Ein komplizierter, aber schlüssiger Wahlprozess
Gemäß Artikel 54 der indischen Verfassung wird der Präsident Indiens von Mitgliedern eines Wahlkollegiums gewählt, das sich aus gewählten Parlamentsabgeordneten beider Kammern des Parlaments – der Rajya Sabha und der Lok Sabha – zusammensetzt sowie Mitglieder der gesetzgebenden Versammlungen aller Staaten, des National Capital Territory of Delhi und des „Union Territory of Puducherry.“ Parallelen zur Bundesversammlung sind hierbei durchaus erkennbar.
Die Präsidentschaftswahl folgt einem System der „proportionalen Repräsentation“ durch eine einzige übertragbare Stimme. Allerdings werden die Stimmen unterschiedlich gewichtet. Es gibt 233 Mitglieder im Rajya Sabha und 543 Mitglieder im Lok Sabha. Die regionalen Parlamente stellen 4.809 Mitglieder. Die Stimme eines nationalen Wahlmannes wird mit formell mit 700 multipliziert. Die anderen Stimmen werden gemäß eines Census der Bevölkerung des Bundesstaates mit einer eigens für jeden Bundesstaat errechneten Zahl multipliziert. Die Anzahl der Wahlmänner und die der Stimmen ist damit nicht deckungsgleich. Ein einzelner Wahlmann kann seine Stimme nicht aufteilen.
Abgeordnete aus bevölkerungsreichen Bundesstaaten wie Uttar Pradesh oder Madhya Pradesh haben ein entsprechendes Stimmengewicht. Uttar Pradesh wird durch 403 Abgeordnete repräsentiert werden. Ihre Stimme wird jeweils mit 208 multipliziert. Addiert man diese Stimmen mit den Stimmen der 80 nationalen Abgeordneten aus Uttar Pradesh, deren Stimmen mit 700 multipliziert wird, dann kommt man auf rund 140.000 Stimmen. Die Summe aller Stimmen bei der Präsidentschaftswahl beträgt 1.086.431. Uttar Pradesh stellt 14-15% der Wahlbevölkerung. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass das kompliziert anmutende Rechenverfahren eine extrem genaue Repräsentation der Wahlbevölkerung gewährleistet. In Anbetracht der Größe der Bevölkerung und der Menge an Bundesstaaten ist dies durchaus bemerkenswert, vor allem da der verwendete Census aus dem Jahr 1971 stammt.
Allerdings haben lediglich 3.219 Wahlmänner ihre Stimmen abgegeben, weshalb die Summe der Stimmen bei dieser Wahl 838.839 betrug. 419.420 Stimmen wären die erforderliche Mehrheit gewesen und Droupadi Murmu erreichte 676.803 Stimmen.
Die Rolle eines indischen Präsidenten: mehr als ein Repräsentant
Auch wenn der indische Präsident – ähnlich wie der deutsche Bundespräsident – im Allgemeinen eine repräsentative Funktion ausübt, ist dessen Rolle keineswegs darauf zu beschränken. In politischen Krisen, wie z. B. bei unklaren Parlamentswahlen, obliegt es nun Murmu zu entscheiden, welche Partei am besten in der Lage ist, eine Regierung zu bilden.
Murmus legislativen Befugnissen umfassen unter anderem die Auflösung oder Einberufung des Parlaments, zu ihren exekutiven Befugnissen gehört die Ernennung des Obersten Richters Indiens aus einer Liste, die ihr vom Obersten Gerichtshof Indiens übermittelt wird; zudem fungiert der indische Präsident auch als Oberbefehlshaber der Armee, wenngleich der Premierminister über die exekutive Gewalt verfügt. Insbesondere die letztgenannte Rolle verdeutlicht, dass indische Präsidenten ein umfassenderes Mandat haben, als dies bei Bundespräsidenten in Deutschland der Fall ist.
Der indische Präsident gilt zudem als Wächter der indischen Verfassung und als Schutz vor eventuellem Machtmissbrauch durch andere Organe. Obwohl diese bedeutenden Befugnisse in der Praxis nur selten genutzt wurden, ist der Präsident in der Lage, die Arbeit des Premierministers zu erschweren. Das erlebte die BJP zwischen 2002 und 2004, als sich der wohl bekannteste indische Präsident aller Zeiten, Abdul Kalam, aktiv in die Regierungspolitik einschaltete. Hierin stellte Abdul Kalam, der von zahlreichen Indern liebevoll als „Präsident des Volkes“ tituliert wurde, den damaligen BJP-Premierminister Atal Bihari Vajpayee in vielerlei Hinsicht in den Schatten.
