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Souveränität und Gemeinschaft

von Agnieszka Lada

Die Polen und die Europäische Union

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Polen gehört seit Jahren zu den Ländern der Europäischen Union (EU), deren Bevölkerung die europäische Integration mit großer Mehrheit befürwortet. Zugleich stimmte jedoch ein wesentlicher Teil der polnischen Bevölkerung bei den Parlamentswahlen 2015 und Kommunalwahlen im Oktober 2018 für die euroskeptische Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS). Dieses scheinbare Paradoxon lässt sich erklären, wenn man sich eingehender mit den Ansichten, Hoffnungen und Sorgen der polnischen Gesellschaft befasst.

Die Polen fühlen sich seit Jahrhunderten als Teil des westlichen Kulturkreises. Die Jahre der erzwungenen Zugehörigkeit zum Ostblock haben dieses Gefühl noch verstärkt. Deshalb verfolgte Polen nach 1989 aus politischer Sicht ein klares Ziel – den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft (EG). Dieses Bestreben wurde von der Mehrheit der damaligen Eliten unterstützt und basierte auf der Erkenntnis, dass nur eine enge Einbindung in die westeuropäischen und transatlantischen Strukturen die für das Land so wichtige Sicherheit gegen das politische, wirtschaftliche und militärische Handeln Russlands bietet.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Zustimmung zu einem EU-Beitritt in Polen eine Selbstverständlichkeit war. Bis zur letzten Minute des Beitrittsreferendums im Jahr 2003 kursierten Ängste, dass die Wahlbeteiligung unter fünfzig Prozent liegen oder die Beweggründe der Beitrittsgegner bei zu vielen Polen verfangen könnten. Dazu kam vor allem die Angst vor einem erneuten Verlust der gerade erst wiedererlangten Souveränität, den negativen Konsequenzen für den polnischen Agrarsektor, der angesichts der Konkurrenz seitens der modern ausgestatteten Landwirte aus Westeuropa Verluste befürchtete, sowie die Sorge um die Wirtschaft, die dem Wettbewerb mit westlichen Unternehmen nicht würde standhalten können. Letztendlich lag die Wahlbeteiligung jedoch bei 59 Prozent, und über drei Viertel der Wähler (77 Prozent) befürworteten den Beitritt zur EU. Dennoch prägen die damals laut gewordenen Sorgen auch heute noch einen Teil der Europa-Debatten in Polen und bilden eine Argumentationsgrundlage für Populisten.

Die Polen gehören, nachdem sie sich von den realen Vorteilen der EU-Mitgliedschaft haben überzeugen können, seit Jahren zu den europäischen Nationen, die ihre Mitgliedschaft positiv beurteilen: Aktuell sind siebzig Prozent der polnischen Bevölkerung dieser Ansicht, während im Vergleich dazu nur sechzig Prozent aller Europäer die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU positiv beurteilen. In Deutschland bewerten 79 Prozent der Bevölkerung die EU-Mitgliedschaft als positiv (vgl. Europäisches Parlament: Democracy on the move. European electionsone year to go, Eurobarometer 89.2, Mai 2018, www.europarl.europa.eu/at-your-service/en/be-heard/eurobarometer/ eurobarometer-2018-democracy-on-the-move).

Die Hälfte der polnischen Befragten äußerte im Frühjahr 2018 unverändert positive Gefühle gegenüber der EU, während 37 Prozent neutrale Ansichten bekundeten. Der EU-Durchschnitt liegt in dieser Frage bei jeweils vierzig und 37 Prozent, in Deutschland hingegen bei 49 und 34 Prozent. Die Polen unterstützen mehrheitlich auch die Ansicht, dass mehr Entscheidungen auf EU-Ebene gefällt werden sollten (59 Prozent, EU-Durchschnitt: 55 Prozent, Deutsche: 59 Prozent), wobei der Anteil innerhalb des letzten Jahres um sieben Prozentpunkte gestiegen ist. Eine deutliche Mehrheit der Polen (80 Prozent) fühlt sich auch als EU-Bürger (EU-Durchschnitt: 70 Prozent, vgl. EU-Open Data-Portal: Standard-Eurobarometer 89, Frühjahr 2018, www.ec.europa.eu/germany/news/ eurobarometer20180614_de.)

Unterschied zwischen Taten und Rhetorik

Diese hohen Zustimmungswerte werfen die Frage auf, wie es möglich ist, dass diese europafreundliche Gesellschaft von einer europakritischen Regierung regiert wird. Die PiS erzielte bei den Parlamentswahlen 2015 38 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 51 Prozent. Aufgrund der vorhandenen Sperrklauseln und des in Polen geltenden Wahlsystems verfügt die Partei jedoch über eine Mehrheit im Parlament.

