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IMAGO / ITAR-TASS
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Vereitelter Putsch in Armenien? Konflikt mit Kirchenführung eskaliert

Jerewan meldet die Vereitlung eines gewaltsamen Putsches mit Moskauer Handschrift

Am Nachmittag des 27. Juni 2025 kam es in Etschmiadsin, dem Hauptsitz des Oberhauptes der Armenisch-Apostolischen Kirche 20 km westlich von Jerewan, zu dramatischen Szenen. Spezialkräfte der Polizei waren angerückt, um Mikayel Adschapahjan in Gewahrsam zu nehmen. Der Erzbischof war gemeinsam mit anderen Kirchenführern schon vor Jahren und besonders in den vergangenen Monaten offen in Opposition gegen die Regierung gegangen, doch hunderte Menschen, darunter Geistliche und einfache Bürger, stellten sich den Uniformierten in den Weg, bis sich diese wieder zurückzogen. Als der Gesuchte sich am Abend den Behörden in Betonung seiner Unschuld freiwillig stellte, markierte seine Verhaftung nur eine von fünfzehn öffentlichkeitswirksamen Festnahmen innerhalb weniger Tage. Die Regierung Nikol Paschinjans spricht davon, einem gewaltsamen Staatsstreich zuvorgekommen zu sein. Kritiker werfen ihr vor, aus innenpolitischem Kalkül einen Feldzug gegen die armenische Kirche und Opposition zu führen und einen Ausverkauf des Landes an die Erzfeinde Aserbaidschan und Türkei zu betreiben. Die gesellschaftlichen Fronten scheinen verhärtet wie seit Jahrzehnten nicht. Ein Jahr vor den richtungsweisenden Parlamentswahlen im Sommer 2026 erfolgt die derzeitige Zuspitzung vor dem Hintergrund einer sich immer stärker polarisierenden Debatte um den Kurs des Landes, das außenpolitisch an einer historischen Wegmarke steht.

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Welkende Vorschusslorbeeren

Die Regierung Paschinjans war 2018 mit einem enormen Vertrauensvorschuss durch die Bevölkerung gestartet. Ins Amt getragen von der „samtenen Revolution“, einer historischen Welle an Massenprotesten gegen Korruption und Amtsmissbrauch durch die Vorgängerregierung, lag die öffentliche Zustimmung für den neuen Premier und seine Partei „Zivilvertrag“ anfangs bei spektakulären 85 Prozent1. Paschinjan, bereits seit 2012 Mitglied des armenischen Parlaments, setzte auf ein umfassendes Reformprogramm und Themen wie soziale Gerechtigkeit oder Korruptionsbekämpfung. Zwar war er für eine kritische Haltung gegenüber Russland bekannt, betonte aber weiter gute Beziehungen mit Moskau führen zu wollen – nicht zuletzt aufgrund der hohen Abhängigkeit bei Energie, Sicherheit und Wirtschaft. Zum Nachbarn Aserbaidschan hingegen ging Paschinjan auf Konfrontation, besonders als er im Sommer 2019 bei einem Besuch in der umstrittenen Region Bergkarabach (aus armenischer Sicht damals: „Republik Artsach“) deklarierte, diese sei „Armenien. Und Punkt“2. Ob und wie stark diese „Provokation“, wie von Kritikern behauptet, tatsächlich Bakus Entscheidung beeinflusste, im September 2020 eine militärische Offensive auf die Region zu starten und das Gebiet 2023 schließlich ganz einzunehmen, ist schwer zu belegen. Fest steht, dass seine innenpolitischen Gegner den Premierminister für diese vernichtende Niederlage und auch die damit einhergehende Flucht und Vertreibung von über 100.000 Karabach-Armeniern3bis heute verantwortlich machen.

 

„Reales“ Armenien an der Kreuzung des Friedens?

