Am 24. Oktober 2025 fand an der Tongji-Universität in Shanghai die internationale Konferenz „Europastudien aus der Perspektive der Internationalen und Regionalstudien“ statt. Die gemeinsame Veranstaltung des German Studies Center der Tongji-Universität und des KAS-Büro Shanghai brachte Expertinnen und Experten aus China und Europa zusammen, um aktuelle Forschungsansätze, methodische Herausforderungen und zukünftige Kooperationsmöglichkeiten im Bereich der Regionalstudien zu diskutieren.
Die Konferenz wurde von David Merkle, Leiter des KAS-Büros Shanghai, und Prof. Dr. ZHENG Chunrong, Direktor für German Studies Center der Tongji-Universität, eröffnet. In ihren Begrüßungsworten betonten beide die wachsende Bedeutung der Area Studies angesichts globaler Umbrüche und die Notwendigkeit, durch vergleichende Perspektiven und kritische Selbstreflexion etablierte Wissensbestände zu hinterfragen. Diese thematische Klammer zog sich durch die folgenden Vorträge und Diskussionen.
Ein zentraler Diskussionsstrang widmete sich der Weiterentwicklung der Europastudien als wissenschaftliche Disziplin. Dr. Jan Orbie, Universität Gent, und Prof. Dr. Ulf Brunnbauer, Academic Director, Leibniz Institute for East and Southeast European Studies, Universität Regensburg, analysierten die gegenwärtige Lage des Forschungsfeldes in Europa und identifizierten dabei zentrale Herausforderungen für seine zukünftige Entwicklung.
Die Experten skizzierten, wie historisch gewachsene Strukturen und Perspektiven die Forschungstraditionen in Europa bis heute prägen. Dabei wiesen sie auf die Notwendigkeit hin, den wissenschaftlichen Diskurs noch stärker für vielfältige Blickwinkel zu öffnen, etwa durch eine intensivere Einbeziehung unterschiedlicher europäischer Regionen sowie durch den vermehrten Dialog mit außereuropäischen Wissenschaftstraditionen.
Ein weiterer wichtiger Diskussionspunkt betraf die Weiterentwicklung wissenschaftlicher Perspektiven in den Regionalstudien. In seinem Beitrag zu den Südasienstudien in China regte Prof. Dr. LIN Minwang, Deputy Director, Center for South Asian Studies, Fudan Universität, eine vertiefte Reflexion über die Prägung des Forschungsfeldes durch internationale Wissenschaftstraditionen an. Er plädierte dafür, etablierte Methoden und Fragestellungen kritisch zu hinterfragen und durch eigenständige Ansätze zu ergänzen.
Die anschließende Diskussion kreiste um die Frage, wie die Regionalwissenschaften zu einer ausgewogeneren globalen Wissensproduktion beitragen können. Dabei betonten die Teilnehmer die Bedeutung eines ausgeglicheneren Dialogs zwischen verschiedenen Forschungsdisziplinen.
Prof. Dr. WANG Jian, Director and Research Fellow, Institute of International Studies, Shanghai Academy of Social Science, verwies in seinem Kommentar auf die produktive Rolle, die unterschiedliche kulturelle und akademische Hintergründe in diesem Prozess spielen können. Er unterstrich die Chance, durch wechselseitiges Lernen und respektvollen Austausch zu einer wirklich pluralistischen Wissenschaftskultur zu gelangen, die verschiedene Perspektiven integriert. Die Debatte machte deutlich, dass die Internationalisierung der Regionalstudien eine bewusste Auseinandersetzung mit methodischen Traditionen erfordert, nicht um sie zu ersetzen, sondern um durch vielfältige Herangehensweisen das Gesamtfeld zu bereichern.
Ein zweites Kernthema war die Bedeutung von Sprachkompetenz und Feldforschung für die Qualität regionaler Studien. Während Prof. Dr. DING Chun, Director, Center for European Studies and Jean Monnet Chair, Fudan Universität, unterstrich die Notwendigkeit einer soliden disziplinären Basis für die Regionalforschung. Häufig wären mangelnde Sprach- und Landeskenntnisse eine Hürde für valide Analysen.
Prof. Dr. LIN Minwang machte deutlich, dass viele chinesische Südasien-Forscher kaum Feldstudie-Erfahrung in der Region hätten. Viktor Frank, Leiter vom KAS-Büro Mongolei und Kasachstan, berichtete über ähnliche Defizite in der europäischen Forschung zu Zentralasien und betonte, dass kurze Forschungsaufenthalte oft nur oberflächliche Einblicke böten. Oliver Radtke, ehemaliger Generalsekretär des Deutsch-Chinesischen Dialogforums, plädierte für „akademische und praktische Empathie“, die durch intensiven, vor-Ort-Austausch und das Überwinden von abstrakten Diskursen entstehen könne.
Ein dritter wichtiger Themenkomplex beschäftigte sich mit dem spannungsreichen Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Unabhängigkeit und gesellschaftlicher Relevanz. In den Diskussionen wurde deutlich, dass regionale Forschung stets den Balanceakt zwischen wissenschaftlicher Neutralität und praktischer Anwendbarkeit meistern muss.
Dr. Jan Orbie wies in seinem Beitrag auf die Herausforderung hin, dass wissenschaftliche Forschung einerseits gesellschaftliche Debatten aufgreifen sollte, dabei aber ihre kritisch-analytische Distanz wahren müsse. Andererseits zeigten die praxisnahen Fallstudien verschiedener Konferenzteilnehmer die praktische Verbindung von wissenschaftlichem Wissen und gesellschaftlichem Nutzen auf. Die empirische Untersuchung von Prof. Dr. DING Chun zur chinesischen Elektroautomobilindustrie veranschaulichte beispielhaft, wie problemorientierte Forschung zum Verständnis komplexer wirtschaftlicher Dynamiken beitragen kann. Ebenso demonstrierten die Ausführungen von Prof. Dr. SONG Lilei, Director, Center for European Studies, School of Political Science and International Relations, Tongji-Universität, zur europäischen Technologie Governance das Potenzial angewandter Regionalstudien.
In der zusammenfassenden Betrachtung wurde hervorgehoben, dass die größte Kunst darin bestehe, gesellschaftlich relevante Fragestellungen zu identifizieren und zu bearbeiten, ohne dabei die wissenschaftliche Unabhängigkeit zu gefährden. Die Konferenzteilnehmer waren sich einig, dass dieser Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis weiter intensiviert werden sollte, um gemeinsam zu nachhaltigen Lösungen für globale Herausforderungen beizutragen.
In der abschließenden Diskussion unter der Moderation von Prof. Dr. WU Huiping , Vice Director, German Studies Center, Tongji-Universität, wurden konkrete Ansätze für die Zukunft der Regionalstudien debattiert. Dazu zählten die Stärkung interdisziplinärer Zusammenarbeit, die Förderung von Forschungsaufenthalten und echten Begegnungen jenseits digitaler Formate sowie der Auf- und Ausbau von Kooperationsplattformen.
Die Konferenz verdeutlichte, dass Europastudien und Asienstudien ähnlichen Herausforderungen gegenüberstehen und voneinander lernen können. Die konstruktive Kritik an etablierten Perspektiven, sowie der empirische Blick auf konkrete Problemfelder bildeten eine fruchtbare Grundlage für den Dialog. Die Einbeziehung weiterer Regionen, insbesondere des Globalen Südens, wurde als wünschenswertes Ziel für zukünftige Veranstaltungen identifiziert.