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KAS / Marija Peran

Länderberichte

Nigeria hat gewählt

von Marija Peran

Einflussreicher Königsmacher setzt sich gegen Reformer durch

Nigeria hat am 25. Februar 2023 einen neuen Präsidenten und die Nationalversammlung gewählt. Am 18. März fanden außerdem Gouverneurs- und Landesparlamentswahlen statt. Die Ergebnisse lassen keine Wandel, sondern die Fortsetzung etablierter Macht- und Elitenpolitik erwarten.

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Den vorläufigen Ergebnissen zufolge hat sich die alte politische Ordnung durchgesetzt: die bisherige Regierungspartei All Progressives Congress (APC) stellt mit Bola Tinubu erneut den Präsidenten des bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Landes Afrikas. Während in der Nationalversammlung mehr Parteien vertreten sind, haben sich bei den Landeswahlen die beiden etablierten Parteien durchgesetzt. Die Jugend ist derweil zunehmend frustriert und resigniert. Die Wahlen konnten weitgehend wie geplant durchgeführt werden, aber operative Fehler und mangelnde Transparenz haben das Vertrauen in den Wahlprozess und die Wahlbehörde INEC geschwächt.

 

Die Situation vor den Wahlen

Die Wahlen in Nigeria fanden in einem äußerst spannungsgeladenen Kontext statt. Extreme Armut sowie Ernährungsunsicherheit haben zugenommen, die Sicherheitslage ist landesweit höchst prekär, die Energieversorgung ist unzureichend und die Auswirkungen des Klimawandels werden immer sichtbarer. Kurz vor dem Jahreswechsel hatte die Zentralbank zudem überraschend die Ausgabe neuer Scheine der Landeswährung Naira angekündigt; neues Bargeld war dann allerdings nicht in ausreichender Menge vorhanden. Angesichts dieser Nahrungsmittel-, Benzin- und Bargeldknappheit war kurz vor den Wahlen die Unzufriedenheit in der Bevölkerung groß. Anschläge auf Einrichtungen der Wahlbehörde – Independent National Electoral Commission (INEC) – und der Sicherheitskräfte verschärften die bereits angespannte Lage kurz vor den Wahlen zusätzlich.

 

Die Kandidaten

Die aussichtsreichsten Kandidaten waren zwei bestens bekannte und gut vernetzte Politiker, die beide für eine Kontinuität der üblichen nigerianischen Macht- und Elitenpolitik stehen: Bola Tinubu, ehemaliger Gouverneur der Finanz- und Kulturmetropole Lagos, für die Regierungspartei APC sowie der ehemalige Vizepräsident Atiku Abubakar, der für die größte Oppositionspartei Peoples Democratic Party (PDP) antrat. Neben diesen beiden Kandidaten der etablierten Parteien war mit Peter Obi von der Labour Party erstmals ein dritter Kandidat im Rennen um die Präsidentschaft. Rückhalt erfuhr Obis Kandidatur insbesondere in der jungen Bevölkerung, die einen großen Teil der Wahlberechtigen ausmacht. Von den knapp 93,5 Millionen registrierten Wählern sind fast 40 Prozent jünger als 34 Jahre.

 

Hohe Erwartungen vor den Wahlen

Ob die Wahlen auf Bundes- und Landesebene einen Richtungswandel in Nigeria einleiten würden, war vorher nur schwer abzuschätzen. Einerseits hatten sie das Potenzial mit vielen bisherigen Konventionen und Praktiken zu brechen, andererseits hatten viele nicht wirklich damit gerechnet, dass sich an den üblichen Wahlpraktiken und der nigerianischen Machtpolitik nennenswert etwas ändern würde.

Die Wahlen waren in jedem Fall ein Rekordereignis und unterschieden sich in vielerlei Hinsicht von früheren Wahlen. Mit über 93 Millionen Wahlberechtigten – darunter über elf Millionen Erstwähler – waren es die bisher größten und teuersten Wahlen des Landes und des gesamten afrikanischen Kontinents. Außerdem wurde mit der Kandidatur Obis für die LP erstmals das seit der Demokratisierung 1999 faktisch bestehende Zweiparteiensystem aufgebrochen. Auch der großflächige Einsatz technischer Neuerungen zur Vermeidung von Wahlmanipulationen war ein Novum. So kamen insbesondere die BVAS (Bimodal Voter Accreditation System) genannten Geräte zur digitalen Identitätsfeststellung und Ergebnisübermittlung erstmals großflächig in den Wahllokalen zum Einsatz.