Paschinjan wiederum vollzog angesichts der neuen Situation eine fundamentale Kehrwende. Zur neuen Maxime seiner Politik erklärte er, das „reale Armenien“ in den Grenzen der (heutigen) Republik konsolidieren, zu seinen Nachbarn öffnen und zu einem regionalen Erfolgsmodell machen zu wollen, anstatt von der Rückeroberung verlorener Gebiete zu träumen.4 Bereits Wochen nach Kriegsende, im Oktober 2023, präsentierte die armenische Regierung einen visionären Plan namens „Crossroads of Peace“5, der die Öffnung seit Jahrzehnten geschlossener Grenzen sowie Investitionen in neue Konnektivitätsprojekte vorsieht, die neben den drei Südkaukasusländern auch die Türkei und den Iran einschließen. Seither wirbt Jerewan für das Projekt und eine Annäherung mit den Nachbarstaaten, inklusive der bisherigen Gegner. Studien zeigen, dass sich zwar eine überwältigende Mehrheit der Armenier Frieden mit Aserbaidschan wünscht, jedoch nur eine Minderheit glaubt, dass er tatsächlich möglich ist.6

Kritiker sehen in dieser Politik jedoch nicht die historische Chance zum geopolitischen Neustart mit Baku, sondern eine moralische Bankrotterklärung und den Ausverkauf armenischer Interessen an einen Erzfeind, der selbst gar kein aufrichtiges Interesse an Frieden und Aussöhnung habe, sondern den Prozess nur nutze, um einseitige Zugeständnisse abzupressen und schließlich den Deal platzen zu lassen. Zu den Forderungen Aserbaidschans zählen neben der politischen Anerkennung des Status Quo etwa die Änderung der armenischen Verfassung7, in der Baku weiterhin Gebietsansprüche gegen sein Territorium sieht, die Einstellung strafrechtlicher Verfahren vor Internationalen Gerichten oder die Auflösung der 1992 zur Beilegung des Bergkarabach-Konflikts geschaffenen Minsk-Gruppe der OSZE. Jerewan hat dazu zwar grundlegende Bereitschaft signalisiert, will diese Schritte aber als Teil des Friedensabkommens selbst sehen und nicht als Vorbedingungen ohne Zugeständnisse Bakus. Da aserbaidschanische Kommentatoren jedoch selbst regelmäßig mit teilweise exzessiven Gebietsansprüchen gegen Armenien kokettieren – von der Schaffung eines „Korridors“ durch den Süden des Landes bis hin zur Bezeichnung des gesamten Landes als „West-Aserbaidschan“ – und die Zerstörung armenischen Kulturguts in Berg-Karabach in Sozialen Medien in einer von vielen Armeniern als demütigend empfundenen Weise zur Schau gestellt wird, sitzt das Misstrauen tief. Der Druck auf Paschinjan ist enorm, vor den kommenden Parlamentswahlen Ergebnisse zu liefern, während der aserbaidschanische Präsident İlham Alijew keine Absicht erkennen lässt, den ausverhandelten Friedensvertrag zeitnah zu unterzeichnen.

 

Kritik aus der Kirche

Unter den Kritikern an Paschinjans Kurs tun sich Vertreter der Armenisch-Apostolischen Kirche einschließlich ihrem Oberhaupt, Katholikos Karekin II., besonders hervor. Zum einen versteht sich die älteste Staatskirche der Welt durch die Jahrhunderte ständiger, oft existenzieller Bedrohungen für das armenische Volk seitens übermächtiger, oft andersgläubiger Nachbarn als eine besondere Schutzinstanz armenischer Kultur und Identität. Die empfundene „Preisgabe“ von Bergkarabach – nicht nur im territorialen Sinne, sondern die „Inkaufnahme“ einer flächendeckenden Zerstörung von Kulturgut inklusive potenziell zahlreicher Kirchen – ruft ihren Widerstand auf den Plan.8 Rückenwind erhält sie dafür unter anderem aus der großen und einflussreichen armenischen Diaspora, denen insbesondere die jüngste Annäherung Jerewans mit Ankara ein Dorn im Auge ist. Viele Diasporaarmenier sind Nachkommen der Überlebenden des Völkermords von 1915 und anders als vorige Regierungen macht Paschinjan eine Anerkennung historischer Schuld durch die Türkei nicht mehr zur Vorbedingung für den Aufbau diplomatischer Kontakte.9