Genauso wichtig ist, dass die PiS nicht dank EU-feindlicher Slogans die Macht erringen konnte. Sie äußerte derlei nicht während des Wahlkampfs, weil bekannt war, wie groß die Unterstützung für die EU-Integration in Polen ist. Nach wie vor ist ein Unterschied zwischen dem Handeln und der Rhetorik der Regierenden zu erkennen. Einerseits werden Gesetze unter Verstoß gegen die in der EU geltenden Grundsätze geändert, die Demonstration der europäischen Solidarität wird verweigert und die EU offen kritisiert. Diese Rhetorik adressiert besonders die Stammwählerschaft der PiS, die den euroskeptischen Teil der Gesellschaft vertritt und die befürchtet, dass Polen ein „fremder Wille“ aufgezwungen wird. Andererseits betonen die Politiker der Regierungspartei, dass sie Polen nicht aus der EU herausführen wollen, um damit in der politischen, stark pro-europäischen Mitte Stimmen zu gewinnen.

Unzureichende politische Bildung

Eine andere Ursache für das Paradoxon zwischen europafreundlicher Bevölkerung und europafeindlicher Regierung liegt in einem mangelnden politischen Bewusstsein, das auf unzureichende politische Bildung auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen in einer kommunistischen Diktatur zurückgeht. Auch das auf das Auswendiglernen von Fakten gestützte polnische Bildungssystem nach 1989 vermochte es nicht, die folgenden Generationen zum Nachdenken über das Wesen der Staatsbürgerschaft zu bewegen, die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung zu lehren oder ein Verantwortungsbewusstsein für das größere Ganze zu vermitteln. Dieser Prozess braucht wie in der Bundesrepublik sowohl Zeit als auch die entsprechenden  Instrumente.

Hinsichtlich bestimmter Integrationsbereiche in der EU, wie beispielsweise den Euro als der gemeinsamen Währung – 34 Prozent der befragten Polen unterstützen den Euro – oder einer gemeinsamen Migrationspolitik, erklären die Polen ihre mehrheitliche Abneigung, obwohl in der Migrationsfrage im Jahr 2018 bereits 51 Prozent einer einheitlichen Politik innerhalb der EU zugestimmt hatten. Dennoch spricht sich die Mehrheit der polnischen Bevölkerung gegen die Aufnahme von Flüchtlingen in Polen aus (vgl. Standard-Eurobarometer 89, Frühling 2018).

Die Zusammenhänge zwischen der Unterstützung von Integration und ihrer konkreten Umsetzung in den einzelnen Bereichen werden übersehen. Die Entwicklungsgeschwindigkeit der EU, die unsichere internationale Lage, die Wirtschaftsschwankungen in der dreißigjährigen Geschichte der jungen polnischen Demokratie sowie die zurückgewonnene vollständige Unabhängigkeit führen dazu, dass ein Teil der Bürger weitere Änderungen fürchtet. Dieses Phänomen ist nicht typisch polnisch, sondern auch in den anderen Ländern westlich der Oder zu beobachten.

Anfälligkeit für populistische Slogans

In der polnischen Bevölkerung, die mehrheitlich die Kosten der politischen und wirtschaftlichen Transformation in der Hoffnung trug, nach einer gewissen Zeit keine weiteren Änderungen oder Schwierigkeiten mehr ertragen zu müssen, ist die Anfälligkeit für populistische Slogans groß. Dazu gehören die Verbreitung von Ängsten vor der Dominanz durch fremdes Kapital, dem Zustrom kulturell fremder Flüchtlinge oder der Einführung der gemeinsamen Währung und der damit verbundenen finanziellen Verantwortung für potenzielle Fehler der anderen. Die Vorstellung, dass sich Polen den Befehlen aus Brüssel unterordnen müsse, schürt Ängste, weil sie mit einem mangelnden Wissen über die Funktionsmechanismen der EU einhergeht.

Angesichts des Streits um die Gerichtsreform und des demonstrativen Widerwillens der nationalkonservativen Regierungspartei, sich mit der EU solidarisch zu erklären und einen konstruktiven Dialog über ihre Zukunft zu führen, nahmen die Vorwürfe zu, die PiS plane den Ausstieg Polens aus der EU. Der überwiegenden gesellschaftlichen Wahrnehmung zufolge strebt die Regierungspartei eher die Verlangsamung als die Vertiefung der europäischen Integration an: Die PiS ziele auf die Beschränkung der Integration und die Vergrößerung der Rolle der Nationalstaaten in der Union (27 Prozent) oder aber die Erhaltung des Status quo (25 Prozent) ab. Die Annahme, die Regierungspartei strebe den Austritt Polens aus der EU an, wird jedoch nicht nur vereinzelt, sondern von jedem sechsten Befragten geäußert (16 Prozent).

