Comptes-rendus d'événement
Die Ereignisse des letzten Jahres haben die Bürgerinnen und Bürger verunsichert. Bis zuletzt war sich die Europäische Union uneinig, wie mit den vielen Menschen umzugehen ist, die aufgrund von Krieg, politischer Verfolgung und Elend ihre Heimat verlassen mussten, um hier Schutz zu finden. Wie ist die Europäische Union in Zukunft in solchen Fällen aufgestellt und welchen Beitrag bei der Prävention und Bewältigung vermag das vereinte Europa zu leisten? Dies stand im Blickpunkt eines Forums des Europe Direct Informationszentrums Magdeburg in Trägerschaft der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Politisches Bildungsforum Sachsen-Anhalt, in Naumburg (Saale).
Die ehemalige Ministerpräsidentin des Freistaates Thüringen und jetzige Landtagsabgeordnete Christine Lieberknecht stellte eingangs ihres Vortrages klar fest, dass Europa an einem Scheideweg steht. Die Flüchtlingskrise ist dafür nicht die Ursache, hat aber eine umfassende katalysatorische Wirkung. In ihr spiegelt sich die aktuelle Situation Europas wie in einem Brennglas. Weitere Ursachen für die kritische Situation Europas sieht Lieberknecht in der Finanz- und Wirtschaftskrise, an deren Folgen immer noch gearbeitet werden muss. Ebenso spielen für sie der Brexit sowie die Vorboten der Wahlen im kommenden Jahr, in denen Populisten von links wie rechts die Oberhand gewinnen können, eine Rolle. Alles dies balle sich zu einer weiteren Gefahr für den Zusammenhalt und die Attraktivität der EU zusammen. Dies sei besonders kritisch vor dem Hintergrund, dass die polyglotten jungen Eliten Europas weltweit unterwegs und vernetzt seien.
In der Flüchtlingsthematik verwies Lieberknecht auf die mediale Berichterstattung und insbesondere auf die Bilder der größten Flüchtlingsbewegung seit dem zweiten Weltkrieg sowie deren unauslöschliche Einprägung in den Köpfen der Menschen. Neu daran sei jedoch nicht die Flüchtlingsbewegung als solche, neu seien ausschließlich die Massivität der Bilder sowie das Faktum gewesen, dass sich die Flüchtlinge von den Südländern der EU in Richtung der Nordländer und insbesondere in Richtung Deutschland bewegt haben. In diesem Zusammenhang erinnerte sie unter dem Stichwort Lampedusa an die enormen Belastungen Italiens, Spaniens und Griechenlands durch über Jahre hinweg anhaltende Flüchtlingsströme. Hier habe Europa nicht vermocht zu helfen. Die betroffenen Südstaaten seien von den nicht betroffenen Nordstaaten mehr oder weniger allein gelassen worden. Bereits hier seien erste Abschottungstendenzen einzelner Länder erkennbar gewesen, die sich mit Zuspitzung der Krisen der letzten Jahre quer über die Mitgliedsstaaten in unterschiedlichen Konstellationen und aus unterschiedlichen Ursachen verfestigt hätten. Um die Dimension der weltweiten Flüchtlings darzustellen, unterstrich Lieberknecht, dass nur ein Prozent aller Flüchtlinge bisher nach Europa gekommen seien. 86% befinden sich auf Binnenwanderungen, der Rest lebe in den Anrainerstaaten der Krisenländer.
Im Hinblick auf die europäischen Reaktionen auf die Entwicklung äußerte sie sich zufrieden mit der Stärkung von Frontex, dem Abschluss des Türkei- Abkommens und der damit möglichen NATO- Mission im östlichen Mittelmeer, dem Vorgehen gegen die Schleuser sowie der angepassten Definition sicherer Herkunftsstaaten. Deutlichen Anpassungsbedarf sieht sie bei den Schengen- und Dublinabkommen. Wesentlich mehr EU- Engagement forderte sie mit Blick auf die Ursachenbekämpfung in den Herkunftsländern sowie bei der Unterstützung der Anrainerstaaten. Diese dürfe sich nicht nur auf monetäre Unterstützung beziehen sondern müsse auch Empathie vor Ort beinhalten. In ihrem Fazit kam sie dem Schluss, dass die Zukunft der EU trotz aller derzeitigen Entwicklungen beherrschbar bleiben könne. Zu beachten seien dabei allerdings die drei „E“: Erinnerung an die gemein-samen Wertegrundlagen, Ertüchtigung der EU für die Zukunft, Ehrlichkeit im Umgang mit- und untereinander, wozu auch eine konstruktive Betrachtung Brüssels gehöre.