Andererseits hatten viele hohe Kirchenvertreter eine besondere Nähe zu den für Korruption und Misswirtschaft verschrienen Vorgängerregierungen und spätestens seit 2020 formierte sich eine immer offenere Allianz zwischen Kirchenleitung und Oppositionskräften aus dem Umfeld ebenjener alten Eliten. Nach dem Waffenstillstand vom Herbst 2020 rief der Katholikos Paschinjan öffentlich zum Rücktritt auf. Besonders hohe Wellen aber schlug im Frühsommer 2024 der Protest Erzbischof Bagrat Galstanjans. Die Regierung Paschinjans hatte nach dem endgültigen Verlust Bergkarabachs im Zuge der Grenzmarkierung um eine Mini-Enklave in der Region Tawusch eingewilligt, vier vormals besetzte Dörfer an Baku „zurückzugeben“.10 Der Gottesmann begann daraufhin aus Protest einen fünftägigen Fußmarsch auf Jerewan. Angekommen forderte er vor Zehntausenden den Sturz der Regierung und brachte sich selbst als Übergangspremier ins Spiel.11 Der Katholikos soll dies ausdrücklich unterstützt haben. Die Bewegung verlief zwar vorerst im Sande, doch ein böser Nachgeschmack und gegenseitiges Misstrauen bleiben.

 

Mehr Schein als heilig?

Dabei hat Paschinjans Politik seit seiner stabilen Wiederwahl 2021 in der armenischen Bevölkerung durchaus an Rückhalt verloren. Vorgeworfen werden ihm neben autoritären Tendenzen und fehlenden Reformfortschritten, dass er es in den eigenen Reihen nicht so genau nehme mit seiner Agenda der Korruptionsbekämpfung.12 Nicht nur der Jerewaner Bürgermeister schafft es etwa in diesem Zusammenhang immer wieder in die Schlagzeilen. Auch Paschinjans Lebensgefährtin, der schillernden Journalistin Anna Hakobjan, wird vorgeworfen, ein großes Bildungsprojekt ihrer Stiftung undurchsichtig mit Staatsgeldern zu finanzieren und damit verdeckten Wahlkampf zu treiben. Die Zustimmung für den „Zivilvertrag“ lag laut einer Studie vom Frühjahr 2025 nur noch bei etwa 15 Prozent, einem Wert, der allerdings weiterhin deutlich alle anderen Parteien übersteigt.13

Fast schon zeitlos hoch scheint hingegen der Zuspruch der Armenier zu ihrer Kirche – wenn man die Institution insgesamt betrachtet. Mit Blick auf handelnde Personen und Praktiken innerhalb der Kirche hingegen zeigt sich ein anderes Bild. Die Menschen wissen, dass nicht wenige hohe Kirchenführer gleichzeitig Unternehmen betreiben und es weder mit dem biblischen Armutsgebot noch den selbstauferlegten Zölibatsvorschriften besonders ernst nehmen. Dem Katholikos selbst wurde 2015 durch Investigativjournalisten vorgeworfen, sich aus Staatsgeldern bereichert und Mittel in Millionenhöhe auf ein privates Konto in die Schweiz geschafft zu haben.14

Experten weisen darauf hin, dass ein weiteres schizophren anmutendes Erbe auf Teilen der Armenisch-Apostolischen Kirche lastet. Ein bedeutender Anteil ihrer Priester soll in Zeiten der UdSSR als Agenten für den sowjetischen KGB tätig gewesen sein.15 Nicht nur wurde dies bislang unzureichend aufgearbeitet, sondern bis heute machen viele Kirchenobere keinen Hehl aus ihrer großen Nähe und Sympathie für Russland. Viele Priester durchlaufen dort ihr Studium und teilen konservativ-reaktionäre Vorstellungen von Gesellschaft und Familienwerten. Der Bruder des Katholikos ist in Russland Bischof der armenischen Gemeinde und Karekin II selbst ist Träger mehrerer russischer Verdienstorden. Noch ein halbes Jahr nach Moskaus verbrecherischem Großeinmarsch in die Ukraine nahm er eine Ehrenmedaille für die Vertiefung der russisch-armenischen Beziehungen entgegen.16

