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Veranstaltungsberichte

Justiz und Politik im post-revolutionären Maghreb

von Hatem Gafsi
Ein Kolloquium zur Beziehung von Justiz und Politik in Nordafrika nach 2011

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Die Protestwelle in Tunesien im Jahr 2011 leitete eine neue Phase in zahlreichen arabischen und nordafrikanischen Ländern ein. Die politische Entwicklung der maghrebinischen Länder folgte verschiedenen Dynamiken, die von der erfolgreichen Unterdrückung der Demonstrationen (Marokko), über den Ausbruch von gewalttätigen Konflikten (Libyen) bis zum Einsetzen eines demokratischen Transformationsprozesses (Tunesien) reichten. Jedoch leiteten die Protestbewegungen in allen nordafrikanischen Staaten Veränderungen und Reformen in Politik und Justiz ein.

Diese Veränderungen nahmen die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) und das Institut de recherche sur le Maghreb contemporain (IRMC) zum Anlass, Wissenschaftler/innen unterschiedlicher Disziplinen zu einem Kolloquium einzuladen, das sich mit der Entwicklung und Rolle von Übergangsjustizen in Algerien, Libyen, Marokko und Tunesien in den letzten sechs Jahren auseinanderzusetzte.

 

Die Frage wie sich die Justiz in Tunesien und Marokko als politischer Akteur nach 2011 neu positionierte, eröffnete die Diskussion. Malek Boumédiene gab einen Überblick zu den rechtlichen Institutionen in Tunesien und zu ihrem Engagement für die Unabhängigkeit der Justiz nach 2011. Sein marokkanischer Kollege Abderrahim El Maslouli erläuterte das politische Konzept der Rechtsreform in Marokko, sowie die verschiedenen Akteure und Herausforderungen. Mhamed Belali ergänzte Masloulis Ausführungen, indem er auf die zunehmende Politisierung und Radikalisierung des Richterstandes (vor allem der jungen Generation) hinwies.

Mit Blick auf Tunesien gingen Rabeb Ayari und Eric Gobe näher auf die Herausforderungen und Konflikte ein, die die Neugründung des Obersten Richterrates (CSM) nach sich gezogen hatte. Unterschiedliche Positionen der Anwaltschaft auf der einen Seite und des Richterstandes auf der anderen Seite zu den Aufgabenbereichen des Obersten Richterrates wurden deutlich. Die Haltung des tunesischen Richterstandes, präsentiert von Ayari, zielt auf eine weitgefasste Rolle des CSM ab, der von ihnen als das geeignetste Mittel erachtetet wird, um die Unabhängigkeit der Justiz zu gewährleisten. So sollen dem Obersten Richterstand neben der Nominierung und Kontrolle der Richter zusätzliche Befugnisse in der Ausbildung von Richtern und der Verwaltung des Justizwesens eingeräumt werden.

Die Haltung der Anwälte sieht eine deutlich begrenztere Befugnis des Obersten Richterrates vor. Globe erläuterte in seinem Vortrag die Gründe für das Misstrauen gegenüber dem Richterstand: Seit dem Ende des Regimes von Ben Ali komme das Organ der Kontrolle der Rechtsdienstleistungen seinem Auftrag, die Arbeit der Richter zu kontrollieren, nicht mehr nach. Zudem habe sich in den letzten Jahren die Korruption auch in den Rängen der Richter ausgebreitet.

Joseph-Désiré Som I machte in seinem Vortrag zum Verfassungsrecht bezüglich der Unabhängigkeit der tunesischen Justiz deutlich, wie die Erfahrungen unter Ben Ali heute auf das Maß der Kompetenzen Einfluss nehmen, das rechtlichen Institutionen eingeräumt wird, und wie sie die Beziehungen zwischen den verschiedenen staatlichen Gewalten in Tunesien beeinflussen. So sehen vor allem die Opfer des Justizsystems unter Ben Ali, die die Justiz als verlängerten Arm des autoritären Staates wahrnahmen, eine mögliche berufliche Selbstständigkeit des Richterstandes kritisch. Die Gefahr bestünde, dass Richter und andere Akteure des Justizwesens keiner Kontrolle unterlägen. Die Debatten, die in der Politik und der Zivilgesellschaft zu Auftrag und Unabhängigkeit der verschiedenen rechtlichen Institutionen Tunesiens geführt werden, müssten laut Som I im größeren Kontext des demokratischen Transformationsprozesses gesehen werden.

 

Mit dem Beitrag Nathalie Bernards verschob sich der geographische Fokus des Kolloquiums nach Ägypten, das nach den friedlichen Protesten im Jahr 2011 mit dem Ende des Mubarak Regimes ein Wiederstarken der autoritären Macht erfuhr. Vor allem die Beziehung von Justiz und Politik nach dem Militärputsch im Jahr 2013 stand im Fokus. Trotz der allgemeinen Unterstützung der ägyptischen Justiz für das Militär könne man vor allem in der Haltung der höheren rechtlichen Instanzen eine große Distanz zur Staatsmacht erkennen.