Olaf Wientzek schloss sich der Beurteilung der Lage durch Lieberknecht weitgehend an. Der KAS- Koordinator für Europapolitik verwies auf die weitgehend guten Reaktionen der EU auf den Flüchtlingskrise in den letzten Monaten und Jahren, die u.a. dazu geführt haben, dass sich der Flüchtlingsstrom über die Balkanroute zu 85% verringert hat. Ebenso verwies er auf die Fortschritte bei der Seenotrettung sowie bei der digitalisierten Registrierung von Flüchtlingen, die Missbrauch von Aufenthaltsrechten weitgehend verhindere. Mit Blick auf die Schwächen unterstrich er, dass der Mangel an Solidarität unter den Mitgliedsstaaten einhergegangen sei mit nicht umgesetzten EU-Recht in einzelnen Mitgliedsstaaten. Diese Situation führt bspw. dazu, dass bisher noch kein Konsens über eine lastengerechte Verteilung der Flüchtlinge gefunden werden konnte. Seiner Ansicht sei auch die zukünftige Stabilität des Türkeiabkommens zu hinterfragen. Dieses sei allerdings ein wichtiger und erhaltenswerter Baustein zur Bewältigung der Flüchtlingsströme, weil es eine Zusammenarbeit der Türkei und Griechenlands unter dem Dach der NATO ermöglicht, was für die Stabilität des östlichen Mittelmeeres unverzichtbar sei. Weiteren dringenden Handlungsbedarf sieht er bei der Angleichung von Asyl- und Aufenthaltskriterien, der lastengerechte Verteilung der Flüchtlinge, der Ausweitung der Zusammenarbeit der EU mit den Krisen- und Anrainerstaaten sowie die Ausweitung der Definition sicherer Drittstaaten und die Umsetzung europäischer Rechtssetzung in nationales Recht.
Peter Bauch betrachtete das geographische europäische Umfeld und stellte fest, dass eine realistische Lagebeschreibung nach wie vor fehlt. Er forderte deshalb eine zeitnahe Betrachtung sowie eine möglichst bald einsetzende Stabilisierung der europäischen Anrainerstaaten. Dieses sei sowohl im Hinblick auf die politischen Entwicklungen als auch im Hinblick auf die demographischen Entwicklungen in den Anrainerregionen das Gebot der Stunde. Hier vermisse er deutlich höheres Engagement der EU bspw. in Libyen, Syrien dem Irak und einzelnen afrikanischen Staaten. Es sei absehbar, dass diese Staaten unabhängig von ihrer weiteren politischen Entwicklung die Armutsspirale ohne Hilfe nicht in den Griff bekommen werden. Die davon betroffenen Menschen können jedoch im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung einen „Just in Time Vergleich“ machen, unter welchen Bedingungen sie in ihrem Heimatland leben müssen bzw. in einem anderen Land leben könnten. Der Politikwissenschaftler zog als Fazit, dass sich die EU in diesem Umfeld behaupten müsse. Zukünftige Migrationswellen seien jedoch nur zu verhindern, wenn in den Anrainerregionen stabile und friedliche Verhältnisse herrschen, die u.a. auch zu einem bescheidenen Wohlstand der Bevölkerung beitragen.
In der Diskussion, moderiert vom Landtagsabgeordneten Daniel Sturm, kamen folgende Themen zu Sprache: Eindruck darf sich nicht verfestigen, dass Missbrauch von Asylrecht gleichwohl zu einem Bleibestatus verhilft; Offenheitsgefälle der europäischen Mitgliedsstaaten; Deutschland muss seine Interessen klar formulieren; bestehende Gesetz müssen umgesetzt werden; Europa muss auf eigenen Füßen stehen, insbesondere wenn klassische Partner wie USA wegbrechen; europäische Rechtssetzung im Asylbereich braucht ähnliche Regelungsdichte wie bei Eurorettung.