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Reportages pays

Konfiszierte Revolution

Tunesien zwei Jahre nach dem Sturz Ben Alis

Eine der Lehren, die die Geschichte im Kontext gesellschaftlicher und systemischer Umbrüche parat hält, ist stets auch die, dass Revolutionen in den seltensten Fällen von denen erfolgreich gestaltet und in eine neue politische Realität getragen werden, die sie anfänglich ausgelöst und mehrheitlich mitgetragen haben.

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Gut zwei Jahre nach der spektakulären Flucht oder Vertreibung des ehemaligen tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali scheint sich diese Feststellung auch mehr und mehr im Bewusstsein der Tunesierinnen und Tunesier breit zu machen. Die Rede von der Revolution ist und bleibt dabei gleichwohl ein wenn nicht historisches, so doch soziologisch wichtiges Narrativ, das im Kontext der konfliktreichen Gemengelage des Landes zumindest noch ein wenig an die euphorisierenden, Hoffnung gebenden Bilder der Avenue Bourguiba in den ersten beiden Januar-Wochen des Jahres 2011 erinnert.

Das berühmte „Degage“, „Hau ab“, die Rufe nach „Freiheit“, „Würde“ und „Arbeit“ , die eine ganze Region aus einer politischen Lethargie erweckten, sind auch zwei Jahre danach nicht weniger relevant. Denn zunehmend stellen sich Tunesier und Tunesierinnen selber die Frage, ob es je eine echte Revolution gegeben habe, da die Entscheidung, Ben Ali mit seiner Familie außer Landes zu bringen, zugegebenermaßen unter dem Druck der Straße fiel, jedoch vorrangig aus dem innersten Zirkel der Machteliten, die zu diesem Zeitpunkt keinerlei weiterreichende und vor allem legitimierte Idee hatten, wie mit dem entstehenden Machtvakuum umzugehen sei.

Diese Lesart drängt sich auch vor dem Hintergrund der Entscheidung der Nationalen Verfassungsgebenden Versammlung vom 19. Dezember 2012 auf, mit der der offizielle Titel des 14. Januars geändert wurde, indem das Datum der Selbstverbrennung Mohamed Bouazizis als symbolischer Beginn der revolutionären Aufstände integriert wurde. Am 14. Januar feiern die Tunesier folglich den Tag „der Revolution der Freiheit und Würde, 17. Dezember 2010 – 14. Januar 2011“. Eine Namensänderung, die die revolutionären Aufbrüche im Dezember 2010 mit den putschartigen Entscheidungen des 14. Januar 2011 in eine Perspektive rücken soll.

Wie auch immer die Ereignisse interpretiert werden, für die Tunesier stellt sich gut zwei Jahre nach der Revolution die Frage nach der Bilanz mit Blick auf den demokratischen Übergang. Entspricht das post-revolutionäre Tunesien den Erwartungen derjenigen, die sich gegen das autokratische Regime erhoben haben, gegen die Marginalisierungen und gegen die Arbeitslosigkeit? Die Antwort auf diese Frage wird nicht einfach zu finden sein, sie ist vor allem Abhängigkeit von der Position des Betrachters. Gewiss ist sicher, dass sich Tunesien erheblich verändert hat, gleichwohl bleibt qualitativ danach zu fragen, ob die Veränderungen ausreichend tiefgehend sind, um über einen wirklichen Bruch mit alten Praktiken und Strategien sprechen zu können.

Regierung unter Druck

Auf der politischen Ebene zeigt die Koalitionsregierung der Troika (islamistische Ennahda-Partei, Congrès pour la Republique (CPR), Ettakatol) derzeit keine ausreichende Entschiedenheit bei ihren Entscheidungsfindungen. Seit dem „Schwarzen Freitag“ (14. September 2012), den Übergriffen auf die US-amerikanische Botschaft und die amerikanische Schule, bot insbesondere der laxe Umgang mit den radikalen Salafisten immer wieder Anlaß zur Kritik, die Regierung und dabei insbesondere die dominierende Ennahda sei nicht willens und in der Lage, das staatliche Gewaltmonopol zu gewährleisten, was teilweise heftige Kritik selbst innerhalb der drei Regierungsparteien provozierte.

