Spill-over Effekte des EGD
Trotz Schwierigkeiten und einer schleichenden Diversifizierung der türkischen Wirtschaft sind immer noch mehr als vierzig Prozent der türkischen Exporte für den EU-Markt bestimmt. Angesichts der starken internationalen Verflechtungen der Türkei mit Europa ist es für die türkische Politik und türkische Unternehmen wichtig, sich über die politischen Maßnahmen im Klaren zu sein, die von Europa im Rahmen des EGD umgesetzt werden.
Eine dieser Maßnahmen ist die geplante Einführung des sogenannten Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM), einer Art Kohlenstoff-Tarif bis spätestens 2023. Um die Umsetzung der Ziele des EGD auf internationaler Ebene sicherzustellen und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen innerhalb der EU zu sichern, soll dieser Klimaregulierungsmechanismus das Risiko von „Carbon Leakage“ reduzieren, welches aus der Verlagerung der EU-Produktion in Länder mit niedrigeren Klimastandards resultiert und die Einhaltung von den neuen Klimastandards in der europäischen Peripherie sicherstellen. Trotz der Herausforderung den CBAM so zu gestalten, dass es mit der WTO kompatibel ist plant die Europäische Kommission Details und einen Fahrplan zum CBAM noch in diesem Sommer vorzustellen.
Nach den bisher bekannten Details würden Exporteure, die hauptsächlich in kohlenstoffintensiven Sektoren tätig sind über zusätzliche Kosten voraussichtlich am meisten betroffen sein. Die Türkei als einer der Hauptzementlieferanten der EU und wichtiger Handelspartner in der Automobilbranche sowie als Land mit großen Eisen-, Stahl- und Kunststoffsektoren muss sich daher der Konsequenzen eines solchen Mechanismus bewusstwerden und mittelfristig selber eine grüne Transformation ihrer Wirtschaft anstoßen, um den Zugang zum europäischen Markt nicht zu erschweren.
Die Rolle der Klein- und Mittelständischen Unternehmen
Bei der Umsetzung spielen die kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) eine wichtige Rolle. Derzeit gibt es in der Türkei schätzungsweise 3,5 Millionen aktive KMU, die 99,8 % aller registrierten Unternehmen des Landes ausmachen. Die KMUs tragen 62% zum BIP, 55% zu den Exporten und 73,5% zu den Arbeitskräften des Landes bei. [i]
Das Auslandsbüro Türkei der Konrad-Adenauer-Stiftung hat in diesem Zusammenhang in Kooperation mit TÜRKONFED eine Studie durchgeführt, welche die Auswirkungen und Möglichkeiten des EGD für KMU in der Türkei untersucht.[ii] Die Studie zeigt teilweise erhebliche Defizite in Bezug auf klimafreundliche Maßnahmen auf, aber deutet auch auf die Potenziale für die türkische Wirtschaft hin.
Die Türkei verzeichnete im Zeitraum 2010-2018 den höchsten Treibhausgasanstieg unter allen Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Während der Anteil an erneuerbaren Energien stetig wächst gibt es jedoch keinen signifikanten Anstieg des Anteils der erneuerbaren Energien an der Gesamtenergieversorgung des Landes. Dies hat damit zu tun, dass die Türkei unter den OECD-Ländern die höchste Wachstumsrate im Gesamtenergiebedarf aufweist. Betrachtet man die Indikatoren zur Luftverschmutzung, so zeigt sich, dass insbesondere die Feinstaubbelastung deutlich über dem OECD-Durchschnitt liegt. In Bezug auf die kommunale Abfallwirtschaft liegt die Türkei deutlich unter dem OECD-Durchschnitt. Städtische Mülldeponien, die in vielen europäischen Ländern nicht mehr üblich sind, sind in der Türkei immer noch weit verbreitet. Diese besorgniserregenden Ergebnisse sind allerdings nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass die Türkei trotz etwaiger Krisen weiterhin eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften ist.