Paschinjans Verhältnis zum Kreml hat sich hingegen deutlich abgekühlt. Schon 2020 hatte er die armenische Mitgliedschaft im russisch-dominierten Militärbündnis OVKS de facto ausgesetzt, da die zum Schutz der Grenze in Bergkarabach stationierten Kremltruppen der aserbaidschanischen Aggression nichts entgegensetzten. Und obwohl russische Truppen später als Teil des Waffenstillstandsabkommens als „Friedenstruppen“ die Transportinfrastruktur bewachen sollten, blieben sie auch während der Kämpfe im Herbst 2024 passiv. Dies bestärkte Jerewans Einschätzung, dass auf Moskau kein Verlass sei und beflügelte die Suche nach neuen Partnern. Neben einer ungekannten Vertiefung etwa der Kontakte mit Indien betreibt Armenien im Zuge der außenpolitischen Diversifizierung eine proaktive Annäherung mit dem Westen und insbesondere der Europäischen Union. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte dies in der hochsymbolischen Annahme eines Gesetzes im armenischen Parlament im Frühjahr 2025, das auf armenischer Seite den Weg freimacht zum Start eines EU-Beitrittsprozesses. Im russischen Nullsummendenken wiederum wurde dies als unfreundlicher Akt, wenn nicht gar eine Brüskierung empfunden.17 Ein jüngstes Angebot Washingtons, den Sangesur-Korridor im Süden Armeniens auf 100 Jahre zu mieten und damit die von Aserbaidschan gewünschte Verbindung zu dessen Exklave Nachitschewan zu eröffnen, ohne die territoriale Integrität Armeniens zu gefährden, könnte eine historische Chance sein, den Konflikt zu lösen. Die Aussicht auf derartiges US-Engagement dürfte im Kreml alle Alarmglocken schrillen lassen, würde es doch den signifikanten Verfall russischen Einflusses in der Region bedeuten.18 Noch vor einem guten Jahrzehnt hatte sich Jerewan auf russischen Druck hin aus dem unterschriftsreifen EU-Assoziierungsabkommen zurückziehen müssen und war stattdessen der Eurasischen Wirtschaftsunion beigetreten. Da die Enttäuschung von Russland von einer Mehrheit der Armenier geteilt wird, findet die neue Westöffnung breiten Zuspruch – nicht jedoch in den Reihen der Kirche, der die EU und ihre liberalen Gesellschaftswerte suspekt sind.

 

Konfrontationskurs mit Vollgas

Vor diesem Hintergrund spitzte sich die Lage zu, als Paschinjan sich im Mai kritisch über den Zustand mehrerer Kirchgebäude äußerte. Er veröffentlichte Fotos, die zeigen sollen, dass einige Kirchen als Lagerhallen missbraucht würden und erntete dafür heftigen Widerspruch aus den Reihen der Geistlichkeit. Der schwelende Konflikt eskalierte und der Premierminister ging selbst in die Offensive über. Er beschuldigte die Kirchenmänner, reihenweise gegen den Zölibat zu verstoßen – der Katholikos höchstselbst habe, „wie jeder wisse“, ein uneheliches Kind. Paschinjans Partnerin ging sogar noch weiter und nannte die Priester die „Chef-Pädophilen des Landes“. Das sprachliche Niveau der Auseinandersetzung, die der Regierungschef in großen Teilen über seine Facebook-Seite führte, glitt in diesen Tagen ab in eine für die meisten Armenier irritierende und beschämende Vulgarität. Die Bischöfe wiederum stellten Paschinjans Kritik am Fehlverhalten einzelner dar als einen Frontalangriff gegen die Gesamtkirche und riefen die Gläubigen auf, sich hinter sie und ihr Oberhaupt zu stellen.

Einer, der diesem Ruf folgte, war Levon Ter-Petrosjan, Armeniens erster Präsident nach der Unabhängigkeit und Rivale Paschinjans. Am 7. Juni demonstrierte er mit einem Besuch beim Katholikos in Etschmiadzin seine Unterstützung. Angesichts dieser (erneut) zur Schau gestellten Allianz zwischen Kirche und seinen politischen Opponenten rief Paschinjan darauf Karekin II. zum Rücktritt auf. Obwohl ein solcher Schritt die Kompetenz eines armenischen Premiers klar übersteigt – Staat und Kirche sind in Armenien getrennt und noch 2018 hatte Paschinjan einen ähnlich gelagerten Aufruf aus seinem politischen Lager zurückgewiesen – kündigte er nun an, „die Kirche vom Einfluss der Sünde zu befreien“.

Daraufhin überschlugen sich die Ereignisse und es kam zu einer Welle von Verhaftungen. Neben der eingangs geschilderten versuchten Festnahme von Erzbischof Adschapahjan auf dem Gelände des „armenischen Vatikan“ wurde Protestmarsch-Bischof Galstanjan in Gewahrsam genommen. Für besonderes Aufsehen sorgte allerdings die Festnahme des armenisch-stämmigen russischen Großunternehmers (in vielen Medien: „Oligarch“) Samwel Karapetjan. Der einflussreiche Eigentümer der Tashir-Group und Mehrheitseigner des armenischen Stromnetzes hatte sich öffentlich als Beschützer der Kirche gegen Paschinjans Politik positioniert. Seine Verhaftung wirkte zunächst wie eine dünnhäutige Überreaktion des Premiers am Rande der Rechtsstaatlichkeit.