Zusammengesetzt aus einer Mehrheit von Ministern, die der islamistischen Ennahda-Partei angehören, die ihrerseits wiederum die Ministerien der nationalen Souveränität besetzen, ist es vor allem das Bild das die Ennahda abgibt, welches derzeit die öffentliche Wahrnehmung bestimmt. Die Opposition ihrerseits wirft der Regierung immer wieder die Inkompetenz in der Wahrnehmung und Erledigung der Staatsgeschäfte vor, aber zugleich auch die fehlende Flexibilität, wenn es darum geht, einen breiteren nationalen politischen Konsens zu definieren. Für die beiden kleineren Koalitionspartner stellt sich die Situation noch schwieriger dar: Ettakatol laufen die Mitglieder davon, CPR verliert mehr und mehr an Sympathie unter denjenigen, die sich noch am 23. Oktober 2011 für die Partei des Menschenrechtsaktivisten und jetzigen Präsidenten Monzef Marzouki entschieden hatten. Die riskante Allianz, die diese beiden demokratischen Parteien mit den Islamisten eingegangen sind, hat sie viel Glaubwürdigkeit bei den Tunesiern einbüßen lassen. Der Mangel an Kompetenzen und Vorrechten hat aus dem Präsidentenamt von Marzouki mehr ein repräsentatives Amt gemacht denn als eine Schlüsselposition zur Entscheidungsfindung, was zusätzliche Spannungen zwischen CPR und Ennahda verursacht hat.

Andererseits hat die politische Szene in den letzten Monaten Entwicklungen erfahren, die das Resultat der nächsten Wahlen entscheidend beeinflussen könnten. Der Aufstieg der Partei „Nidaa Tounes“ („Der Ruf Tunesiens“), gegründet vom ehemaligen Premierminister Béji Caid Essebsi, ist dabei die bemerkenswerteste und für die politische Landschaft derzeit markanteste Veränderung. Ennahda, bis zu diesem Zeitpunkt der dominierende politische Akteur, sieht sich seitdem einem politischen Mitbewerber mit Schwergewicht ausgesetzt. Nach den letzten Umfragen vom Dezember 2012 liegt Ennahda zwar immer noch mit knapp 30 Prozent als stärkste Kraft vorne, jedoch dicht gefolgt von Nidaa Tounes mit knapp 29 Prozent.

Die politische Bi-Polarisierung des Landes spiegelt sich insbesondere im Verhältnis dieser beiden politischen Kräfte wider. Der Versuch Ennahdas, Nidaa Tounes mit dem Verweis auf ehemalige RCD-Anhänger als Sympathisanten der Partei zu dämonisieren, ist weitgehend gescheitert. Zudem hat sich Ennahda durch die Verweigerung eines politischen Dialoges mit Nidaa Tounes weitgehend selber isoliert, und gerade die letzten Wochen und Tage haben gezeigt, dass die Islamisten ihre Boykotthaltung nicht weiter aufrecht halten können, wenn sie im Interesse des Landes einen Ausweg aus der politischen Krise finden wollen.

Über Nidaa Tounes hinaus arrangieren sich derzeit auch andere Parteien, um ein Gegengewicht gegen die noch dominierende Ennahda zu organisieren. Neben der Partei „Al Jounhouri“, die das Ergebnis einer Fusion mehrerer liberaler Parteien der Mitte ist, ist dies die Partei „Al Massar“. Am linken Rand der politischen Szene positioniert sich zudem die „Front Populaire“ als eine politische Koalition linker Parteien und Vereinigungen. Während die politischen Parteien nach einer Phase der Konsolidierung und Zusammenschlüsse gleichwohl noch in einem Aufbauprozess sind, war es insbesondere der tunesische Gewerkschaftsverband UGTT (Union Générale des Travailleurs Tunisiens), der wieder einmal mehr seine politische Verantwortung und seine Bedeutung auch als politischer Akteur unter Beweis gestellt hat.