 

Der zweite Tag des Kolloquiums stand im Zeichen der Übergangsjustiz und Versöhnungspolitik in den nordafrikanischen Ländern. Cherif Ferjani verglich die tunesischen und marokkanischen Erfahrungen zur Übergangsjustiz. In Marokko entwickelte sich diese aus einem allgemeinen politischen Öffnungsprozess, der von der Staatsmacht initiiert und kontrolliert wurde, um einer Radikalisierung der Proteste vorzugreifen. In Tunesien hingegen war die Übergangsjustiz das Ergebnis eines revolutionären Bruches mit dem alten Regime. Die Aufgabe der Übergangsjustiz, so Mariem Guetat, sei es, den Rechtsbrüchen und Unterdrückungen des alten Regimes zu begegnen und einen nationalen Versöhnungsprozess einzuleiten.

Den Versöhnungsprozess in Marokko, der durch die Kommission Instance Equité et Reconciliation (IER) institutionell verankert wurde, beschrieb Marouane Laouina als selektiv. Sie verwies auf die Proteste im Jahr 2013, die eine intensiviere Beschäftigung der IER mit Menschenrechtsverletzungen forderten.

 

Weitere Beiträge beschäftigten sich ausführlicher mit spezifischen Aspekten der Übergangsjustiz in Tunesien. Walid Ferchichi thematisierte das Verhältnis von Recht, Geschichte und Nationalgedächtnis. Der tunesische Staat vertraute die Aufgabe der Sammlung und Interpretation der Erinnerungen an das Regime Ben Alis der Institution Instance Vérité et Dignité (IVD) an, die im Jahr 2013 geschaffen wurde. So entstand ein politisches Mittel, das ein kollektives Gedächtnis der tunesischen Nation zu den Verfehlungen der Diktatur Ben Alis kreiert und kontrolliert.

Emna Sammari erinnerte daran, dass laut Gesetz die Aufgabe der IVD die Untersuchung und Identifikation von Menschenrechtsverletzungen während des Zeitraumes vom Juli 1955 bis Dezember 2013 sei. Hierzu wurde sie mit zahlreichen Befugnissen und Rechten ausgestattet, um rechtliche Verfahren einzuleiten und Opfer finanziell zu entschädigen. Die Arbeit der IVD wurde jedoch durch unzureichende finanzielle Ausstattung, eingeschränkten Zugang zu Archiven und kontinuierliche Angriffe von Seiten der politischen und wirtschaftlichen Elite seit den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2014 erheblich erschwert. In den Diskussionen zur Rolle der IVD im Transformationsprozess trat deutlich der Konflikt zwischen den Unterstützern der IVD und denjenigen, die mit einem Straferlass die vergangenen Verfehlungen hinter sich lassen möchten, zu Tage. Ein Ausdruck der zweiten Position ist der Gesetzesentwurf zur „wirtschaftlichen Aussöhnung“, den Mohammed Limam näher erläuterte. Der Entwurf wurde im März 2015 von Beji Caid Essebsi vorgelegt, um dringend notwendige Investitionen in Tunesien zu fördern. In zwölf Artikeln werde das Ende von Strafverfolgung, -prozessen und -vollstreckung gegen öffentliche Funktionäre erklärt und Geschäftsleuten Amnestie für Devisenverstößen und Steuervergehen gewährt. Der Gesetzesentwurf des Präsidenten stehe nicht nur im starken Widerspruch zu der in der Verfassung verankerten Mission der IVD, sondern mache deren Arbeit obsolet.

Rabiha Hadj-Moussa und Enrique Klaus beschäftigten sich in ihren Beiträgen mit der medialen Aufarbeitung der Arbeit der IVD.

 

Gegen Ende des Kolloquiums präsentierten Mohamed Hbeel, Laetitia Bucaille und Mouloud Boumghar die Entwicklung der Übergangsjustiz in Libyen und Algerien.

Hbeel erläuterte in seinem Vortrag, dass es aufgrund des Bürgerkrieges und der Kämpfe in Libyen sowie aufgrund der Auflösung des Justizsystems unmöglich sei, die 2012 geschaffenen Gesetze zur nationalen Versöhnung und Übergangsjustiz umzusetzen.

Das Beispiel Algerien zeige laut Laetitia Bucailleeinen Versöhnungsprozess ohne die Schaffung einer Übergangsjustiz. In Algerien sei ein Weg eingeschlagen worden, der die Spaltung der algerischen Gesellschaft verstecken solle. Mouloud Moumghar bestätigte Bucailles Feststellung mit seinen Ausführungen zur Unterdrückung der friedlichen Proteste in Kabylie durch den algerischen Staat im Jahr 2001.

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Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog Subsahara-Afrika, Interimsleiter des Auslandsbüros Südafrika

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