 

Versuchter Staatsstreich mit Kremlhandschrift?

Doch wenig später erklärte Paschinjan, mit den Verhaftungen einem durchorchestrierten Staatsstreich gegen seine Regierung zuvorgekommen zu sein, in den neben Kirchenleuten und dem Geschäftsmann auch ehemalige Militärs verwickelt gewesen seien sollen und der gewaltsame Terrorakte beinhalten sollte. Der Öffentlichkeit präsentierten die Behörden sowohl den Mitschnitt eines Gesprächs von Erzbischof Galstanjan, in dem der Umsturz erörtert wird, als auch den vermeintlichen Umsturzplan selbst.19 Jedoch war der Plan offenbar auf das Vorjahr datiert und Galstanjans Anwalt dementiert die Echtheit beider Dokumente. So sehen Kritiker einerseits eine dürftige Beweislage für einen „konkret geplanten“ Putsch und werfen der Regierung vor, einen Vorwand fabriziert zu haben, um im Vorfeld der kommenden Wahlen die Kontrolle über die Kirche auszubauen und Kritiker mundtot zu machen, denn auch eine Reihe von Abgeordneten der „Revolutionären Föderation“ Taschnag wurden als mutmaßliche Mitverschwörer in Haft genommen.20 Andererseits kamen von Seiten der Kirchenleitung statt eines klaren Dementis vor allem Gegenbeschuldigungen und kommunikative Nebelkerzen.

Bemerkenswerterweise handelt es sich bei den aktuellen Vorgängen bereits um den vierten mutmaßlichen Putschversuch innerhalb von drei Jahren. Sowohl im September als auch November 2023 meldete der Nationale Sicherheitsdienst (NSS) die Vereitlung von Umsturzversuchen im Kontext des Bergkarabach-Kriegs. Und im September 2024 erklärte der Dienst, eine von der russischen Regierung finanzierte Söldnergruppe daran gehindert zu haben, die Macht an sich zu reißen.

Ungeachtet dessen, wie weit Umsturzpläne im Konkreten bestanden haben und welche Rolle darin konkreten Akteuren zugedacht gewesen sein mag – das Szenario hat eine grundlegende Plausibilität. Einerseits wähnen sich Teile von Opposition und Kirche in einem existenziellen Abwehrkampf gegen die „Landesverräter“ in der Regierung – das Narrativ zirkuliert, Paschinjan wolle gezielt die armenische Kirche zerstören, um der Türkei und Aserbaidschan zu gefallen. Wer sich selbst auf einer Mission zur Rettung von Glaube und Vaterland wähnt, mag leichter der Versuchung erliegen, auch zu „harten Mitteln“ zu greifen. Schon 2021 äußerte Erzbischof Adschapahjan offen sein Bedauern, dass es keinem der ehemaligen Präsidenten gelinge, Paschinjan mit militärischer Unterstützung seines Amtes zu entheben.21 Russland wird in diesem Weltbild als eine unverzichtbare geistesverwandte Schutzmacht gesehen und auch eine direkte Handschrift Moskaus scheint plausibel. Russische Kommentatoren machen keinen Hehl daraus, dass sie den Kurs der armenischen Regierung ablehnen und drohen dem Land teilweise offen.22 Nicht nur ist Jerewans Hinwendung zur EU und die Festigung demokratischer Standards dem Kreml ein Dorn im Auge. Auch droht Russland weiter an Einfluss in der Region zu verlieren, wenn das Friedensabkommen zwischen Baku und Jerewan tatsächlich unterzeichnet würde. In den vergangenen Jahrzehnten waren der Bergkarabach-Konflikt sowie die verhärteten Positionen gegenüber Ankara ein vorzüglicher Anlass für Moskau, dauerhaft mit Friedens- und Grenzschutztruppen vor Ort zu sein und Geschäfte zu machen, indem es beide Seiten mit Waffen beliefert. Beides wäre bei einem echten Friedensprozess obsolet. Ohnehin befand sich die Stimmung zwischen Baku und Moskau zuletzt im freien Fall.