 

Wahlausgang der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Ergebnis Präsidentschaftswahl

Das Rennen um die Präsidentschaft fiel wie erwartet knapp aus. Mit gerade einmal 36,6 Prozent der abgegebenen Stimmen wurde Bola Tinubu zum Sieger der hart umkämpften Präsidentschaftswahlen in Nigeria erklärt.

Nach Angaben der Wahlkommission gewann Tinubu damit mit gerade einmal 8,79 Millionen Stimmen. Damit erhielt er 1,8 Millionen Stimmen mehr als Atiku, der mit 6,98 Millionen Stimmen auf dem zweiten Platz landete und mithin 29 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich versammeln konnte. Im Vergleich zu Obi, der mit 6,1 Millionen Stimmen beziehungsweise 25,4% aller Stimmen Platz drei für sich verzeichnen konnte, erhielt Tinubu 2,7 Millionen Stimmen mehr als Obi. Im Vergleich: der amtierende Präsident Muhammadu Buhari gewann die Wahlen 2019 mit fast 4 Millionen Stimmen Vorsprung vor dem Zweitplatzierten. Um die Wahl um das Präsidentenamt zu gewinnen, benötigt ein Kandidat landesweit die einfache Mehrheit und zusätzlich über 25 Prozent der Stimmen in mindestens 24 der 36 Bundesstaaten sowie dem Federal Capital Territory, der Region rund um die Hauptstadt Abuja. Die drei stärksten Kandidaten erhielten in jeweils zwölf Bundesstaaten die meisten Stimmen – ein deutlicher Indikator für die unterschiedlichen regionalen Wählerpräferenzen im Land. Tinubu kann allerdings als einziger Kandidat für sich beanspruchen, das erforderliche 25 Prozent-Quorum erreicht zu haben; er erhielt in 29 Staaten mindestens 25 Prozent der Stimmen. Obis Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich seine Popularität regional auf Zentral- und Südnigeria konzentriert. Dafür sorgte Obi im Bundesstaat Lagos für eine kleine Sensation: mit seinem Wahlsieg schlug er Tinubu trotz dessen Heimvorteil. Dessen Sieg in Lagos – eine Tinubu-Hochburg – galt als sicher.

Kandidat

Stimmanteil und Stimmen

Bola Tinubu – All Progressives Congress

36,61%
8.794.726

Atiku Abubakar – Peoples Democratic Party

29,07%
6.984.520

Peter Obi – Labour Party

25,4%
6.101.533

(Quelle: bbc.com/news/resources/idt-9ff664e9-8cf9-4948-93e5-3268debcee1b)

 

Ergebnis Wahl zur Nationalversammlung

Die Partei des Gewinners der Präsidentschaftswahl, APC, konnte auch die Wahlen zur Nationalversammlung für sich entscheiden. Damit bleibt der APC in den beiden Kammern des Parlaments mit 55 von 109 Sitzen im Senat und 159 von 360 Sitzen im Repräsentantenhaus stärkste Kraft. Die größte Oppositionspartei PDP kam auf 107 Sitze im Repräsentantenhaus und 33 Sitze im Senat. Damit stellen die beiden größten Parteien des Landes 80 Prozent des Senats und knapp 74 Prozent des Repräsentantenhauses. Die Entscheidung über 7 Sitze im Senat und 33 Sitze im Repräsentantenhaus, fiel sehr knapp aus und muss noch von Gerichten gefällt werden. Trotz dieser Dominanz von APC und PDP zeichnet sich erstmalig eine relative Durchmischung der Nationalversammlung ab. Der APC wird nach jetzigem Stand über 10 Sitze weniger im Senat und über 51 Sitze weniger im Repräsentantenhaus als in der vorherigen Legislaturperiode verfügen, während die PDP über jeweils 6 Sitze weniger im Senat und im Repräsentantenhaus verfügen wird. Im Senat werden mindestens sieben verschiedene politische Parteien vertreten sein, im Repräsentantenhaus acht. Die Nationalversammlung ist damit bunter geworden. Auffällig ist des Weiteren, dass der APC im Senat mit 55 von 109 Sitzen nach aktuellem Stand über eine denkbar knappe Mehrheit verfügt und der Partei im Repräsentantenhaus mit 159 von 360 Sitzen bisher noch 22 Sitze für eine Mehrheit fehlen. Über knapp zehn Prozent der Sitze wird allerdings erst noch entschieden.