Nach den Angriffen von Anhängern der „Liga für den Schutz der Revolution“, die weitgehend als Miliz und verlängerter Arm der Ennahda wahrgenommen wird, gegen die Zentrale der Gewerkschaft, hatte diese zu einem landesweiten Generalstreik für den 13. Dezember 2012 aufgerufen und diesen erst in letzter Minute nach Einlenken der Regierung und Formulierung eines Kompromisses mit der Gewerkschaft abgesagt; es wäre erst der zweite Generalstreik überhaupt in der Geschichte des unabhängigen Tunesiens gewesen. Einer der Kompromisse, die die Gewerkschaft, unterstützt von breiten Teilen der Zivilgesellschaft und den Oppositionsparteien der Regierung abgerungen hatte, war die einer Kabinettsumbildung, die seit Mitte Dezember nahezu täglich auf der politischen Agenda steht.

Diese sollte nicht nur zum Ziel haben, dass mit 81 Minister- und Staatssekretärsposten umfassendste Kabinett in der Geschichte des Landes auf eine adäquate und arbeitsfähige Größe zu reduzieren, sondern insbesondere die Schlüsselministerien, die bislang von Ennahda gehalten werden, mit unabhängigen Technokraten zu besetzen. Schwerfällig reagiert die Regierungskoalition damit auf die insbesondere von der Opposition, aber auch weiten Teilen der Zivilgesellschaft bemühte Argumentation, die Regierung habe ohnehin seit dem 23. Oktober 2012 ihre juristische Legitimität verloren, da das Wahldekret zu den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung von 2011 dem Übergangsparlament und infolge sodann auch der Regierung exakt den Zeitrahmen von einem Jahr zur Erarbeitung der Verfassung gelassen habe, und dies zählend ab dem Zeitpunkt der Wahlen, die am 24. Oktober 2011 stattfanden.

Folglich argumentieren Opposition und unzufriedene Teile der Zivilgesellschaft kalkulierend, aber nicht ganz zu Unrecht, dass seit dem 23. Oktober 2012 eine rechtliche Legitimität weder des Parlaments noch der Regierung nicht gegeben und eine solche in der kritischen Übergangsphase nur durch eine Regierung der nationalen Einheit zu erlangen sei, um zumindest einen klaren Fahrplan für die Fortsetzung des ins Stocken geratenen politischen Prozesses festzulegen. Ennahda und die Koalitionspartner haben sich diesen Argumenten lange versperrt, jedoch scheinen die zahlreichen politischen Krisen, auch Fehleinschätzungen der Regierung, offensichtliche Zurschaustellung der Uneinigkeit der Troika zu der Einsicht verholfen zu haben, dass auf Koalitionsseite gar keine andere Möglichkeit mehr besteht, als eine breitere Basis für das aktuelle Regierungshandeln zu schaffen. Demzufolge bestätigten verschiedene Vertreter der Troika, dass es am 2. Jahrestag der Revolution nunmehr zu einer umfassenden Regierungsumbildung kommen werde, wobei derzeit noch völlig unklar ist, ob diese doch wieder nur koalitionsintern erfolgt oder in der Tat auf eine Verbreitung des politischen Konsenses abzielt, der derzeit so dringend notwendig wäre. Aufmerksam werden in jedem Falle derzeit die Stellungnahmen von Ennahda-Vertretern zur Kenntnis genommen, demnach man nunmehr auch einen Dialog mit Nidaa Tounes nicht mehr ausschließe.