Der Weg bis zu den Parlamentswahlen 2026 ist noch weit und es ist davon auszugehen, dass Moskau seinen vollen Instrumentenkasten sowohl zur offenen Beeinflussung als auch verdeckten Manipulation der politischen Lage und öffentlichen Meinung in Armenien, sowie der Ausweitung seiner Hard-Power-Optionen nutzen wird, um seine Interessen durchzusetzen. Zwar dementierten armenische Stellen die jüngste Meldung ukrainischer Dienste, dass Russland seine Truppenpräsenz in Gjumri im Norden Armeniens wieder ausbaue. Doch wirbt Moskau im Netz ganz offen um armenische Kämpfer für den Einsatz in der Ukraine23 besonders enttäuschte und entwurzelte Männer aus Bergkarabach. Mit zum Werbepaket gehört das „Versprechen“ nach einem erfolgreichen Einsatz die eigene Heimat mit Gewalt zu „befreien“.

Insbesondere dem oben genannten, in Kremlkreisen bestens vernetzten Geschäftsmann Samwel Karapetjan könnte in einem moskaugestützten Szenario eine besondere Rolle zukommen. Viele Armenier vergleichen ihn bereits mit Georgiens faktischem Machthaber Bidzina Iwanischwili. Bezeichnenderweise kündigte Karapetjan tatsächlich an, zeitnah eine Partei gründen zu wollen24. Die armenische Regierung hingegen beschloss in Rekordzeit die rechtskräftige Enteignung von dessen Anteilen am öffentlichen Stromversorgungsnetz zum Zwecke der „Stärkung nationaler Energiesicherheit“ und der Begrenzung „ausländischen Einflusses“25. Vertreter der Opposition legten dagegen Einspruch beim Verfassungsgericht ein. Die Forderung von Parlamentspräsident Alen Simonjan, nun in Armenien auch russische Fernsehkanäle abzuschalten zeigt, wie kritisch die Staatsführung die Bedrohungslage einschätzt.26

 

Ausblick

Deutlich wird aus den jüngsten Geschehnissen, unter welch enormem Druck die armenische Regierung steht. Die innen- wie auch geopolitischen Herausforderungen sind enorm. Viele Gegenspieler wollen Paschinjan scheitern sehen und sind bereit dafür ihren „Beitrag“ zu leisten. Sollte es stimmen, dass Russland aktiv seine Finger dabei im Spiel hat – wofür aus Plausibilitätsgründen einiges spricht – hat die gewählte Regierung es mit einer Konstellation an Gegenspielern zu tun, die sich nicht an Regeln von Rechtsstaatlichkeit und fairem Wettbewerb hält. Sollten tatsächlich handfeste Beweise für einen kremlgedeckten Putschversuch vorgelegt werden, würde dies ein hartes Vorgehen der Behörden gegenüber nachweislichen Mitverschwörern mit Mitteln des Rechtsstaats rechtfertigen. Jedoch entschuldigt auch dies nicht manche verbale Entgleisung, die auch Anhänger des Regierungskurses verstört und von der Politik entfremdet. Um angesichts der geopolitisch hochdiffizilen Lage bestehen zu können, braucht Armenien einerseits starke Partner. Der Besuch der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas Ende Juni 2025 war historisch, die Zusicherung weiterer Unterstützung aus Brüssel und den Mitgliedsstaaten wurde sehr positiv aufgenommen.27 Vor allem müssen westliche und internationale Partner das Land in Bereichen unterstützen, die seine Energieversorgung diversifizieren und die Wirtschaftskraft stärken. Auch Initiativen zur Entwicklung demokratischer Resilienz der Gesellschaft sind vonnöten.

Denn andererseits ist der stärkste Garant jeder Demokratie die Bevölkerung selbst. Sie auf dem Kurs für regionale Aussöhnung, Grenzöffnung, Entkopplung von Russland und eine Vertiefung der Beziehungen mit dem Westen mitzunehmen ist Aufgabe der gewählten Regierung. Positiv ist, dass Premier Paschinjan am 1. Juli bekanntgab, in seiner Kommunikation auf beleidigende Ausdrücke zu verzichten. Doch auch in der Sache – bei den genannten Reformen und Korruptionsbekämpfung in den eigenen Reihen – muss die Regierung noch mehr liefern.