Unabhängig von den endgültigen Mehrheitsverhältnissen ist zu beachten, dass Nigeria keinen mit dem deutschen vergleichbaren Parlamentarismus praktiziert. Fraktionsmehrheiten im engeren Sinne einer auf Dauer angelegten Majorität im Parlament sind nicht unbedingt erforderlich. Vielmehr werden Koalitionen anlassbezogen gebildet und entstehen häufig auf Basis religiöser und ethnischer Zugehörigkeit wohingegen Parteipolitik kaum eine Rolle spielt. Daneben gibt es oft individuelle Absprachen zwischen einzelnen Politikern kleinerer Fraktionen mit der größten Fraktion; letztere erhofft sich, dadurch Mehrheiten zu sichern. Schließlich können sich die Kräfteverhältnisse durch taktische Parteiübertritte noch ändern. Dies wird besonders bei der Vergabe von Schlüsselpositionen in Ausschüssen virulent werden; in diesem Zuge haben in der Vergangenheit die großen Parteien schon oft die kleineren „verschluckt“. Die Grenzen zwischen Mehrheit und Opposition sind in Nigeria fließend.

 

Ergebnis Senatswahl 2023

Partei Sitze

All Progressives Congress

55

Peoples Democratic Party

33

Labour Party

8

New Nigeria People’s Party

2

Social Democratic Party

2

All Progressives Grand Alliance

1

Young Progressives Party

1

Ergebnis noch offen

7

(Quelle: liveresults.civichive.org/senatorial/2023)

 

Ergebnis Wahl zum Repräsentantenhaus 2023

Partei Sitze

All Progressives Congress

159

Peoples Democratic Party

107

Labour Party

34

New Nigeria People’s Party

18

All Progressives Grand Alliance

4

Social Democratic Party

2

African Democratic Congress

2

Young Progressives Party

1

Ergebnis noch offen

33

(Quelle: liveresults.civichive.org/house_of_rep/2023)

 

Gouverneurs- und Landesparlamentswahlen

Drei Wochen nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen fanden zudem Gouverneurs- und Landesparlaments-wahlen statt. Bei den in 28 von 36 Bundesstaaten abgehaltenen Gouverneurswahlen sieht es nach den vorläufig verkündeten Ergebnissen der nationalen Wahlbehörde INEC danach aus, dass die Kandidaten von APC und PDP die Mehrheit der Bundesstaaten für sich entschieden haben. Damit werden die beiden Parteien voraussichtlich zumindest auf Landesebene ihre politische Dominanz auch gegenüber der auf nationaler Ebene erstarkten LP behalten.

Laut vorläufigen Ergebnissen gewannen in 15 Staaten einschließlich der heiß umkämpften Metropole Lagos Kandidaten des APC. Die LP zweifelt den Sieg in Lagos allerdings an und will das Ergebnis nicht anerkennen. Kandidaten der PDP führen aktuell in neun Bundesstaaten. Ein Kandidat der nördlichen Regionalpartei, die New Nigeria People’s Party (NNPP), gewann wie erwartet Kano, den im Norden Nigerias ökonomisch stärksten Bundesstaat. Die LP führt dagegen bisher nur im Bundesstaat Abia.

Insgesamt waren in den Landesparlamenten aller 36 Bundesstaaten 993 Sitze zu vergeben. In knapp der Hälfte aller Bundesstaaten kam es zu Streitigkeiten um die Endergebnisse. Zwei Wochen nach der Wahl hat die Wahlbehörde die Ergebnisse für 183 Wahlkreise aus sieben Bundesstaaten noch nicht verkündet, maßgeblich, weil APC und PDP diese angefochten haben. Sie behaupten jeweils, die Anzahl der ungültigen Stimmen sei größer als die Stimmdifferenz zwischen dem Gewinner und dem Zweitplatzierten. Mit weiteren Verzögerungen ist durch die Prüfung einzelner Ergebnisse in Gerichtsverfahren zu rechnen.