Die Studie zeigt auch, dass die türkischen KMU finanzielle Anreize und Beratung im Rahmen der Schaffung und Erweiterung des Angebots an grünen Produkten und Dienstleistungen benötigen. Internationale Investments wie von der Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) zielen schon jetzt zum Großteil auf die Beschleunigung des Übergangs zu einer grünen Wirtschaft ab. In den letzten Jahren hat die EBRD Projekte in Höhe von fast 13 Milliarden Euro in der Türkei finanziert und ist damit einer der führenden institutionellen Investoren in der Türkei. Die EBRD hat sich verpflichtet in der Türkei Projekte zur Ressourceneffizienz und im Bereich erneuerbare Energien zu unterstützen und der Türkei in Form von finanzieller und politischer Unterstützung zu helfen, die durch die Covid-19-Pandemie ausgelöste Krise zu bewältigen und den Wiederaufbau zu nutzen, um die grüne Transformation zu beschleunigen.
Laut der Studie sind die wichtigsten Hindernisse mit denen sich KMU beim Übergang zu einer grünen Wirtschaft konfrontiert sehen neben den fehlenden finanziellen Ressourcen ein mangelndes Bewusstsein für die Thematik und fehlende qualifizierte Arbeitskräfte. Die Studie zeigt, dass 40 Prozent der türkischen KMU nicht in die Verbesserung ihrer Ressourcennutzung investieren. Der Großteil der KMU ist außerdem mit der Komplexität der administrativen oder rechtlichen Komponenten in dem Bereich überfordert.
Es wird eine Herausforderung für die türkischen KMU sein sich von der Krise zu erholen, da ihre Investitionskapazität durch die Krise stark beeinträchtigt wurde. Die Einführung der CBAM auf türkische Produkte würde zum jetzigen Zeitpunkt die Exportleistung weiter negativ beeinflussen und die Erholung der türkischen Wirtschaft massiv verlangsamen.
Es ist also im Interesse der Türkei gerade in der Post-Pandemie-Zeit die Rahmenbedingungen und das Investitionsklima so zu gestalten, dass in einer transparenten und nachhaltigen Weise Investoren gewonnen werden können, die die Wettbewerbsfähigkeit der Türkei mit einer Transition zu einer grünen Wirtschaft verbinden können.
Türkei als grüner Energiehub?
Eine weitere potenzielle, langfristige Auswirkung des Europäischen Green Deal auf die Nachbarschaft der EU ist ein möglicher Anstieg des Handels mit grünem Strom und grünem Wasserstoff. Die Türkei, als Land mit steigendem Energiebedarf und aufgrund ihrer geographischen Lage, bietet sich als zukünftiger Energiehub für ganz Europa an. Bereits jetzt ist die Türkei ein wichtiger Energieimporteur und ein potenziell bedeutendes Transitland für Erdgaslieferungen, die aus dem Kaukasus, dem östlichen Mittelmeerraum, dem Nahen Osten und Zentralasien nach Europa fließen.
Zu diesem Zweck ist die Rolle der Türkei bei der Entwicklung des südlichen Gaskorridors durch den Bau der transanatolischen Pipeline von entscheidender Bedeutung. Die EU kooperiert mit der Türkei, um die Integration der türkischen Gas- und Strommärkte in den Energiebinnenmarkt der Union zu ermöglichen. Gerade in Bezug auf Erdgas ist zu beachten, dass aufgrund des EGD gasproduzierende Länder mittelfristig profitieren könnten, da eine schnelle Umstellung von Kohle auf Gas notwendig ist, um die Emissionen des EU-Energiesektors schnell und effizient zu senken. Die daraus resultierende Rolle von Erdgas als Übergangskraftstoff in der EU wird aller Voraussicht nach erhöhte Importe bedeuten und damit die Bedeutung von Transitländern wie der Türkei weiter erhöhen.
Noch importiert die Türkei fast 100 % ihres Gases, aber eine kürzlich gemachte Entdeckung von über 400 Milliarden Kubikmetern Gas im Schwarzen Meer [iii] weckt in Ankara Hoffnungen das Schwarze Meer möglicherweise zu einer "neuen Nordsee" zu machen und gleichzeitig die Spannungen mit ihren Nachbarn im östlichen Mittelmeer zu beruhigen, da die Exploration dort verhältnismäßig schwieriger und kostspieliger wäre.
