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Länderberichte

Türkei und Armenien streben Normalisierung der Beziehungen an

Mit der Unterzeichnung zweier Protokolle zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen und zur Grenzöffnung am 10. Oktober 2009 in Zürich haben die Türkei und Armenien einen historischen Schritt zur Normalisierung ihrer historisch belasteten Beziehungen unternommen. Nach zweijährigen Geheimverhandlungen unter Vermittlung der Schweiz (aber auch anderer Länder) haben die Außenminister beider Länder mit ihrer Unterschrift unter die Dokumente dem Prozess der vorsichtigen türkisch-armenischen Annäherung eine vertragliche Perspektive gegeben.

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Auf dem Weg zu einer tatsächlichen Versöhnung und Ausgestaltung gutnachbarschaftlicher Beziehungen zwischen den beiden Nachbarländern sind allerdings noch eine Reihe schwieriger Hindernisse zu überwinden. Insbesondere müssen die Probleme der Vergangenheit gelöst werden. Darüber hinaus sind Vorbehalte, Misstrauen und Befürchtungen auf beiden Seiten noch stark verankert. Dies zeigte sich bereits während der Unterschriftszeremonie in der Aula der Universität Zürich, wo der Festakt noch im letzten Moment wegen Streitigkeiten über die Formulierungen in den Ansprachen der beiden Minister zu scheitern drohte. Nach intensiver Pendeldiplomatie einigten sich beide Delegationen mit dreistündiger Verspätung schließlich darauf, die ursprünglich für eine Stunde angesetzte Veranstaltung auf 7 Minuten zu kürzen und ohne Statements unter Anwesenheit der Außenminister der USA, Russlands, Frankreichs, der EU sowie der Schweiz abzuhalten.

Die beiden vom türkischen Außenminister Prof. Ahmet Davutoğlu und seinem armenischen Amtskollegen Edward Nalbandian unterzeichneten Dokumente legen die Grundlinien für die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen, für die Wiedereröffnung der seit 1993 geschlossenen Grenzen und die Ausgestaltung politischer, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und kultureller Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien fest. Nach deren Ratifizierung in den nationalen Parlamenten soll mit der Umsetzung der Protokollpunkte nach einer Frist von zwei Monaten begonnen werden.

Bereits am 22. April 2009 gab das türkische Außenministerium bekannt, dass sich die Türkei und Armenien auf einer „Roadmap“ zur Normalisierung der Beziehungen geeinigt haben. Die Ankündigung erfolgte am Vortag der traditionellen Ansprache des US-amerikanischen Präsidenten zum Armenischen Gedenktag am 23. April. Mit der positiven Geste wollte die Türkei verhindern, dass Präsident Barack Obama in seiner Rede die massenhafte Vernichtung armenischer Bürger im Osmanischen Reich im Jahre 1915 als „Völkermord“ bezeichnet. In der Tat vermied Obama diesen Begriff und benutzte – ähnlich wie einige seiner Vorgänger – den armenischen Ausdruck für „großes Unheil“. Damit wurde deutlich, dass die USA sehr daran interessiert sind, möglichst keine unnötige Strapazierung der guten Beziehungen zum strategischen Partner Türkei zu riskieren.

Am 6. September 2008 nahm der türkische Staatspräsident Abdullah Gül eine Einladung seines armenischen Kollegen Sersch Sarkissjan an und reiste zum WM-Qualifikationsspiel zwischen der Türkei und Armenien in die armenische Hauptstadt Eriwan. Dies war der erste Besuch eines türkischen Präsidenten im armenischen Nachbarland und der Auftakt für den jetzt diplomatisch besiegelten Annäherungsprozess. Am 14. Oktober 2009 wird Präsident Sarkissjan als Gast zum Rückspiel in der türkischen Stadt Bursa erwartet.

Ob und wann es zu einer Ratifizierung der Protokolle durch die Parlamente beider Länder kommt – eine Voraussetzung für die konkrete Umsetzung der vorgesehenen Normalisierung der Beziehungen – ist ungewiss. Sowohl in der Türkei als auch in Armenien gibt es erheblichen Widerstand gegen diesen Prozess. Die türkischen Oppositionsparteien CHP (Republikanische Volkspartei) und MHP (Nationalistische Aktionspartei) haben scharfe Kritik an dem Abkommen geübt und angekündigt, im Parlament gegen die Protokolle zu stimmen. Zwar verfügt die Regierungspartei AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) über eine komfortable Mehrheit in der Nationalversammlung, einen Alleingang in einer politisch so sensiblen Frage kann und will sie sich jedoch nicht leisten.