Gleichzeitig weicht die wahrgenommene Politik der PiS in Sachen europäische Integration deutlich von den gesellschaftlichen Erwartungen ab. Die Polen deklarieren sich als Befürworter des aktuellen Integrationszustands (35 Prozent) oder einer weiteren Vertiefung (35 Prozent). Für die Beschränkung der Integration und die Stärkung der Rolle der Nationalstaaten sprechen sich 14 Prozent der Befragten aus. Mit einem Anteil von vier Prozent unterstützen nur wenige einen polnischen EU-Ausstieg oder ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten (drei Prozent – vgl. CBOS Public Opinion Research Center: Does Law and Justice (PiS) Lead Poland out of the European Union? [im Original: Czy PiS wyprowadza Polskę z Unii Europejskiej?], Forschungsmeldung Nr. 154/ 2018, Warschau, 22.11.2018).

Kaum Zustimmung für einen „Polexit“

Auch andere Umfragen, in denen die Bevölkerung direkt nach der möglichen Unterstützung des EU-Austritts Polens gefragt wird, beweisen eindeutig, dass die Gesellschaft mehrheitlich dagegen ist. Je nachdem, wie die Frage formuliert wurde, beläuft sich die Befürwortung eines „Polexit“ auf maximal acht Prozent. Gleichzeitig sind 77 Prozent der Polen der Meinung, dass die EU-Mitgliedschaft die polnische Unabhängigkeit stärkt, sechzehn Prozent hingegen stimmen dieser Aussage nicht zu (vgl. IPSOS-Umfrage für OKO.press, 12.–13. August 2018, CATI-Methode [telefonisch], landesweite repräsentative Stichprobe, 1.023 Personen, vgl. www.oko. press/wiekszosc-polakow-popiera-zawierzeniepolski-czarnej-madonnie-przez-morawieckiegosondaz [in polnischer Sprache]).

Die Sorge, dass die Regierungspartei Polen aus der EU führen will – nicht unbedingt absichtlich und bewusst, sondern durch Maßnahmen, die zur Isolierung des Landes in Europa beitragen – sollte jedoch nicht ignoriert werden, falls die Isolierung zunimmt und die euroskeptische Rhetorik sich verstärkt. Die Prozesse in den europäischen Gesellschaften und die Schnelligkeit der Verbreitung populistischer Slogans zeigen, dass sich gefestigte und rationale Überzeugungen nach einer gewissen Zeit ändern können. Die Verbreitung der Sorge vor einem polnischen

„Exit“ sollte die Diskussion über die polnische Europapolitik und die Einstellung zu Polen zwar nicht dominieren, aber die Verbreitung einer euroskeptischen Rhetorik sollte beunruhigen und muss zum Handeln mobilisieren.

Aus deutscher Sicht ist ein aktives und der EU freundlich gesinntes Polen ein wichtiger Partner beim Ausbau der Union. Trotz bestehender Meinungsverschiedenheiten in einigen Punkten fällt es den Deutschen dank ihrer Herangehensweise an zahlreiche Wirtschaftsfragen, der politischen Kultur und der Nachbarschaft leichter, mit Polen gemeinsame Interessen zu finden und zusammenzuarbeiten, als mit vielen anderen Ländern. Hinzu kommen die engen wirtschaftlichen Beziehungen: Seit Jahren wächst das deutsch-polnische Handelsvolumen, das seit Langem bereits größer ist als das deutsche-russische.

Antworten auf polnische Zweifel

Die Abkehr Warschaus vom proeuropäischen Kurs ist deshalb für Berlin ein Anlass zur Beunruhigung. Umso wichtiger ist es, dass Deutschland die proeuropäische Haltung der großen Mehrheit der polnischen Bevölkerung unterstützt, die Sorgen der östlichen Nachbarn zu verstehen versucht und Polen partnerschaftlich behandelt. Die Antwort auf die polnischen Zweifel sollte nicht darin bestehen, dem Land den Rücken zuzukehren, sondern über deren Ursachen nachzudenken. Gleichzeitig müssen die Europäische Union und die Regierungen der Mitgliedstaaten die Umsetzung der EU-Gesetzgebung und die Einhaltung der europäischen Regeln voneinander fordern und durchsetzen.

Übersetzung aus dem Polnischen: Übersetzungsbüro Perfekt, München

Agnieszka Łada, geboren 1981 in Warschau (Polen), Altstipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung, promovierte Politikwissenschaftlerin, Direktorin des Europa-Programms und Senior Analyst am Warschauer Institut für Öffentliche Angelegenheiten.

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