Die Türkei rüstet sich derzeit außerdem für den Aufbau eines Wasserstoffsektors, der auf den erneuerbaren Ressourcen des Landes aufbaut. Aktuell befindet sich die Türkei im Prozess eine nationale Wasserstoffstrategie zu erstellen, welche die langfristige Rolle des Brennstoffs in der Gesamtnachfrage skizziert und mögliche Standorte für Produktion und Transport evaluiert. Im Rahmen der deutsch-türkischen Energiepartnerschaft wird mittlerweile Wasserstoff als eines der Kernthemen genannt. Mit anderen Ländern wie Marokko hat Deutschland bereits eine Absichtserklärung zur gemeinsamen Förderung von grünem Wasserstoff entwickelt mit dem Ziel des zukünftigen Exports nach Deutschland. Die Türkei bietet ähnliches Potential. Im anatolischen Konya befindet sich derweil ein Testgelände welches grünen Wasserstoff nutzt, der mittels Elektrolyse aus Wasser gewonnen wird, das mit Wind- oder Solarkraft betrieben wird. Innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte ist der Anteil der Energiegewinnung aus erneuerbaren Ressourcen signifikant gewachsen.
Ein Bericht über die Finanzierungs- und Investitionstrends in der europäischen Windindustrie im Jahr 2020 zeigt, dass die Türkei mittlerweile der fünftgrößte Windkraft-Investor in Europa ist.[iv] Dabei spielen Banken, vor allem europäische und speziell deutsche, eine wichtige Rolle: dem Bericht zufolge übernehmen Banken in den meisten Projekten zwischen 70 und 90 Prozent der Fremdfinanzierung, während die verbleibenden 10 bis 30 Prozent durch Eigenkapitalfinanzierung erworben werden. Erneuerbare Energien sind bereits jetzt zu einer der wichtigsten Säulen der deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen geworden. Deutsche Banken wie die DZ BANK AG finanzieren in der Türkei Großprojekte mit dem Hauptfokus auf Windparks, welche zum großen Teil auf deutschem Equipment und Know-how basieren.
Green Deal als Projekt für die Zukunft
Was bereits jetzt klar ist: Der Green Deal stellt das Zukunftsprojekt für die Post-Covid-19 Welt dar. Mit der Rückkehr der USA zum Pariser Klimaabkommen und dem hochrangigen Klimagipfel unter Präsident Joe Biden am 22. April wird es auch in den transatlantischen Beziehungen eine wichtige Rolle spielen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte bei ihrem letzten Besuch in Ankara auch explizit, dass im Rahmen einer positiven Agenda eine Möglichkeit zur stärkeren Zusammenarbeit mit der Türkei gemeinsame Anstrengungen im Bereich einer grünen Transformation sein können.[v]
Eine koordinierte und intensive Zusammenarbeit mit der Türkei im Bereich der grünen Transformation ist angesichts der engen wirtschaftlichen Verflechtungen und Handelsbeziehungen von entscheidender Bedeutung und bietet in politisch angespannten Zeiten ein Zukunftsprojekt von dem alle Seiten profitieren können.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass der EGD als Chance und nicht als Hindernis für Länder wie die Türkei betrachtet wird. Die „grüne Transformation“ sollte als eine nachhaltige Wachstumsstrategie gesehen werden, die mit den Klimazielen vereinbar ist und die wirtschaftliche Entwicklung und weiteren Integration der Türkei in die Europäische Union unterstützt. Die von der KAS und TÜRKONFED finanzierte Studie zeigt ferner, dass gerade die KMU die treibende Kraft bei der Schaffung von sowohl Beschäftigung als auch Innovation sein können, indem sie die Chancen nutzen, die die grüne Transformation bietet.
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[i] TOBB (2021): SMEs in Turkey, unter: https://www.tobb.org.tr/KobiArastirma/Sayfalar/Eng/SMEsinTurkey.php
id="[ii]">[ii] Die Studie in türkischer Sprache mit einer englischsprachigen Executive Summary ist unter folgendem Link abrufbar: https://turkonfed.org/Files/ContentFile/turkonfed-avrupa-yesil-mutabakati-ve-kobiler-6900.pdf
id="[iii]">[iii] Cohen, Ariel (2020): Turkey Finds Enormous Gas Field In The Black Sea — But Tricky Process Ahead, unter: https://www.forbes.com/sites/arielcohen/2020/09/18/turkeys-new-natural-gas-find-in-the-black-sea-exciting-but-tricky-process-ahead/?sh=33acfd3a5a86
[iv] WindEurope (2020): Financing and Investment Trends 2020, unter: https://windeurope.org/intelligence-platform/product/financing-and-investment-trends-2020/
[v] European Commission (2021): Statement by President von der Leyen following the meeting with Turkish President Erdoğan, unter: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/statement_21_1603