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Länderberichte

Nach dem Untergang der "Sewol": Südkorea zwischen Schmerz, Wut und Selbstzweifeln

Eine Gesellschaft im Unbehagen mit sich selbst

Knapp drei Wochen nach dem Untergang des Fährschiffs „Sewol“ – mutmaßlich die größte zivile Katastrophe in der südkoreanischen Nachkriegsgeschichte – befindet sich das Land in einer Phase, in der die Menschen angesichts der von den Medien in alle Wohnzimmer übertragenen Trauer der Hinterbliebenen und der steigenden Zahl von sprachlos machenden Informationen zum Hergang des Unglücks Wege suchen, mit den Geschehnissen fertig zu werden.

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Das Stimmungsklima der Öffentlichkeit wird dabei geprägt vom Schmerz über den Verlust zahlreicher junger Leben, einer allgemeinen Wut über offensichtliche und vermeintliche Versäumnisse der Behörden bei der offenbar teilweise missglückten Rettungsaktion. Hinzu kommen im In- und Ausland gestellte, bohrende Fragen, ob eine spezielle koreanische Hintergrundkultur aus Korruption, Nepotismus und Unprofessionalität Hauptursache für die Katastrophe gewesen sein könnte. Dahinter stehen mehr oder weniger offene Zweifel am bisher sorgsam gepflegten Image einer modernen, rechtsstaatlichen Hochtechnologie-Demokratie, die möglicherweise doch nicht so fit für die Zukunft ist, wie sie es sich bisher einredete.

Vielerorts im Land finden sich spontan errichtete Gedenkstätten für die Unglücksopfer. Dennoch stehen angesichts der noch laufenden Arbeiten an der Unglücksstelle sowie der zahlreichen noch nicht geborgenen Opfer weder Termine für einen Staatsakt noch für eine offizielle Staatstrauer fest; trauern muss man jetzt auch um den ersten Rettungstaucher, der Anfang dieser Woche im Einsatz verstarb. Gleichwohl suchen die Medien und verlangt die Öffentlichkeit schon jetzt nach Antworten auf die Vielzahl der drängenden Fragen nach Gründen und Verantwortlichen für die Vorgänge. Lange nämlich ergingen sich offizielle Stellen in einer Sprache, die das öffentliche Informationsbedürfnis kaum befriedigte. Auch deshalb gibt es derzeit für allen öffentlichen Unmut vor allem eine Anlaufstelle.

Im Fokus der Kritik: Präsidentin und Regierung

Medienberichte ließen schon unmittelbar nach dem Unglück darauf schließen, dass die Organisation der Rettungsmaßnahmen mangelhaft gewesen und die Aktionen vor Ort ungeordnet verlaufen sein mussten. Parallel dazu war die Informationspolitik zuständiger Ministerien höchst problematisch, wie unter anderem eine zunächst gemeldete, viel zu hohe Zahl angeblich geretteter Passagiere belegt. Schnell wurde auch klar, dass es im Kontext der Abstimmung der Rettungsmaßnahmen ein Kompetenzgerangel zwischen Küstenwache und Marine gegeben haben musste. Das alles trug nicht nur zu einer Verunsicherung der südkoreanischen Öffentlichkeit über das Ausmaß der Katastrophe bei, sondern trug zu Medien-Spekulationen bei, dass dadurch die Rettung einer größeren Anzahl von Fährpassagieren verhindert worden sein könnte.

Auch das persönliche Auftreten von zuständigen Ministern erschien den Medien nicht durchweg angemessen, beispielsweise das zu späte Erscheinen am Unglücksort im Fall des Ministers für Ozean- und Fischereiangelegenheiten fünf Tage nach der Katastrophe sowie der vor laufenden Kameras neben geretteten Schülern der Unglücksfähre Instantnudeln essende Bildungsminister.

In einer zentralstaatlichen Präsidialdemokratie mit einem traditionell starken Medienfokus auf das Staatsoberhaupt musste aber zwangsläufig Präsidentin Park Geun-hye früher oder später ins Zentrum der Berichterstattung über das Unglück und schließlich auch der Kritik geraten. Diese richtete sich sowohl gegen den Stil ihres Auftretens als auch ihre öffentlichen Verlautbarungen zu der Katastrophe. Zu den kleineren PR-Pannen, wenngleich von weiten Teilen der Öffentlichkeit mit Verstimmung aufgenommen, zählte ihr Fauxpas, während der geplanten Visite von US-Präsident Obama kurz nach dem Unglück ein blaues Kleid zu tragen, während die US-Delegation sämtlich Trauerkleidung angelegt hatte.

