Länderberichte
Dem Urteilsspruch gegen den ehemaligen Militärdiktator der zentralamerikanischen Republik Guatemala, Efraín Ríos Montt, ging am Freitagnachmittag, den 10. Mai 2013, ein leichtes Erdbeben voraus – kein ungewöhnliches Ereignis. Für mehr Aufmerksamkeit sorgte kurze Zeit später das mit Spannung erwartete Urteil im Prozess gegen Ríos Montt und den ehemaligen General und Geheimdienstchef José Mauricio Rodríguez Sánchez, beide angeklagt wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der siebzehnmonatigen Regierungszeit des De-facto-Staatschefs von März 1982 bis August 1983. Der 86 Jahre alte Ríos Montt wurde wegen Völkermordes zu fünfzig Jahren Gefängnisstrafe und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu dreißig Jahren Haft verurteilt. Die Haftstrafe liegt damit über den von der Staatsanwaltschaft geforderten 75 Jahren. Ex-General Rodríguez wurde freigsprochen, da er nicht unmittelbar in die Militäroperationen eingebunden gewesen sei.
Mit dem Urteil geht ein Gerichtsprozess zu Ende, der in den letzten Wochen für viel Aufsehen in Guatemala und für Interesse aus dem Ausland gesorgt hatte. Zum ersten Mal ist ein ehemaliger Staatschef durch eine nationale Instanz des betroffenen Landes wegen Völkermordes verurteilt worden – ein Umstand, der dem Prozess eine besondere Bedeutung verlieh. Die Anwälte von Ríos Montt, dessen Hausarrest nach dem Urteilsspruch sofort in einen Gefängnisaufenthalt umgewandelt wurde, kündigten allerdings bereits an, Widerspruch einzulegen. Die Staatsanwaltschaft wiederum will gegen den Freispruch von Rodríguez vorgehen, so dass die gerichtliche Auseinandersetzung noch lange nicht zu Ende ist.
Bericht der Wahrheitskommission stellt Akte von Völkermord fest
Der 36-jährige Bürgerkrieg in Guatemala (1960 – 1996) war Teil des Zentralamerika-Konflikts mit internen Auseinandersetzungen in Guatemala, El Salvador und Nicaragua und Auswirkungen auf Honduras und Costa Rica. Mit internationaler Unterstützung wurden ab Mitte der 1980er Jahre Friedens- und Demokratisierungsprozesse eingeleitet. In Guatemala kam es schließlich 1996 zum Friedensschluss zwischen Regierung und der linksgerichteten Guerilla-Organisation URNG (Unidad Revolucionaria Nacionalista Guatemalteca). Dem Bürgerkrieg fielen rund 200.000 Menschen zum Opfer, überwiegend indigene Bevölkerung.
Laut Bericht der Comisión de Esclarecimiento Histórico, einer von den Vereinten Nationen unterstützten Wahrheitskommission unter Leitung der Erziehungswissenschaftlerin Otilia Lux de Cotí, des Juristen Alfredo Balsells Tojo und des deutschen Völkerrechtlers Christian Tomuschat, deren Einsetzung 1994 als Teil der Friedensverhandlungen vereinbart worden war, sind in 93 % der durch die Kommission registrierten Fälle Menschenrechtsverletzungen und Gewaltakte auf Handeln des Staates zurückzuführen (http://shr.aaas.org/guatemala/ceh/report/spanish/conc2.html). Ein geringer Prozentsatz geht zu Lasten der Guerilla. Eine besondere Konzentration der staatlichen Gewalt wird in den Jahren 1978 bis 1984 festgestellt, 91 % der der Kommission bekannten Fälle ereigneten sich in diesem Zeitraum. In diese Jahre fällt auch die Regierungszeit von Ríos Montt.
Das Militär hat laut Bericht die Maya-Bevölkerung als Verbündete der Guerrilla angesehen. Konsequenz sei die Ausrottung von Maya-Gemeinschaften gewesen, bei denen man Verbindungen zur Guerilla vermutete. Dabei sei mit besonderer Grausamkeit vorgegangen worden, die sich auch gegen Frauen und Kinder richtete. Die Kommission registriert 629 Massaker, die von Militärs und Paramilitärs begangen wurden, und weist auf die Operationen der verbrannten Erde hin. Nach Untersuchung von vier ausgewählten Regionen des Landes kommt die Kommission unter Punkt 122 der Schlussfolgerungen des Berichts zum Ergebnis, dass Vertreter des Staates Guatemala im Rahmen der Operationen gegen Aufständische in den Jahren 1981 bis 1983 Akte von Völkermord gegen Maya-Gruppen begangen haben. In Punkt 116 wird auf die Region der Maya-Ixil hingewiesen, wo es die schwersten Vorfälle gegeben habe und 70 – 90 % der Dörfer dem Erdboden gleichgemacht worden seien.