Die Wahlbehörde überprüft nun noch einmal alle uneindeutigen Ergebnisse der Gouverneurs- und Landesparlamentswahlen und hat zudem für den 15. April Ergänzungswahlen angekündigt. Es wird damit gerechnet, dass bis Ende April alle Ergebnisse feststehen.

 

Ergebnis Gouverneurswahlen 2023

Partei Sitze

All Progressives Congress

15

Peoples Democratic Party

9

Labour Party

1

New Nigeria People’s Party

1

Ergebnis noch offen

2

(Quelle: stears.co/elections/2023/governor/)

 

Durchführung der Wahlen

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Mit Blick auf die Durchführung der Präsidentschaft- und Parlamentswahlen sind zunächst vor allem drei positive Aspekte festzuhalten. Erstens wurden die Wahlen nicht wie bei den vergangenen drei Wahlen kurzfristig verschoben. Zweitens kam es zwar zu technischen Problemen und Ausfällen bei der digitalen Identitätsfeststellung der Wähler, die Notfallplanung von INEC war jedoch gut vorbereitet, mehr als zwei Drittel der technischen Probleme konnten innerhalb kurzer Zeit behoben werden.

Drittens gab es während der Wahlen zwar vereinzelte Angriffe auf Wahllokale, Wahlhelfer und Wähler; insgesamt blieb es aber am Tag der Wahl und danach vergleichsweise friedlich und ruhig.

Die Wahlen wurden jedoch von mehreren logistischen Problemen begleitet: Wie befürchtet, hat die Bargeld- und Benzinknappheit nicht nur die Anreise von Wählern in ihre Wahlbezirke erschwert und in vielen Fällen mithin verhindert, sondern auch den Transport von Wahlhelfern, Wahlmaterial und Sicherheitspersonal beeinträchtigt.

Daneben sind insbesondere drei gravierende Defizite festzustellen. Zunächst zeigten sich Mängel bei der Rekrutierung und Schulung von Ad hoc-Wahlhelfern, die durch eine ohnehin zu geringe Personalkapazität von INEC noch schwerwiegender zum Tragen kamen. Des Weiteren waren die landesweiten massiv verspäteten Öffnungen der Wahllokale auffällig und höchst problematisch. Lokale öffneten trotz ohnehin vergleichsweise kurzer Öffnungszeiten teils mit stundenlangen Verspätungen, mancherorts erst unmittelbar vor der eigentlich vorgesehenen Schließung. In der Folge wurde teils noch am Sonntag oder sogar Montag gewählt. Den größten Kritikpunkt stellen die massiven Verzögerungen und Probleme bei der digitalen Ergebnisübermittlung mittels der erwähnten BVAS- Geräte dar. Ergebnisse konnten nicht unmittelbar nach der Auszählung in das entsprechende Portal von INEC hochgeladen und die Richtigkeit der übertragenen Ergebnisse nicht, wie vom neuen Wahlgesetz vorgesehen, unmittelbar überprüft werden. De facto wurden die Ergebnisse manuell übermittelt – der höchst manipulationsanfällige Schwachpunkt bisheriger Wahlen in Nigeria. Das erst 2022 überarbeitete Wahlgesetz sollte dies durch die Verpflichtung unterbinden, die Wahlergebnisse unmittelbar nach Auszählung digital zu übertragen und in Echtzeit in einem für die gesamte Bevölkerung kostenfrei zugänglichen Portal zu veröffentlichen. Dieser Anforderung ist die Wahlbehörde nicht nachgekommen, was dazu führte, dass es über 24 Stunden nach der Wahl noch keine Hochrechnungen gab und erste Manipulationsvorwürfe laut wurden.

Die teure und vielversprechende BVAS-Technik sowie das Portal zur Live-Ergebnisübermittlung haben unstreitig enttäuscht. Fraglich und schwer belegbar sind die genauen Gründe hierfür. Während INEC sich am Tag nach der Wahl zunächst ausschwieg, berief sie sich hinsichtlich der beobachteten Defizite kurz darauf auf logistische Gründe und technische Fehler. Die einfachen und generischen Begründungen wirken mit Blick auf die Häufigkeit, Reichweite und Intensität der Probleme kaum überzeugend.