Strategischer Sieg der BJP
Die BJP hat mit Murmu die Chance weitere Wählerschichten zu erschließen. Der Anteil der indigenen Wahlbevölkerung liegt wahrscheinlich bei etwa 7 Prozent, wobei die individuelle Identifikation statistisch kaum darstellbar ist und diese Gruppen keine homogene Gemeinschaft bilden bzw. in ganz unterschiedlichen Regionen leben.
Die Wahl von Murmu war mit einer gewissen Ephorie unter Angehörigen indigener Gruppen verbunden, auch wenn diese anderen Gemeinschaften angehören. Vertreter indigener Gruppen waren auf Kundgebungen der BJP zu Gast wie beispielsweile in Bophal, was über 1.000 km von Murmu’s Heimat Jharkhand entfernt liegt. In mehreren Staaten mit einem hohen Anteil indigener Wähler wie Jharkhand (27%), Orissa (23%), Chattisgarh (31%), Rajasthan (13.4%) und Maharashtra (10.05%) hat die BJP keine eigene Mehrheit. Die Nominierung von Frau Murmu kann als Signal gewertet werden, dass die Bemühungen der BJP-Regierung unterstreicht, der indigenen Bevölkerung den gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildung zu ermöglichen.
Mit der neuen Präsidentin hat die BJP eine landesweit sichtbare Spitzenpolitikerin, die das indigene Wählerklientel an sie binden kann. Diese Präsidentschaftswahl ist nicht nur einer Frau und der eines indigenen Menschen, sondern auch ein strategischer Sieg der BJP.
Signal der Geschlossenheit in einem oftmals fragmentierten Indien
Die Wahl Murmus rückt auch die indigenen Gruppen Indiens mehr in den Fokus. In ihrer Gesamtheit bilden Indigene offiziell 573 Bevölkerungsgruppen, die gemäß der indischen Verfassung als „Scheduled Tribes“ (STs) bezeichnet werden und in den Bereichen Landbesitz, Bildungs- und staatliche Arbeitsplätze von Fördermaßnahmen unterstützt werden.
Viele indische Stammesgruppen befürchten eine Verwässerung des fünften und sechsten Anhangs gemäß Artikel 244 der indischen Verfassung, welche ihnen die Selbstverwaltung in bestimmten Gebieten mit Stammesmehrheiten in neun Bundesstaaten ermöglicht. Der Artikel schützt die Indigenen vor der Abtretung ihres Landes und ihrer natürlichen Ressourcen an Nicht-Stammesangehörige. In den letzten Jahren wuchs zunehmend die Befürchtung, dass dieser Artikel bald geändert werden könnte, um die Übertragung von Stammesland an Nichtstämmige und Unternehmen offiziell zu ermöglichen. Die Präsidentschaft Murmus ist folglich auch als ein Signal der Hoffnung für indigene Gemeinschaften im gesamten Land zu werten, dass eine solche Beschneidung ihrer Landansprüche nicht eintreten wird.
Darüber hinaus kann Murmus Aufstieg in das höchste Amt des Landes als ein bedeutender Schritt und Triumph der politischen Bestrebungen der indigenen Bevölkerung angesehen werden, welche seit der Unabhängigkeit Indiens größtenteils ignoriert wurden. Dieses Missachten politischer Bestrebungen von Minderheiten hat dazu geführt, dass sich viele Stammesgemeinschaften von der Bevölkerungsmehrheit ausgegrenzt fühlen, was sich auch in den zahlreichen Separatistenbewegungen widerspiegelt, die vor allem in der bergigen Nordostregion des Landes anzutreffen sind. Bis heute kämpfen rund 50 militante ethnische Gruppen in dieser Region für die Unabhängigkeit ihrer ethnischen Gruppen von Indien. Die Wahl Murmus kann daher auch als ein bedeutendes Symbol der innerindischen Einheit interpretiert werden und zeigt, dass die Ängste, Nöte und Anliegen der indigenen Bevölkerung vom Zentralstaatsapparat keineswegs ignoriert werden.