Auch die Reaktionen der Öffentlichkeit auf die Niederlegung von Blumen durch Park an der Hauptgedenkstätte in Ansan (von der dortigen Schule kamen Hunderte von Schülern, die Opfer des Schiffsuntergangs wurden) waren nicht günstig. In einem im Internet abrufbaren Ausschnitt einer koreanischen Nachrichtensendung waren wütende Proteste Anwesender im Hintergrund zu hören, während die Präsidentin, orientierungslos wirkend, vor dem Gedenkaltar auf und ab lief. Beim selben Anlass kam es zu einem offiziellen, am Folgetag landesweit verbreiteten Foto einer Begegnung einer zunächst unbekannten älteren Frau mit der Präsidentin, wobei die Unbekannte den Eindruck vermittelt, als betroffene Angehörige die trauernde Staatschefin trösten zu wollen. Einige Medien vermuteten dahinter gar ein arrangiertes Foto, als sich herausstellte, dass die Unbekannte keiner Opferfamilie angehörte.

Wie glaubwürdig sind die öffentlichen Auftritte Parks?

Dabei hatte die Staatschefin zunächst versucht, den PR-Teil des Krisenmanagements dadurch zu bestehen, dass sie sich mit ihrer Äußerung, das Verhalten des „Sewol“-Kapitäns und seiner Besatzung während des Unglücks komme einem Mord gleich, an die Spitze des gesellschaftlichen Protests zu setzen beabsichtigte. Das brachte ihr jedoch im Ausland den Vorwurf ein, rechtliche Bewertungen stünden auch einem Staatsoberhaupt erst nach Abschluss einer entsprechenden Untersuchung zu, und selbst im Inland wurde dieses Vorgehen als Ablenkungsmanöver von den Versäumnissen der Behörden interpretiert. Man komme, bei näherer Betrachtung der Hand-lungsweise der Präsidentin, nicht umhin zu fragen, wo die Verantwortung für eines der größten nationalen Desaster wirklich liege, konstatierte die Korea Times in diesem Zusammenhang.

Und weiter kritisierte das Blatt: „Ist es nicht die Pflicht eines Führers, eine erregte Öffentlichkeit zu beruhigen und sie zu ermutigen, gemeinsam Schwierigkeiten zu überwinden anstatt während einer Krise launische Emotionen noch weiter anzuheizen?“

Im Übrigen wurde der Verlautbarungsstil Parks in der Öffentlichkeit von den Kommentatoren erneut missbilligt. Die Präsidentin hatte in einer 15-minütigen, im Fernsehen übertragenen Erklärung vor Kabinettsmitgliedern und leitenden Mitarbeitern Punkte aus insgesamt 18 Bereichen vorgetragen, in denen sie Handlungsbedarf zur Prävention ähnlicher Unglücke sah. Dies sei typisch für ihr präsisidiales Mikromanagement in einem Amtskontext, in dem sie sich mit passiven und opportunistischen Beamten umgebe, die nur folgsam mitschrieben anstatt für die fähigsten Köpfe eine Arbeitsumgebung zu schaffen, in der diese erfolgreich wirken könnten, hieß es.

So war es nicht verwunderlich, dass auch eine offizielle Entschuldigung der Staatschefin für Fehler und Versäumnisse der Regierung in Zusammenhang mit der Schiffskatastrophe nicht die erwünschte Wirkung zeigte. Angehörige der Opfer, aber auch viele Teilnehmer koreanischer Internetforen, sprachen der Geste jegliche Wahrhaftigkeit ab. Zwischenzeitlich hat sich die Präsidentin, nach dem ersten, ungünstig aufgenommenen Versuch vom 29. April, am 07. Mai im Rahmen einer Zeremonie in einem buddhistischen Tempel in Seoul ein zweites Mal öffentlich für Versäumnisse der Regierung zur Verhütung des Desasters entschuldigt. Wie auch immer: Das Bild der selbst im Angesicht von so viel Leid emotional oft unberührt wirkenden Präsidentin, das vor allem linke Presseorgane, selbst in Europa, jetzt wieder beleben, scheint an der Staatschefin wie ein Makel zu kleben.

Erklärungsversuche des Unglücks: Kulturschelte

Zu den für den ausländischen Beobachter auffälligsten Erscheinungen bei der Aufarbeitung der Unglücksursache zählen die aus dem westlichen Ausland ungefragt und in vergleichsweise großer Zahl angebotenen Erklärungsversuche für die Ursachen des Schiffsuntergangs. Die Autoren solcher Namensartikel und Kommentare in den englischsprachigen Zeitungen Südkoreas konzentrieren sich in ihrer Kritik auf die traditionelle koreanische Kultur. Sie generiere einen Menschentypus, dem unabhängiges Denken und eigene Entscheidungen tendenziell fremd seien und der von klein auf lerne, nur das zu tun, was ihm von Älteren und Höhergestellten gesagt werde. Hierin sehen diese westlichen Stimmen unter anderem die Ursache dafür, dass die ums Leben gekommenen Schüler selbst dann noch den unglücksseligen Anweisungen des Schiffspersonals folgten und nicht an Deck zu kommen versuchten, selbst als das Schiff schon im Sinken begriffen war. Dieses Verhalten wird von den Kritikern als kulturell bedingt und dem menschlichen Überlebensinstinkt entgegengesetzt beschrieben.