 

Gouverneurs- und Landesparlamentswahlen

Die Wahlen auf Landesebene wurden in der Folge um eine Woche verschoben, da die Oppositionsparteien die Speicherung und Durchsicht der auf den BVAS-Geräten gespeicherten Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen gerichtlich durchsetzten. INEC benötigte dadurch mehr Zeit, um die Geräte für die anstehenden Landeswahlen neu konfigurieren zu können.

Die Landeswahlen waren von einer noch niedrigeren Wahlbeteiligung und auch mehr Gewalt geprägt – von bis zu 21 Toten ist die Rede. Vermehrt kam es zu gewaltsamer Einschüchterung und Unterdrückung von Wählern, die während der Wahlen vor allem in den umkämpften Großstädten wie Lagos und Kano, aber auch in anderen Bundesstaaten beobachtet wurden. Während es bereits bei den Präsidentschaftswahlen zu einem auffällig starken Einsatz ethnisch aufgeladener und spalterischer Rhetorik sowie der Verbreitung von Desinformation kam, so wurden diese Mittel im Rahmen der Landeswahlen noch einmal verstärkt.

Auf operativer Ebene scheinen die Landeswahlen erhebliche Verbesserungen gebracht zu haben, da die Wahllokale im Allgemeinen pünktlich öffneten und die meisten Ergebnisse unmittelbar auf die elektronische Ergebnisplattform hochgeladen wurden. Laut INEC konnte die Zeit zwischen den beiden Wahlen zur Ausräumung technischer Defizite genutzt werden.

 

Rolle der Wahlbehörde

Hat die Wahlbehörde INEC bereits in der Vergangenheit Vertrauen in der Bevölkerung eingebüßt, so hat sie im vergangenen Jahr stark daran gearbeitet, dieses Vertrauen zurückzugewinnen und wiederaufzubauen. Diese Erfolge hat sie nun wieder verspielt: die Leistung von INEC hat enttäuscht. Aller Modernisierung zum Trotz scheinen auch innerhalb der Wahlbehörde althergebrachte Machtstrukturen weiter zu bestehen. Hat INEC vor den Wahlen noch eine passable Figur gemacht und glaubhaft versucht, die Auswirkungen der akuten Krisen auf die Wahlen zu minimieren, hat sie mit Beginn des Wahltags enttäuscht. Die Glaubwürdigkeit endgültig verloren hatte INEC schließlich, als sie angesichts der am Nachwahltag sichtbar werdenden Defizite teils intransparent, teils verharmlosend, teils gar nicht kommunizierte. Viele Kritiker sehen darin Anzeichen für die Beteiligung hochrangiger INEC-Funktionäre an Wahlmanipulationen: hätte die Wahlbehörde nichts zu verbergen, hätte sie die laufenden Prozesse und Defizite erläutern und vollends sichtbar machen können und hätte schließlich auch nicht die Ergebnisse de facto manuell ausgezählt, so das Argument. Die beschriebenen operativen Fehler wiegen in jedem Fall schwer und sind umso ernüchternder vor dem Hintergrund, dass viele internationale Geber, darunter die EU, viel Geld für die Vorbereitung der Wahlen investiert haben. Der abschließende Bericht der EU-Wahlbeobachtermission wird sich auch hiermit beschäftigen müssen.

 

Fragliche Legitimität der Ergebnisse

Vorwürfe der Wahlmanipulation

Nigerianische Wahlen sind seit jeher von Manipulationen geprägt, die von Stimmabgabe unter falschem Namen über Wählereinschüchterung bis hin zu Stimmkauf reichen. Bei den gerade abgeschlossenen Wahlen ist belegt, dass es sowohl Einschüchterung und Bedrängung von Wählern sowie Stimmkauf, teils mit Naturalien, gab. Wie weit verbreitet diese Methoden tatsächlich waren, wird sich allerdings vermutlich nie vollständig aufklären lassen, zu viele nicht überprüfbare Leerstellen gibt es. Eindeutig überprüfbar ist dagegen die Nichteinhaltung bestimmter Vorschriften des Wahlgesetzes durch INEC. Das jüngst geänderte Wahlgesetz verlangt eine digitale Stimmübertragung: die Ergebnisse jedes der mehr als 175.000 Wahllokale müssen unmittelbar nach Auszählung der Stimmen gescannt und auf den Server der Wahlbehörde hochgeladen werden, nachdem sie von Parteiagenten vor Ort und Wahlbeamten unterzeichnet worden sind. Dies ist bei den Präsidentschaftswahlen weitestgehend unterlassen worden. Viele Bürger und Wahlbeobachter beklagten, dass die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen langsamer oder gar nicht hochgeladen wurden als die Ergebnisse der parallel abgehaltenen Parlamentswahlen. Eine plausible Erklärung dafür hat die Wahlbehörde bisher nicht angeboten.

