichend Anlass gäbe, die politische Aufmerksamkeit auf die Lösung dieser Probleme zu fokussieren, ist mit Blick auf 2026 anstehende Entscheidungen festzustellen, dass sich das strategische Moment der Hauptakteure auf andere Schauplätze verlagert.

In Guatemala hat die Justitialisierung der Wahlprozesse ein geradezu kafkaeskes Ausmaß angenommen. Der Regelungs- und Zuständigkeitsdschungel mag noch halbwegs beherrschbar sein, wäre die Justiz wiederum nicht in hohem Maße politisiert.

In dieser komplexen Gemengelage haben sich vier Akteure herauskristallisiert deren (Zusammen-) Wirken konstitutiv für die Qualität und die Akzeptanz des Wahlprozesses ist: Der Oberste Wahlgerichtshof TSE, das Verfassungs-gericht, die Controlaría General (Bundesrechnungshof) und die Generalstaatsanwaltschaft. Jede dieser Institutionen spielt eine gewichtige, gesetzlich normierte oder ausufernd wahrgenommene Rolle in allen Phasen und Stationen des Wahlprozesses. Allein, um es an einem Beispiel zu verdeutlichen, der Contralor General hat es in der Hand, durch die Verweigerung des „finiquito“, d.h. der Entlastung eines Kandidaten für seine früheren Amtsführungen, diesen von allen weiteren Kandidaturen auszuschließen.

Entscheidend für die Entwicklung Guatemalas vor allem mit Blick auf die 2027 stattfindenden Wahlen sind die zwischen März und Oktober 2026 erfolgenden Neubesetzungen dieser vier Institutionen, eine zeitliche Koinzidenz, wie es sie erst wieder in 60 Jahren geben wird. Die Wahlen 2027 werden daher wesentlich davon abhängen, wie diese vier zentralen Institutionen besetzt werden, welche der Kräfte sich ganz oder teils durchsetzen und wie sich das Kräfteparallelogramm zwischen diesen vier austariert oder zugunsten einer Seite ausfällt.

Je politisch stärker Arévalo in das Jahr 2026 geht, desto größer werden seine Chancen eingeschätzt, strategischen Einfluss auf diese Neubesetzungen zu nehmen.

 

Bei demokratischen „Lieferschwierigkeiten“ – ein starker Mann für Guatemala?

Es gibt wohl kaum eine Regierung der letzten Jahrzehnte, die mit derart viel Erwartungen, Hoffnungen und damit auch einem entsprechenden Druck in die Verantwortung gekommen ist. Das Verhältnis zwischen Erwartungen und Wirklichkeit klafft jedoch nach wie vor signifikant auseinander, was die Regierbarkeit des Landes in den kommenden zweieinhalb Jahren einer großen Belastungsprobe aussetzen dürfte.

Guatemala wäre nicht Guatemala, wenn sich nicht schon jetzt all diejenigen, die sich für präsidentiabel halten, in Stellung brächten oder bringen ließen. Es wäre Kaffeesatzleserei, sich zum jetzigen Zeitpunkt bereits in eine Chancenabwägung zu begeben.

Auf eine Tendenz soll aber hingewiesen werden, auch diese klar erkennbar in der April-Studie von „diestra“. Wenn es, so die These „diestras“, der Regierung Arévalo nicht gelingt, pragmatisch ihre Erfolge zu steigern, reicht das Hochhalten der demokratischen Fahne nicht aus: „Ihre Unter-stützung und die in das demokratische Modell gesetzte Hoffnungen werden verschwinden wie Wasser zwischen den Händen“, so „diestra“ wörtlich.

Die Gefahr besteht, dass nachhaltig unzufriedene und über viele Jahre von den Leistungen der Demokratie enttäuschte Wähler 2027 in einem radikal-populistischen Führer, unabhängig davon, ob dieser über einen guten Leumund verfügt oder Vorwürfe und Belastungen aus der Vergangenheit mit sich trägt, eine realistische Option sehen könnten. Bukele aus El Salvador und Trump lassen grüßen.

Der Regierung bleibt nur noch wenig Zeit, um einer solchen Entwicklung wirksam gegenzusteuern.

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Kontakt Julia Sandner
Julia Sandner
Leiterin Auslandsbüro Guatemala
julia.sandner@kas.de +502 2380-5111
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IMAGO / ZUMA Wire
29. April 2024
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