Verfassung bleibt von zentraler politischer Bedeutung

Kernprojekt der politischen Transition in Tunesien bildete von Beginn an die Erarbeitung einer neuen Verfassung für die Zweite Republik, und dies war auch Grundlage für das Mandat der aus den Wahlen vom Oktober 2011 hervorgegangenen Verfassungsgebenden Versammlung. Doch auch an dieser Front erleben die Tunesier und Tunesierinnen keine wirklichen Fortschritte. Nachdem ein erster Entwurf im September veröffentlicht wurde, provozierten unklare, teilweise selbst widersprüchliche Aussagen innerhalb des Entwurfs zur Gleichheit von Mann und Frau sowie zum Schutz des nebulös gehaltenen „Heiligen“ erhebliche Proteste auf Seiten der Opposition. Regierungskritiker sahen an diesen Beispielen die evidenten Beweise, dass die Ennahda, nachdem sie ihre kleinen Koalitionspartner domestiziert hatte, dabei sei, ein neues, religiös aufgeladenes Gesellschaftsbild für Tunesien zu konzipieren, dass zur aufgeklärten tunesischen Tradition im Widerspruch steht.

Aber es waren nicht nur diese ideologischen Kämpfe, die erneut für Verzögerung sorgten, sondern wie Verfassungsrechtler immer wieder feststellten einfach die unsachgemäße Verwendung von Termini, die für eine Verfassung zumindest als ungewöhnlich einzustufende Sprache, die immer wieder religiöse Reminiszenzen zu Tage fördert, die die Arbeiten und eine Einigung auf wesentliche Bestandteile so schwierig machten. Kernfragen wie nach dem politischen System, das folglich ein semi-präsidentielles sein soll, nach den Kompetenzen von Staatspräsident und Regierungschef scheinen geklärt, aber bislang noch nicht definitiv entschieden. Die wie auch immer sich präsentierende Verfassung wird einen Kompromiss der derzeit wirkenden Kräfte darstellen, gleichwohl wird von einem zügigen Abschluss der Arbeiten an dem Entwurf eine entscheidende politische Symbolkraft für den Transitionsprozess ausgehen, da erst daran zu messen sein wird, wie ernst es die Regierung, aber auch alle anderen politisch Beteiligten mit dem politischen Übergang, und nicht der dauerhaften Installierung desselben meinen.

Die Suche nach einem klaren und glaubwürdigen Fahrplan ist mit der Frage nach der Beendigung der Arbeiten an der Verfassung ebenfalls verbunden: Staatspräsident Marzouki hatte Ende Oktober unter dem zunehmenden politischen Druck den 23. Juni 2013 als Wahltag für die Wahlen zum Parlament und zum Amt des Staatspräsidenten angekündigt, mit dem 7. Juli 2013 als möglichem Tag für die Stichwahlen zur Wahl des Staatsoberhauptes. Je länger jedoch der verfassungsgebende Prozess dauert, so unwahrscheinlicher wird dieser Zeitplan, den manche Beobachter bereits jetzt für illusorisch halten. Das Wahldatum ist zudem vom Gesetz zur Schaffung der Unabhängigen Wahlkommission (ISIE) abhängig, das ebenfalls nach mehreren langwierigen Debatten endlich von der Verfassungsgebenden Versammlung verabschiedet wurde, über deren Einrichtung, insbesondere die Berufung entsprechender unabhängiger Personalitäten an die Spitze derselben, sich jedoch erneut Kämpfe entzündeten.

Kamel Jendoubi, der Leiter der vorherigen Wahlkommission, der lange auch als Spitzenkandidat für die neue Wahlkommission galt, gab einst als notwendige und seriöse Zeitspanne für die Vorbereitung der Wahlen den Zeitrahmen von acht Monaten an. Auch vor diesem Hintergrund scheint der Zeitplan für die Wahlen mehr und mehr ins Rutschen zu geraten.

Wirtschaftliche Alarmzeichen

Auch mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung stellen sich alarmierende Vorzeichen ein. Für den Monat Dezember hat Tunesien nach Angaben des Nationalen Instituts für Statistik eine Inflationsrate von 5,9 Prozent sowie ein erhöhtes Handelsdefizit zu verzeichnen, das sich 2012 um 36,7 Prozent im Vergleich zu 2011 erhöht hat. Nach Angaben der tunesischen Zentralbank hat das laufende Defizit gegen Ende des Monats November 7,5 Prozent des BIP erreicht. Die Finanzierung dieses Defizits kann allein mit Hilfe ausländischer Kredite oder Budgethilfe sowie durch ausländische Direktinvestitionen aufgefangen werden.