 

Gerichtliche Überprüfung der Ergebnisse

Auch die beiden großen Oppositionsparteien sind der festen Überzeugung, die Wahlen seien manipuliert worden. Sie fordern daher die Annullierung der Wahlen und machen Verstöße gegen das Wahlgesetz geltend. Kern der Manipulationsvorwürfe ist das neu eingeführte elektronische Wahlsystem BVAS, das eigentlich die Manipulation von Ergebnissen erschweren und die Wahlen transparenter machen sollte. Die Opposition hält zudem geheime Absprachen von INEC zumindest für nicht ausgeschlossen, um das Ergebnis zugunsten von Tinubu zu beeinflussen.

Sowohl PDP als auch LP haben deshalb Klagen vor den neu errichteten election petition tribunals eingereicht und erhoffen sich damit eine Aufhebung der Wahlergebnisse und Neuwahlen. Dies scheint jedoch wenig aussichtsreich, denn in der Geschichte Nigerias gab es noch keine einzige Annullierung offiziell verkündeter Wahlergebnisse durch das oberste Gericht. Die Beweiswürdigung und Urteilsbegründung des Gerichts könnten aber zur Aufarbeitung der operativen Defizite beitragen und doch noch das Vertrauen in die geltenden Verfahren stärken.

 

Wahlbeteiligung auf Rekordtief

Neben den Unregelmäßigkeiten und den Vorwürfen der Wahlmanipulation schmälert die enorm niedrige Wahlbeteiligung die Legitimität der Wahlergebnisse. Der Negativrekord hinsichtlich der Wahlbeteiligung von knapp 27 Prozent war eine der großen Überraschungen dieser Wahl. Es ist die niedrigste Beteiligung, die Nigeria je hatte. Von knapp 93,5 Millionen registrierten Wählern haben gut 23 Millionen gewählt. Bisher herrscht Unklarheit darüber, wie es im Rahmen dieser stark politisierten und teils emotionalisierten Wahlen dazu kommen konnte.

Sicher hatten die Umstände rund um die Wahlen – kein Bargeld und Benzin, prekäre Sicherheitslage – ihren Anteil daran. Die Abschreckung und Einschüchterung von Wählern stellen höchstwahrscheinlich einen weiteren Grund dar. Auch stehen weitere Vorwürfe gegen INEC im Raum, wonach diese das Wahlregister nicht rechtzeitig konsolidiert und zum Beispiel Verstorbene nicht daraus entfernt hätte. Schließlich sind viele Nigerianer inzwischen schlicht politikverdrossen.

 

Überraschungskandidat Peter Obi

Als Gegenkandidat zu den beiden Kandidaten der Regierungs- und größten Oppositionspartei schaffte es Peter Obi, sich als Reformkandidat zu etablieren und das bisher faktisch bestehende Zweiparteiensystem in Nigeria aufzubrechen. Die Hoffnung auf ein neues, geeintes und politisch und wirtschaftlich stabiles Nigeria spiegelte sich in der Kandidatur Obis für die bislang eher unbedeutende Labour Party wider – wie kein anderer stand Obi für neuen Schwung und Optimismus. Auch schaffte er als einziger die Jugend zu mobilisieren. Im Wahlkampf stand Obi für Ehrlichkeit und gute Regierungsführung und hat damit einen Nerv getroffen: die junge

Bevölkerung und geistigen Eliten des Landes wünschen sich eine echte Veränderung für ihr Land.