Es überrascht nicht, dass sich Teile der koreanischen Presse gegen diese eher populärwissenschaftliche These in Stellung brachten: „Culture can’t explain it all. CNN, TIME react typically to Sewol tragedy“ titelte die Korea Times spitz am 24. April 2014 als Aufmacher, vermied es aber, über diese Thematik einen Kulturkampf auszurufen. Das änderte sich auch nicht, als im Verlauf der Debatte aus dem Westen noch schwereres Geschütz aufgefahren wurde. „Die Abwesenheit von Professionalität in Korea“ machte ein US-amerikanischer Kommentator als Ursache des Unglücks aus: Bei allem beeindruckenden technologischem und wirtschaftlichem Fortschritt Koreas habe ein seinen Namen verdienender Professionali-sierungsprozess der Koreaner in ihren Berufen in Wirklichkeit nicht stattgefunden. „Koreaner waren und sind wunderbar amateurhaft bei allem geblieben“, so eine der Erkenntnisse der Analyse.

Die „andere koreanische Kultur“ als wah-re Unglücksursache?

Die Erwiderung darauf gab weinige Tage später ein in den USA lebender asiatischer Gastkommentator. Er nahm die koreanische Jugend gegen Pauschalverurteilungen in Schutz, die nach seiner Auffassung nicht weniger rebellisch und unabhängig sei als ihre globalen Altersgenossen. Allerdings machte er eine andere Art „koreanischer Kultur“ für das Unglück verantwortlich. Dazu gehöre unter anderem eine „machiavellistische Jagd nach Geld, Wachstum und Erfolg“, die in Korea mittlerweile ihren besonderen Höhepunkt erreicht und alle anderen Faktoren „niedergetrampelt“ habe, darunter auch die Sicherheit. Im Zusammenwirken mit dem bekannt „gemütlichen“ Verhältnis zwischen regulierenden Behörden, Industrie-„Watchdog“-Organisationen und den für die technische Sicherheit zuständigen Institutionen des Landes habe es dazu kommen können, dass im vergangenen Februar nur eine oberflächliche Sicherheitsprüfung des Unglücksschiffs erfolgt und die nachträglich vom Eigner vorgenommenen Änderungen der Aufbauten genehmigt worden seien. Sicherheitsinspektionen auf Passagierfähren im Jahr 2013 hätten im Durchschnitt nur 13 Minuten gedauert, und unter den Kontrolleuren seien häufig ehemalige bzw. pensionierte Beamte gewesen, denen das geltende Recht erlaube, jetzt diesen Gremien anzugehören, die sie zu ihrer aktiven Dienstzeit zu überwachen hatten.

Der Kommentator sieht einen Teil der Schuld allerdings auch in einer gesamtgesellschaftlichen Gleichgültigkeit gegenüber solchen Sicherheitsthemen: Da nur eine geringe Chance von eins zu einer Million für ein solches Unglück bestehe, halte es die südkoreanische Gesellschaft nicht für angemessen, „Fortschritt“ durch Regulierung zu verzögern.

Politische Implikationen des Unglücks

Erstes politisches Opfer des Fährunglücks war Premierminister Chung Hong-won. Er bot Präsidentin Park Geun-hye am 27. April seinen Rücktritt an, den diese annahm. Wirksam werden soll der Amtsverzicht aber erst Ende Mai, wenn die Aufklärung über die Unglücksursachen weiter fortgeschritten sein wird. Chung erklärte, sein Rücktritt sei die einzige Reaktion, die ihm angemessen erscheine, um auf die nationale Tragödie zu reagieren. Die südkoreanische Öffentlichkeit suchte nach einem Schuldigen. Der Premi-erminister war nicht dieser Schuldige, hatte sich aber bereit erklärt, stellvertretend für die gesamte Regierung Verantwortung zu übernehmen und so der Öffentlichkeit das Opfer zu geben, das sie verlangt hatte.