Es gibt zwei Streitpunkte, die in den beiden Protokollen nicht explizit erwähnt werden, die aber für einen Fortschritt im Annäherungsprozess von entscheidender Bedeutung sind:

  • Die „Genozidfrage“, d. h. die Armenierverfolgungen im Osmanischen Reich von 1915 bis 1923. Während die Armenier von einem Völkermord an 1,5 Millionen ihrer Landsleute sprechen, geht die offizielle türkische Geschichtsschreibung von Gewalthandlungen im Rahmen von „Kriegswirren“ mit einigen hunderttausenden Opfern aus. Vorgeschlagen wird, eine gemeinsame türkisch-armenische Historikerkommission zu gründen, die Zugang zu allen wichtigen Archiven bekommen und das Thema neu aufarbeiten soll. Die armenische Seite sieht dieses Vorhaben skeptisch, die einflussreiche armenische Diaspora lehnt es kategorisch ab.
  • Die Zukunft der armenischen Enklave „Nagornyj-Karabach“ in Aserbaidschan. Die Türkei hatte nach der Besetzung des mehrheitlich von Armeniern besiedelten Gebiets durch armenische Truppen 1993 aus Solidarität mit Aserbaidschan die Grenzen zu Armenien geschlossen. Ein Rückzug der Armenier sowie eine Lösung des Status der Bergregion innerhalb aserbaidschanischer Souveränitätsansprüche setzt die Türkei als Bedingung für die Öffnung der Grenzen zu Armenien voraus. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan bestätigte diese Forderung, als er am Tag nach der Protokollunterzeichnung sagte, die Türkei werde sich nicht auf Armenien zubewegen, solange das Nachbarland seine Truppe nicht aus Aserbaidschan abgezogen habe. Armenien lehnt ein solches Junktim ab.
Zwar gibt es Meldungen darüber, dass die durch die OSZE im Rahmen der „Minsk-Gruppe“ unter amerikanischem, russischem und französischem Vorsitz vermittelten Verhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan zur Lösung des Karabach-Konflikts Fortschritte machten, offizielle Bestätigung dafür gibt es allerdings nicht.

Aserbaidschan steht dem türkisch-armenischen Annäherungsprozess skeptisch gegenüber. Der türkische Ministerpräsident und sein Außenminister reisten etliche Male nach Baku, um zu versichern, dass die Annäherung an Armenien auf keinen Fall zu Lasten der Interessen Aserbaidschans gehen und die Türkei auch weiterhin solidarisch zum türkisch-ethnischen Brudervolk der Aserbaidschaner stehen würde. Aserbaidschans Staatspräsident Ilham Alijew zeigte sich trotzdem verärgert. Im Sommer 2009 kam es sogar zu einer vorübergehenden Krise, als Aserbaidschan kurzfristig die Erhöhung der Gaspreise für die Türkei ankündigte und sogar eine Einstellung der Gaslieferung in Erwägung brachte. Aserbaidschanisches Gas ist insbesondere für das von der EU unterstützte und in diesem Jahr begonnene Projekt des Baus einer durch die Türkei führenden Gaspipeline „Nabucco“ von strategischer Bedeutung.

Auf der anderen Seite stehen Vorteile, die eine Normalisierung der armenisch-türkischen Beziehungen für beide Länder und die Region insgesamt bringen würde.

  • Die Türkei könnte ihre neue außenpolitische Doktrin „Kein Konflikt mit den Nachbarn“ erfolgreich umsetzen. Der Einfluss der aufstrebenden Regionalmacht Türkei würde deutlich zunehmen und ihre geopolitischen Spielräume würden sich erweitern. Insbesondere Türkeis Ambitionen, sich zu einem wichtigen Drehpunkt für Energie- und Transportwege zwischen Asien und Europa zu etablieren, würden mit der Öffnung der Grenzen zu Armenien Aufschub bekommen. Auch positive wirtschaftliche Effekte, vor allem in den unterentwickelten osttürkischen Provinzen, sind mit der Grenzöffnung zu erwarten. Und nicht zuletzt wären eine positive Auswirkung auf die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union und eine Verbesserung der Beziehungen zu den USA, die an einer Stabilisierung in der Region stark interessiert sind, für die Türkei ein wichtiger Gewinn.
  • Für Armenien gibt es zur Annäherung an die Türkei im Prinzip keine Alternative, wenn es sich aus der geographischen und wirtschaftlichen Isolation und der einseitigen Abhängigkeit von Russland befreien will. Der Weg nach Europa führt über die Türkei. Dies steht jedoch nicht im Interesse Russlands, so dass eine Einbindung dieser Großmacht in den Prozess von großer Bedeutung ist.
Die Unterzeichnung der Protokolle zur Normalisierung der türkisch-armenischen Beziehungen ist ein wichtiger Schritt, der Chancen für eine Stabilisierung und Entwicklung in der Region bietet. Allerdings sind die eigentlichen Probleme, die das Verhältnis beider Länder belasten, nicht gelöst und die Fortsetzung dieses Prozesses somit ungewiss. Internationale Unterstützung und Vermittlung, vor allem seitens der EU, der USA aber auch Russlands, sind deshalb für den Erfolg der Initiative sehr wichtig.

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Sven-Joachim Irmer

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