Am 12. Dezember 2012 hat die internationale Ratingagentur „Fitch Ratings“ ange-kündigt, die Bewertung für Tunesien mit Blick auf ausländische Devisen auf lange Sicht zu senken. Zudem wurde das Land der Kategorie „spekulativ“ zugeordnet, da „die wirtschaftliche und politische Transition des Landes sich als länger dauernd und schwieriger als vorgesehen erweist, und die mit dem Prozess verbundenen Risiken sich erhöhte haben“. Der Herabsenkung Tunesiens durch Fitch Ratings ist die Bewertung durch Standard & Poors im September 2012 vorausgegangen, wobei das Land der Kategorie der Länder mit sehr erhöhten Risiken zugeordnet wurde. Diese Einordnung Tunesiens macht deutlich, dass sich das Land einem großen Risiko ausgesetzt sieht, und dies insbesondere, was die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft sowie insbesondere das Kreditwesen angeht, dessen Finanzierung als äußerst fragil angesehen wird.

Auch mit Blick a uf die Arbeitslosenzahlen kann nur von einer leichten Verbesserung gesprochen werden, da die offiziellen Arbeitslosenzahlen gegen Ende des Jahres immer noch bei gut 800.000 lagen, und damit weiterhin bei gut 17 Prozent. Eine Prozentzahl, die nach Angaben des Ministeriums für berufliche Bildung und Beschäftigung bis 2017 mit Hilfe der nationalen Beschäftigungsstrategie (2013-2017) auf rund 10 Prozent gesenkt werden sollen. Die Absorbationskraft des tunesischen Arbeitsmarktes ist insofern erschöpft, als allein in den letzten fünf Jahren 313.000 neue Arbeitssuchende auf den Markt drängten. Hinzu kommt, dass es in der Vergangenheit insbesondere der öffentliche Bereich war, der entsprechende Beschäftigungsmöglichkeiten generierte. Auch die Übergangsregierung hat zu Beginn des Jahres angekündigt, 25.000 neue Arbeitsplätze im öffentlichen Bereich zu schaffen und durch einen nationalen Wettbewerb zu besetzen. Der private Sektor als eigentlicher Motor einer gesunden und marktkonformen Beschäftigungspolitik ist durch die Instabilitäten im Sicherheitsbereich sowie politische und soziale Friktionen stark getroffen.

Einige Firmen mussten ihre Tore schließen, andere haben von ihren Plänen, in Tunesien zu investieren, Abstand genommen. Erst in den letzten Wochen kehrte ein wenig Ruhe und Selbstvertrauen in den privaten Bereich zurück, was entscheidend dafür sein wird, um neue Investitionen anzuziehen. Die Zahlen der Agentur für ausländische Investitionen bestätigen entsprechend eine leichte Erholung, demnach ausländische Direktinvestitionen im Vergleich zu 2011 um 29,2 Prozent zugenommen hätten, wenngleich immer noch mit einem Minus von 9,2 Prozent mit Blick auf 2010. Für 2013 sind die Perspektiven nicht sehr vielversprechend, da insbesondere die ungeklärte politische Lage sowie Sicherheitsfragen das Investitions- und Geschäftsklima beeinträchtigen.

Die Soziale Frage bleibt

Infolge der unsicheren politischen und wirtschaftlichen Lage hat sich auch die soziale Frage nicht entspannt. Die kontinuierliche Preiserhöhung hat die Kaufkraft der Menschen erheblich gesenkt. In den Regionen des Landesinneren, von wo die Protestbewegungen im Dezember 2010 ihren Ausgang nahmen, besteht weiterhin das Gefühl der Marginalisierung und sozialen Ungerechtigkeit innerhalb der Bevölkerung. Mehrere Demonstrationen haben in diesen Landesteilen als Protest gegen die nicht gehaltenen Versprechen der Regierung mit Blick auf die in Aussicht gestellten Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen stattgefunden. Wenngleich die Erwartungen hoch waren, sicherlich weitgehend zu hoch und keine Regierung in der Kürze der Zeit die Fehler der Vergangenheit hätte beheben können, so ist doch eine für diesen Prozess fatale und explosive Unzufriedenheit in Sidi Bouzid, Siliana, Gafsa und an anderen Orten spürbar, die deutlich machen, dass die Menschen dort weiterhin auf die Revolutionsdividende warten. Der klassische Minengürtel im Süden Tunesiens ist eine der Regionen, die die meisten Demonstrationen und Streiks erfahren hat. Auslöser war hier das von der Bevölkerung als ungerecht wahrgenommene Rekrutierungsverfahren in zwei, dem Staat gehörenden Phosphat bzw. Chemie-Fabriken. Die Proteste entzündeten sich daran, dass nach Meinung der Protestler vor allem Anhänger der Ennahda-Partei bei der Rekrutierung berücksichtig wurden.