Es gehört zu den tragischen Begleitumständen der Schiffskatastrophe, dass ihre Bewältigung im Kontext des Wahlkampfes für die am 4. Juni anstehenden südkoreanischen Kommunalwahlen erfolgen muss. Traditionell geben Kandidaten für politische Ämter in Südkorea im Laufe des Wahlkampfes feierliche Versprechen bezüglich ihrer politischen Agenda in einer Legislaturperiode gegenüber potenziellen Wählerinnen und Wählern ab. Die Wählerschaft reagiert zwar auch in Korea zurückhaltend bis misstrauisch hinsichtlich der Glaubwürdigkeit solcher Gelöbnisse, übt aber immer auch scharfe Kritik, wenn es nicht zu deren Einhaltung kommt.

Wie zu erwarten, gehen Kandidaten für politische Ämter häufig verantwortungslos mit diesem Instrument um. Schon vor dem „Sewol“-Unglück mahnte das südkoreanische Finanzministerium, die im Rahmen des Kommunalwahlkampfes abgegebenen, populistischen Kandidaten-Versprechen würden nach vorläufigen Berechnungen die öffentliche Hand etwa rund 21 Milliarden Euro kosten.

Das Schiffsunglück hat mittlerweile das Themenspektrum dieser Kandidatenversprechen um den Bereich „Sicherheit“ erweitert. Verschwunden scheinen die bisher propagierten Themen wie z.B. Forschung und Entwicklung; stattdessen profilieren sich jetzt landauf, landab „Sicherheit zuerst“-Bewerber um Gouverneurs- und Bürgermeisterposten. Es ist fraglich, ob die Durchsichtigkeit dieser Manöver dem emotionalisierten Wahlvolk bewusst ist.

Kommunalwahlen sind – zumal in Südkorea, wo nahezu die Hälfte der Bevölkerung in der Hauptstadt Seoul lebt – immer auch Barometer für die aktuelle politische Stimmung im Land. Konkrete Umfragen, wie sich die Schiffskatastrophe auf den Wahlausgang auswirken könnte, gibt es zwar noch nicht. Allerdings war die bis vor dem Unglück hohe persönliche Beliebtheit von Präsidentin Park Geun-hye für die regierende, konservative Saenuri-Partei ein unerlässliches Hilfsmittel zur Unterstützung der eigenen Kandidaten, besonders in „engen Rennen“. Zwar sind die jüngsten Zustimmungswerte für die Staatschefin mit 56,6% (Stand: 25. April 2014) noch immer sehr hoch, aber verglichen mit dem Spitzenwert von 71% zwei Tage nach dem Unglück hat sie inzwischen gleichwohl enorme Popularitätsverluste hinnehmen müssen.

Die große Frage: Aufklärung oder kollektives Vergessen?

Noch sind nicht alle Opfer des Unglücks geborgen, und die Sorge, ob dies überhaupt möglich sein wird, beschäftigt viele koreanische Medien, die sich in dieser Frage als Sachwalter der berechtigten Interessen der Hinterbliebenen sehen. Nach den politischen Maßstäben westlicher Demokratien müsste man jetzt erwarten, dass es in angemessener Zeit zu einer eingehenden Untersuchung des Unglücks durch Regierung und Parlament kommt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Nach den politischen Maßstäben Südkoreas aber muss ebenso damit gerechnet werden, dass diese Aufklärung zugunsten eines schnellen Vergessens in den Hintergrund tritt. Wie einige Kommentatoren betonen, ist die wichtigste Aufgabe der Behörden und Parlamentarier ohnehin, die richtigen Konsequenzen aus dieser Katastrophe zu ziehen. Ob dies gelingt, darüber bestehen Unsicherheit und Zweifel. Sie werden offen geäußert und mit negativen Erfahrungen nach früheren Ereignissen vergleichbarer Tragweite begründet. Die Korea Times schreibt hierzu wörtlich: „Many commentators, here or abroad, are ridiculing Korea as a third-rate country, citing its gross incompetence and totally broken system to prevent or properly deal with human disasters. Yet Korea had been a third-rate country long before this catastrophe” .

Angesichts der Tatsache, dass allein in der zweiten Aprilhälfte und lediglich in Ansan, dem Herkunftsort der meisten Todesopfer, fast 4.000 Personen, zumeist ohne persönlichen Bezug zu den Hinterbliebenen, die Hilfe psychologischer Beratungsstellen in Anspruch genommen haben , ließ die Berichterstatter eine quasi-kollektive Depression der Bevölkerung, ausgelöst durch den Untergang der „Sewol“, befürchten. Ob dies begründet ist oder nicht: Die südkoreani-sche Gesellschaft sucht in dieser Phase der nationalen Krise sehr stark nach Halt und Orientierung. Wer ihr dies geben kann, ist offen.

Den gesamten Länderbericht inklusive Fußnoten können Sie im oben stehenden pdf-Dokument lesen.

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