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Weitere Verhaftungen im Fall „Ergenekon“

Verbotsverfahren gegen AKP in der Endphase

Die jüngste Verhaftungswelle im Rahmen der Ermittlungen gegen eine ultranationalistische Untergrundorganisation mit der Bezeichnung „Ergenekon“ und deren zeitliche Nähe zu den Verhandlungen im Verbotsverfahren gegen die regierende Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) vermitteln den Eindruck, dass es sich hier um eine Zuspitzung des Machtkampfes zwischen den religiösen und säkularen politischen Kräften in der Türkei handelt.

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Eine genauere Analyse der zugänglichen Informationen ergibt ein etwas komplexeres Bild, das sich nicht nur auf die Beschreibung eines religiös-säkularen Konflikts reduzieren lässt. Zwar versuchen beide Seiten, die Ereignisse politisch zu instrumentalisieren und im jeweils eigenen Sinne zu interpretieren, einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen dem Verbotsverfahren gegen die AKP und den Verhaftungen gibt es aber vermutlich nicht.

Die Ermittlungen zum Fall „Ergenekon“ laufen offiziell seit Juni 2007. Auslöser war der Fund von Handgranaten, TNT-Stangen und Zündern bei einer Hausdurchsuchung im Istanbuler Stadtteil Ümraniye, die Mitgliedern einer nationalistischen Gruppierung zugeordnet werden konnten. Als sich herausstellte, dass Granaten derselben Produktionsserie bereits bei früheren Straftaten benutzt worden waren, startete die Polizei umfangreiche Untersuchungen. Auf dem Computer des pensionierten Unteroffiziers Oktay Yıldırım stellte die Polizei ein Dokument mit dem Titel „Ergenekon“ sicher, in dem die Struktur und Ziele eines paramilitärischen Geheimbundes gleichen Namens (Als „Ergenekon“ wird in einer Legende die mythische Urheimat der Türken bezeichnet) beschrieben werden.

Nach mehrmonatigen Ermittlungen und Observierungen wurden Anfang 2008 erste Festnahmen und Hausdurchsuchungen vorgenommen. Dabei wurden Dokumente sichergestellt, die Vorbereitungen für einen Staatsstreich belegen sollen. Zu den verhafteten mutmaßlichen Mitgliedern der Verschwörergruppe gehören Ex-Militärs, Rechtsanwälte, Geschäftsleute, Politiker und Journalisten, darunter auch bekannte Persönlichkeiten wie der pensionierte General der Gendarmerie Veli Küçük, der Vorsitzende der linksnationalistischen Arbeiterpartei (IP) Doğu Perinçek oder der Chefkolumnist der Tageszeitung „Cumhuriyet“ İlhan Selçuk.

Gerüchte über mögliche Umsturzpläne einer geheimen Verschwörergruppe wurden bereits im März 2008 durch die Zeitung „Nokta“ gestreut. Sie veröffentlichte Notizen aus einem angeblichen Tagebuch des früheren Marine-Admirals Özden Örnek, in denen über zwei Putschpläne im Jahre 2004 berichtet wird und der damalige Kommandant der Gendarmerie General Şener Eruygur als Anstifter dieser Pläne dargestellt wird. Der Putsch sei am Widerstand des Generalstabs gescheitert. Admiral Örnek hatte die Echtheit der Tagebücher vehement bestritten

Anfang Juni 2008 wurde eine weitere Verhaftungswelle durchgeführt, bei der auch zwei hochrangige pensionierte Viersternegeneräle in Haft genommen wurden: Hurşit Tolon, ehemaliger Kommandant der 1. Armee, und Şener Eruygur, ehemaliger Chef der Gendarmerie. Als Vorsitzender des „Verbandes für das Gedankengut Atatürks“ gehörte Eruygur zu den Hauptorganisatoren der Massendemonstrationen gegen die AKP im Frühjahr 2007. Für mediale Aufmerksamkeit sorgte ebenfalls die Inhaftierung des Präsidenten der Handelskammer von Ankara Sinan Aygün und des Leiters des Hauptstadtbüros von „Cumhuriyet“ Mustafa Balbay. Insgesamt sollen im Zusammenhang mit den Ergenekon-Ermittlungen bislang über 100 Personen festgenommen und verhört worden sein.