Die wiederholten Streiks haben die Produktion und den Export von Phosphat, eine der wenigen Rohstoffe des Landes, erheblich beeinträchtigt, so dass 2012 ein Rückgang von über 60 Prozent im Vergleich zu den Vorjahren zu verzeichnen war. Das Ministerium für Soziale Angelegenheiten hat festgehalten, dass die Anzahl der Streiks und Demonstrationen 2012 mit 391 um 19 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (426) zurückgegangen ist. Gleichwohl bleibt das soziale Klima angespannt, insbesondere so lange weite Teile der marginalisierten Bevölkerung weiterhin für sich konstatieren, dass sich nicht wirklich etwas zum Guten geändert hat.

Sicherheit im Fokus

Kaum ein anderer Bereich wie der Sicherheitssektor unterstreicht aus Sicht vieler Beobachter diesen Befund. Die Risiken, die mit der Infiltration terroristischer Gruppen ins Land verbunden sind, stellen eine der Hauptsorgen dar. Hinzu kommt der mehr oder weniger ungehinderte Waffenhandel über die südliche Grenze mit Libyen, wo sich die Sicherheitslage ebenfalls von Tag zu Tag zu verschlechtern scheint. Der Angriff auf die US-amerikansiche Botschaft sowie die amerikanische Schule im September 2012 haben auch die Gefahren deutlich gemacht, die von gewaltbereiten salafistischen Gruppen ausgehen. Das zögernde Handeln der Regierung, die sich erst allmählich der tatsächlichen Gefahr dieser zumeist aus dem Ausland unterstützten Gruppen gewahr wurde, hat hier international viel Vertrauen und Glaubwürdigkeit zerstört. Die „Liga zum Schutz der Revolution“ ist eine weitere Organisation, die derzeit in Tunesien für intensive Diskussionen sorgt, da sie sich nicht scheut, Gewalt in der politischen Auseinandersetzung einzusetzen. Ziele dieser politischen Gewalt waren bislang vor allem die Gewerkschaft UGTT sowie die Partei Nidaa Tounes, die bislang mehrere Male Opfer der Angriffe der Liga wurden. Bis heute verteidigt die Ennahda-Partei die Existenz der Liga, die Rached Ghannouchi, Präsident von Ennahda als eine „Errungenschaft der Revolution“ bezeichnet.

Offensichtlich ist, dass in der Einschätzung der Errungenschaften der Revolution die Meinungen der Tunesierinnen und Tunesier weit auseinandergehen. Die zunehmende politische Spannung und die Anwendung von Gewalt kann gewiss nicht dazu gezählt werden. Wenn das Land des Jasmins am 14. Januar 2013 zurückblickt auf die vergangenen zwei Jahre, dann gehört die neu gewonnene Freiheit jedoch sicherlich dazu. Doch diese Freiheit muss kultiviert werden. Die Herausforderungen werden bleiben, Tunesien wird noch viele Jahre brauchen, um eine neue politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung aufzubauen, die den berechtigten Wünschen der Menschen gerecht wird. Die Regierung könnte die Chance nutzen, diesen Tag als einen neuen Tag des Aufbruchs auf der Basis eines neuen nationalen Konsenses zu nutzen, unter Einschluss aller gesellschaftlichen Kräfte.

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