Der Bericht der Kommission wurde im Februar 1999 vorgestellt. Die guatemaltekische Regierung gab praktisch keinen Kommentar zu den Schlussfolgerungen und den Empfehlungen ab, worauf Kritik von unterschiedlichen Seiten laut wurde (vgl. Compendio de Historia de Guatemala 1944 – 2000, hg. von ASIES u.a.). Dass Wahrheitsfindung, juristische Aufarbeitung und Versöhnung schwierig und sogar lebensgefährlich werden können, hatte der Mord an Bischof Juan José Gerardi zwei Tage nach der Vorstellung des Projektberichts zur Bewahrung der historischen Erinnerung der Katholischen Kirche am 24. April 1998 gezeigt. Verantwortlich für den Mord waren u.a. der Priester Mario Orantes und der Militär Byron Lima Estrada, der in dem Bericht der Kirche des Völkermordes beschuldigt wurde.
Polarisierung während des Prozesses
Die Frage des Völkermordes führte in den Wochen vor dem Urteilsspruch gegen Ríos Montt in Guatemala zu einer starken Polarisierung, die auch an internationalen Institutionen nicht vorbeiging. Die Verteidigung hatte vor allem auf eine Verzögerungsstrategie durch Anträge und Verfassungsbeschwerden wegen Formfehlern gesetzt. Ausgerechnet eine Verfassungsbeschwerde der Nebenkläger CADH (Centro para la Acción Legal en Derechos Humanos) führte Ende April zu einem Urteil des Verfassungsgerichts, das von einer Richterin dahingehend ausgelegt wurde, dass ein Großteil des Prozesses zu annullieren sei. Damit wurde kurzzeitig die Anklageerhebung gegen Ríos Montt hinfällig und die nachfolgenden Zeugenaussagen von Opfern und Angehörigen hätten nicht berücksichtigt werden dürfen. Eine neuerliche Auslegung des Verfassungsgerichtsurteils führte wenige Tage später zu einem anderen Urteil einer weiteren Richterin, wodurch der Prozess wieder weitergeführt werden konnte.
Parallel zu den Fort- und Rückschritten im Prozess fand die zunehmende Polarisierung von verschiedenen Interessensgruppen ihren Ausdruck in einer Fülle von großformatigen Anzeigen unterschiedlicher Organisationen und Personen in den guatemaltekischen Tageszeitungen. Für Aufsehen sorgte vor allem eine Anzeige von an den Friedensverhandlungen beteiligten Persönlichkeiten, die sich darüber besorgt zeigten, dass der Frieden gefährdet werden und es zu Ausschreitungen kommen könnte, falls Ríos Montt wegen Völkermordes verurteilt würde. Weder die Gräueltaten noch die Notwendigkeit der Verurteilung der Verantwortlichen wurden abgestritten, vielmehr die Wichtigkeit der Aufarbeitung betont, aber die Anzeige wurde als unzulässige Einflussnahme auf die Justiz ausgelegt.
Es folgte eine Fülle von Gegenreaktionen, darunter eine Anzeige der Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG), die zur Mäßigung aufrief, selbst aber keinen mäßigenden Ton traf, indem sie einige Unterzeichner der oben genannten Anzeige persönlich herausgriff. Vertreter und Experten der Vereinten Nationen betonten vor Abschluss des Prozesses die Bedeutung der Rechtsprechung, die die Voraussetzung für Versöhnung sei, und ermutigten das Land, die Chance zu ergreifen, die dieser historische Prozess biete.
Der Veteranenverband AVEMILGUA (Asociación de Veteranos Militares de Guatemala) seinerseits veröffentlichte eine Liste mit Namen der im Bürgerkrieg gefallenen Militärs und der (Todes-)Opfer von Entführungen durch die Guerilla, darunter der deutsche Botschafter Graf von Spreti, der im Jahr 1970 nach einer Entführung umgebracht wurde. Ehemalige Militärs befürchteten die Signalwirkung einer Verurteilung und mögliche weitere Prozesse. Selbst Staatspräsident Otto Pérez Molina, ehemaliger General mit Einsatz im Bürgerkrieg unter dem Decknamen Mayor Tito Arias, wurde im Prozess gegen Ríos Montt von einem Zeugen in Verbindung mit Operationen gegen die indigene Bevölkerung gebracht.