Die jüngsten Festnahmen fanden am selben Tag statt, an dem Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalçınkaya sein Schlussplädoyer vor dem Verfassungsgericht im Verbotsverfahren gegen die AKP hielt. In manchen Medien wurde deshalb der Polizeizugriff als gezielter Schlag der Regierungspartei zur Einschüchterung der Opposition und als Warnung gegen das Militär interpretiert. Der Generalstab gab jedoch in einer Pressemitteilung bekannt, dass die Festnahmen der Ex-Generäle und die Durchsuchungen der Wohnungen und Büros in militärischen Gebäuden von der Militärpolizei in Anwesenheit eines Militärstaatsanwalts durchgeführt wurden. Im Übrigen würden die Polizeiermittlungen ganz im Einklang mit den geltenden Gesetzen geführt.

Am 14. Juli 2008 reichte der Istanbuler Oberstaatsanwalt Cengiz Engin die Anklageschrift zu den „Ergenekon“-Ermittlungen beim 13. Gericht für Schwere Straftaten in Istanbul ein. Die knapp 2500 Seiten umfassende Anklage gegen 86 Personen, von denen sich 48 bereits in Haft befinden sollen, basiert auf dem Antiterrorgesetz. Zwar wurden keine Details der Anklage mitgeteilt, im Wesentlichen wird den Beschuldigten jedoch die Mitgliedschaft in einer Terrororganisation, die Vorbereitung eines Staatsstreichs und die Aushöhlung der öffentlichen Ordnung vorgeworfen. Die bei der letzten Verhaftungswelle am 1. Juli 2008 festgenommenen Verdächtigten sind in der Anklageschrift noch nicht aufgenommen. Gegen sie soll weiter ermittelt werden. Das Gericht hat 15 Tage Zeit, um über eine Annahme der Klage zu entscheiden. Bis dahin unterliegt das Verfahren weiterhin der Geheimhaltung.

Trotz der offiziell verhängten Nachrichtensperre werden umfangreich und regelmäßig Detailinformationen über den Verlauf der Ermittlungen und den Inhalt der Beweisdokumente in den Medien veröffentlicht. Es ist deshalb schwierig, sich ein objektives Urteil zu schaffen. Die Opposition behauptet, dass insbesondere die regierungsnahen Medien gezielt mit Informationen versorgt würden, was eine politische Beeinflussung der öffentlichen Meinung vermuten lasse. In der Tat lässt die Fülle an Berichten über vermeintliche Putschpläne, geplante Mordanschläge, kriminelle Verstrickungen und terroristische Aktivitäten Spielraum für Verschwörungstheorien aller Art entstehen. Laut Zeitungsberichten sollen die bei den Durchsuchungen gefundenen Dokumente Hinweise darauf geben, dass etliche frühere schwere Straftaten von Mitgliedern der Ergenekon-Gruppe angestiftet oder durchgeführt worden sein könnten. Der Mord an dem Historiker Hablemitoğlu 2002, der Anschlag auf das Oberste Verwaltungsgericht im Mai 2006, der Granatenwurf auf die Redaktion der Tageszeitung „Cumhuriyet“ 2006, die Ermordung des italienischen Priesters Santoro 2006 in Trabzon, der Mord an den armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink 2007 und die Christenmorde in Malatya 2007 gehören zu den jüngsten bekannten Fällen. Einige Medien gehen sogar so weit, Verbindungen von „Ergenekon“ zur kurdischen PKK zu vermuten.

Die meisten Kommentatoren sind sich jedoch einig, dass mit dem Ergenekon-Prozess die Chance besteht, den Staat von gefährlichen und unkontrollierbaren illegalen Strukturen (dem viel diskutierten sog. „tiefen Staat“) zu befreien und somit die Demokratie und die Stabilität der Staatsordnung in der Türkei zu stärken.