Obi hat mit seinem Wahlergebnis unbestritten einen Achtungserfolg erzielt. Ob er das politische System in Nigeria nachhaltig aufgebrochen hat, bleibt fraglich. Zwar ist es ihm dieses Mal gelungen, die etablierten Parteien unter Druck zu setzen. Ob die LP aber bei den nächsten Wahlen 2027 wieder relevant sein und Obi erneut als Kandidat antreten wird, hängt von vielen Faktoren ab. Womöglich bilden sich auch neue Parteien, so wie der APC 2013 aus einem Parteienbündnis hervorgegangen ist.

 

Die Rolle der Jugend

Das Durchschnittsalter in Nigeria beträgt 18,1 Jahre – die Gruppe der jungen Wähler wird damit in naher Zukunft die größte Wählergruppe darstellen und ihr Abstimmungsverhalten den Ausgang von Wahlen stärker bestimmen. Nach diesen Wahlen stellen sich jedoch auch relevante Fragen: Wird sich das aktuelle politische Interesse dieser Wählergruppe über die nächsten drei bis vier Jahre aufrechterhalten lassen? Wird es sich gar in nachhaltige politische Strukturen und Aktivitäten überführen lassen?

Tinubu scheint die Relevanz dieser Gruppe für die eigenen politischen Erfolge sowie die Entwicklung Nigerias jedenfalls erkannt zu haben. In seiner Dankesrede nach Bekanntgabe des Wahlsiegs adressierte er explizit die Jugend und versprach ihnen Lösungen für die großen Probleme des Landes. Für die Jugend hingegen war seine Wahl ernüchternd; sie ist vom Sieg Tinubus spürbar enttäuscht und sieht darin die Fortsetzung zweier typischer Negativmerkmale nigerianischer Politik: einer Geld- und Elitenpolitik einerseits und der Gerontokratie andererseits.

 

Was ist von Tinubus Regierung zu erwarten?

Aber auch über die Generationen hinweg spaltet Tinubu die Gemüter: den einen gilt er als korrupter Mafiaboss oder als alt, gebrechlich und geistig bereits umnachtet. Die anderen sehen ihn als pragmatischen Macher und verweisen auf seine Erfolge in Lagos zu seiner Zeit als Gouverneur. Man traut ihm zu, das Land gut zu managen.

Dementsprechend scheint es unwahrscheinlich, dass Tinubu als einende Kraft und Reformer in die Geschichtsbücher eingehen wird. Man sollte ihn gleichwohl nicht unterschätzen; es ist ihm durchaus zuzutrauen, das Land pragmatisch zu regieren und wirtschaftlich zu stärken. Tinubu, der den Yoruba- Ehrentitel Asiwaju, das heißt Führer und Sieger, trägt, hat unter seiner Gefolgschaft viele erfahrene Experten und es steht zu hoffen, dass er sein Kabinett mit vielversprechenden Politikern besetzen wird. Idealerweise wendet Tinubu seinen Geschäftssinn zum Wohle Nigerias an. Sollte er seine Wahlversprechen umsetzen – mehr Privatwirtschaft und Investitionen in das Land, zielgerichtete Investitionen in die Sicherheitsarchitektur des Landes und Entlastung des Haushalts durch Abschaffung der Benzinsubventionen – kann er es schaffen, das Land vor einer weiteren Destabilisierung zu bewahren. Erst kürzlich kündigte Tinubu an, den Fokus in seinem Kabinett nicht auf eine Regierung der nationalen Einheit, sprich Repräsentation der vielen Volksstämme, sondern der nationalen Kompetenz zu legen, um die Herausforderungen Nigerias anzugehen. Dabei betonte er jedoch „kompetente Männer und Frauen und junge Menschen aus ganz Nigeria zu versammeln, um ein sichereres, wohlhabenderes und gerechteres Nigeria aufzubauen“.

 

Regierungsbildung und Ausblick

Es ist unwahrscheinlich, dass die laufenden Gerichtsverfahren der Opposition am Ergebnis der Präsidentschaftswahl noch etwas ändern werden. Die Urteilsbegründungen können aber wichtige Fragen für künftige Wahlen klären. Am 29. Mai wird Tinubu dann aller Voraussicht nach als neuer Präsident vereidigt. Nigerianische Experten rechnen mit der Ernennung seines Kabinetts bereits im Juni.

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Marija Peran

Portrait Studio24, Abuja

Leiterin des Auslandsbüros Nigeria

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