 


 

1Im Vergleich zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als bedeuten Bevölkerungsanteile von Armeniern nicht nur in Ostanatolien, Levante und Nahem Osten, sondern auch in weiteren Gebieten des Südkaukasus lebten, haben die Armenier geschätzt über 80 Prozent ihres historischen Siedlungsgebiets verloren.

2Paschinjans Besuch bei Präsident Erdogan in Istanbul am 21. Juni 2025 war das erste formelle bilaterale Treffen beider Regierungschefs überhaupt Armenien: Regierungschef Nikol Paschinjan zu Besuch bei Recep Tayyip Erdoğan - DER SPIEGEL

3Bis heute bestehen sowohl einige winzige aserbaidschanische Exklaven auf armenischem Gebiet als auch eine armenische auf aserbaidschanischem.

4Armenia indicators - Transparency.am ein ganzer Mix an internationalen Indizes zeigt nach deutlichen Erfolgen der ersten Regierungsjahre Stagnation seit etwa 2021.

5Armenia’s crackdown on opposition continues

6International Republican Institute (IRI), „Public Opinion Survey: Residents of Armenia“, März 2019
IRI Armenia Poll 2019, Frage 4: Job approval rating of PM Paschinjan

7Paschinjan-Rede in Stepanakert, 5. August 2019, zitiert u. a. in Eurasianet: https://eurasianet.org/pashinyan-declares-karabakh-is-armenia

8UNHCR-Bericht (Oktober 2023): „Over 100,000 ethnic Armenians fled Nagorno-Karabakh to Armenia“
https://www.unhcr.org/news/over-100000-ethnic-armenians-flee-nagorno-karabakh-armenia

9Offizielle Seite der armenischen Regierung: https://crossroads.gov.am
Vorstellung durch das Außenministerium, Oktober 2023

10CIVILNET+15EVN Report+15Der Spiegel+15 und zartonkmedia.com+14The Armenian Report+14Reddit+14

11Statements von Präsident Aliyev, Frühjahr 2024
z. B. in: CivilNet.am, 19.03.2024: „Aliyev: Armenia must change its constitution for peace“

12Siehe etwa https://macau.uni-kiel.de/receive/macau_mods_00004022

Die fast vollständige Zerstörung armenischen Kulturguts nach der Vertreibung von Armeniern ist tiefsitzender Teil eines kollektiven Traumas und basiert auf Erfahrungen wie in Ostanatolien, der Region Nachitschewan oder Baku.

13https://www.dw.com/en/armenia-archbishop-challenges-pashinyan-and-azerbaijan-deal/a-69188453

14Caucasus Barometer 2025 https://www.civilnet.am/en/news/952253/support-of-ruling-party-declines-as-more-armenians-feel-unrepresented-survey-shows/

15Журналисты рассекретили счет Католикоса всех армян в банке HSBC

16Siehe etwa Thomas de Waal, Black Garden, NYU Press, 2003, S. 174–176 oder Memorial Reports zu religiöser Unterdrückung in der UdSSR oder Armenian Weekly, „KGB and the Armenian Church: Shadows of the Past“, 12.04.2011.

17Указ Президента Российской Федерации от 04.11.2022 № 796

18https://armenpress.am/en/article/1211823

19https://www.middleeasteye.net/news/us-offers-oversee-disputed-armenia-azerbaijan-corridor

20investigative.am/news/36437

21https://hetq.am/hy/article/175254

22Einerseits drohte etwa der stv. Russische Ministerpräsident mit Wirtschaftssanktionen. https://tass.ru/ekonomika/23003291 Besonders bedrohlich wirkte jedoch die „Warnung“ des russischen Botschafters, der Westen plane, in Armenien eine „zweite Front“ zu eröffnen https://oc-media.org/russian-ambassador-warns-the-west-is-attempting-to-open-a-second-front-in-armenia/

23Ukrainischer Geheimdienstbericht, Mai 2025
zitiert in: Ukrainska Pravda, 24.05.2025 / „Russia recruits Karabakh Armenians for war in Ukraine“

24https://news.am/eng/news/816534.html

25https://armenpress.am/eng/news/816590.html

26https://kyivindependent.com/armenian-speaker-urges-ban-on-russian-tv-broadcast/

27https://www.eeas.europa.eu/eeas/armenia-remarks-high-representativevice-president-kaja-kallas-joint-press-conference_en

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