AKP-Verbotsverfahren in Endphase

Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass sich die Türkei momentan inmitten einer schweren politischen Krise befindet. Das vom Generalstaatsanwalt Yalçınkaya eingeleitete Verbotsverfahren gegen die regierende Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei AKP beim türkischen Verfassungsgericht geht in die Endphase. Das Verfassungsgericht wird ab dem 28. Juli 2008 die Beratungen zum Verbotsantrag beginnen, ein Urteil wird binnen weniger Tage erwartet.

Der AKP wird in der Klage vorgeworfen, die Einführung eines islamischen Regimes anzustreben und somit die laizistische Grundordnung der Türkei zu gefährden. Dies belegt der Generalstaatsanwalt mit einer Liste von „Beweisen“, darunter u. a. die von der AKP initiierte Verfassungsänderung zur Aufhebung des Kopftuchverbotes an den Universitäten. Dem Verbotsantrag ist eine Liste von 71 AKP-Politikern (darunter Ministerpräsident Erdoğan und Präsident Gül) beigefügt, denen für 5 Jahre jegliche parteipolitische Tätigkeit untersagt werden soll. Die AKP hat in ihrer Verteidigung die Vorwürfe zurückgewiesen und u. a auf die Reformen verwiesen, die eine Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union ermöglichten.

Über den Ausgang des Verfahrens wird viel spekuliert. Im Juni 2008 hatte das Verfassungsgericht beschlossen, die vom Parlament mit den Stimmen der AKP-, MHP- und DTP-Abgeordneten beschlossene Verfassungsänderung zur Aufhebung des Kopftuchverbots an den Universitäten zu annullieren. Dies werteten die meisten Beobachter als wichtiges Indiz dafür, wie sich das Gericht in der Frage des AKP-Verbots entscheiden werde. Mittlerweile mehren sich wieder Stimmen, die eine Schließung der Partei für nicht wahrscheinlich halten und die Möglichkeit einer Kompromisslösung heraufbeschwören. Diesen Standpunkt vertritt auch die AKP-Führung in ihren öffentlichen Äußerungen.

Am 16. Juli 2008 legte der zuständige Berichterstatter des Verfassungsgerichts sein Gutachten zum AKP-Verbotsverfahren vor, in dem er sich gegen ein Parteiverbot ausspricht. Derselbe Berichterstatter hatte bereits im März den Richtern empfohlen, den Fall erst gar nicht anzunehmen. Das Gericht ist jedoch an die Empfehlungen des Berichterstatters nicht gebunden und ist diesen in anderen wichtigen Urteilen zuletzt auch nicht gefolgt.

Beobachter halten ein Verbot der AKP deshalb für möglich. Die AKP bereitet sich auf diesen Fall vor und hat bereits mehrere Strategien entwickelt. Als wahrscheinlich erscheint das Szenario, wonach eine möglichst rasche Neugründung der Partei unter einem anderen Namen und die Herbeiführung von vorgezogenen Neuwahlen angestrebt werden. Umfragen geben derzeit einer AKP-Nachfolgepartei unter der Führung Erdoğans gute Chancen für einen deutlichen Wahlsieg. Dies setzt jedoch voraus, dass es der AKP gelingt, möglichst einig in eine neue Parteiformation zu übergehen und dass Erdoğan nicht aus der Politik ausgeschlossen wird. Dabei sollte in Betracht gezogen werden, dass die AKP nicht politisch homogen ist und es durchaus Rivalitäten zwischen unterschiedlichen Parteiflügeln und Gruppierungen gibt. Kenner der politischen Szene weisen in diesem Zusammenhang auf den zunehmenden Einfuß der sog. „Fethullahcis“ hin, den Anhängern des islamischen Predigers Fethullah Gülen. Angeblich haben sie inzwischen wichtige Positionen, nicht nur in der AKP, sondern auch im Staatsapparat und der Polizei, inne.

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1. April 2008
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