Seit Ende des Bürgerkriegs sind 17 Jahre vergangen, die Massaker an den Maya-Ixil, um die es im Ríos Montt-Prozess geht, sind vor 30 Jahren geschehen. Die jungen Guatemalteken scheinen – bei Nachfragen – überwiegend für eine Verurteilung der Verantwortlichen zu sein. Es geht ihnen dabei jedoch nicht in erster Linie um eine Verurteilung wegen Völkermordes, sondern darum, dass Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden.
Nach dem Urteil
Das Urteil am 10. Mai kam überraschend schnell. Nach den Verzögerungen im Zusammenhang mit Verfahrensfragen hatte niemand mit einem so zügigen Ende des Verfahrens gerechnet. Natürlich gibt es Spekulationen über Einflussnahme von innen und von außen. Für Erstaunen sorgte der Freispruch des ehemaligen Geheimdienstchefs. Hier stellt sich die Frage, ob damit ein Signal ausgesendet wird, dass der Hauptschuldige, Ríos Montt, nun seiner Strafe zugeführt wird, andere Verantwortliche der Militärhierarchie aber nichts mehr zu befürchten haben.
In Nebaj fielen die Reaktionen der Bevölkerung laut Bericht der Tageszeitung Prensa Libre gemischt aus. Bürger hatten sich auf dem Hauptplatz der Stadt versammelt, einige applaudierten und zeigten sich zufrieden, andere sprachen sich gegen das Urteil aus. Ein Sprecher der Ixil äußerte direkt nach dem Urteil, dass der Rat der traditionellen Autoritäten sich weder freue noch traurig sei, man habe allerdings eine Verurteilung erwartet. Endlich werde Recht gesprochen im Namen der Überlebenden und der Opfer des Bürgerkriegs. Gegner des Urteils erzählten, dass Ríos Montt vielmehr für ihre Sicherheit gesorgt habe, die Guerilla habe die Bewohner umgebracht.
Staatspräsident Pérez äußerte in einer ersten Reaktion, dass es seiner Meinung nach während des Bürgerkriegs keinen Völkermord gegeben habe. Der einflussreiche Unternehmerverband CACIF (Comité Coordinador de Asociaciones Agrícolas, Industriales y Financieras) forderte am Wochenende, das Urteil wegen Verfahrensfehlern zu annullieren. Rigoberta Menchú, Friedensnobelpreisträgerin des Jahres 1992, zeigte sich zufrieden mit dem Urteil und meinte, dass es eine Wiedergutmachung nicht nur für die Opfer, sondern für alle Guatemalteken darstelle. Es sei gezeigt worden, dass das Volk der Maya nicht gelogen habe in Bezug auf den Völkermord.
Auf dem Weg zur Versöhnung?
Mit dem Urteil scheint der Weg zur Versöhnung auf den ersten Blick eher weiter, die Gesellschaft polarisierter geworden zu sein. Die Konfrontation zwischen ehemaligen Militärs und Menschenrechtsorganisationen, die die Opfer des Bürgerkriegs vertreten, bricht sich allerdings lediglich den Weg an die Oberfläche. Letztlich ist sie Ausdruck der teilweise noch immer herrschenden Spaltung zwischen ladinischen Eliten und indigener Bevölkerung, die in der Regel stärker unter der ausgeprägten sozialen Ungleichheit im Land leidet. Und eben diese soziale Ungleichheit ist seit langem eines der Hauptmerkmale Guatemalas und war letztlich auch ein Grund für den Bürgerkrieg. Ein Teil der politisch und wirtschaftlich einflussreichen (alten) Eliten sieht sich nun genötigt, seine Interessen deutlich zu verteidigen und sich zu rechtfertigen.
Dies sollte den Rest der Bevölkerung nicht davon abhalten, sich mit den Fragen der Vergangenheit zu beschäftigen, allerdings nicht durch die Schaltung von Zeitungsanzeigen, sondern durch einen echten Dialog. Der Wechsel der weißen Rose im Denkmal für den Frieden, der am 29. jeden Monats zum Gedenken an den Friedensschluss am 29. Dezember 1996 vorgenommen wird, ist ein Zeichen für gemeinsames Arbeiten am dauerhaften Frieden. Weitere Anstrengungen in Bezug auf eine stärkere Teilhabe der indigenen Bevölkerung und in Richtung mehr soziale Gerechtigkeit sind allerdings nötig und erhalten hoffentlich einen neuen Impuls.
Der Tatbestand des Völkermords hat einen empfindlichen Nerv getroffen und wird von vielen Beobachtern in Guatemala nicht unterstützt. Was im Ausland als besondere Leistung dargestellt wird – die Verurteilung eines ehemaligen Machthabers wegen Völkermords durch nationale Instanzen – hinterlässt im Land bei vielen eher Unbehagen.